Buch lesen: «Als ich die Stille fand», Seite 3

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Der leidenschaftliche Lehrer: Balduin Sulzer

Als meine Eltern mir von dem Artikel über das neue Musikgymnasium in Linz erzählten, war ich begeistert. Noch trennten mich Vorspiel und Aufnahmeprüfung von meiner neuen Schule, aber ich bestand und konnte meine Zeit im Linzer Musikgymnasium endlich beginnen.

Und da war er dann, dieser Lehrer mit den unverhältnismäßig langen und wenigen grauen Haaren auf der Halbglatze. Er war klein, beleibt, trug stets Sakko und betrat das Klassenzimmer immer mit Schwung. Er rief „Setzen!“ und knallte seine alte, speckige Aktentasche auf das Pult. Dann sagte er: „Wen es interessiert, was ich hier vortrage, der kommt nach vorne – der Rest setzt sich hinten hin, ihr bekommt dann einen Vierer.“ Dieser unorthodoxe Pädagoge hieß Balduin Sulzer. Er war Pater, Komponist und Hobby-Kritiker beim Boulevardblatt Kronen Zeitung. Als dieser Mann das Klassenzimmer zum ersten Mal betrat, war das für mich, als wenn ein Licht aufgehen würde. So konnte Musikunterricht also auch aussehen. Und ich, der immer verträumt gewesen war, begann aufzublühen.

Kurz bevor Balduin Sulzer 2019 starb, gab er noch ein Interview, das ich mit einem Schmunzeln gelesen habe. Mit 87 Jahren erinnerte er sich an seine Lehrtätigkeit bei uns, die er so beschrieb: „Ich weiß nicht, ob ich ein idealer Lehrer im Sinne des Bundesministeriums war. Ich habe sehr viel in improvisatorischer Art gemacht, sowohl in der Musik als auch in anderen Fächern.“ Balduin Sulzer hat in diesem Gespräch sehr untertrieben. Das Bundesministerium hat ihn nie interessiert! Er war Pädagoge mit einem eigenen und vollkommen anarchischen Lehrplan. Wir waren in dieser Zeit seine willkommenen Versuchs-Schüler: 21 musikbegeisterte Jugendliche im ersten Jahrgang des neu gegründeten Linzer Musikgymnasiums.

Jeden Morgen freuten wir uns, wenn wir das denkmalgeschützte Schulgebäude betraten. Es war im späthistoristischen Stil errichtet und nach dem Biedermeier-Dichter Adalbert Stifter benannt worden. Fast jeden Tag überraschte uns Balduin Sulzer mit seiner Leidenschaft. Unterricht war für ihn keine theoretische Angelegenheit, die staatlichen Lehrpläne verstand er höchstens als unverbindliche Anregungen. Balduin Sulzer unterrichtete als Praktiker. Er wollte Musiker ausbilden, also ging es ihm in erster Linie darum, dass wir musikalische Erfahrung sammeln und verstehen, welche Rolle die Musik beim Denken spielt. Es ging nie darum, jeden einzelnen Akkord zu analysieren und zu benennen, ihm war wichtig, dass wir die emotionale Wirkung eines solchen erspüren und erkennen. Im ersten Jahr waren seine Gehörübungen und vor allem die Rhythmusdiktate gefürchtet, die er die ersten zehn Minuten jeder Musikstunde erbarmungslos mit seinem Autoschlüssel auf den Katheder klopfte.

Vom Musikpädagogen und Komponisten Balduin Sulzer hat Franz Welser-Möst gelernt, wie Musik die Menschen begeistern kann

Die Gründung des Musikgymnasiums in Linz 1974 war eines der Lehrstücke in Sachen musikalischer Bildung in Oberösterreich und ein Beweis dafür, dass zuweilen schon zwei Menschen ausreichen, um Berge zu versetzen. Neben Balduin Sulzer war es der damalige Leiter der Musikschule Kremsmünster, Heinz Preiss. Er begann 1973 damit, ein musikalisches Konzept für Oberösterreich zu entwickeln und lag dem Kulturlandesrat mit seinen Visionen dauernd in den Ohren. Der spätere Landeshauptmann Oberösterreichs, Josef Ratzenböck, war begeistert und wurde zum Preiss-Sympathisanten. So kam es also zur Gründung des Musikgymnasiums in Linz und drei Jahre später, im Jahre 1977, auch zur Gründung des Oberösterreichischen Landesmusikschulwerkes. Dafür wurden zunächst 34 Landesmusikschulen in ganz Oberösterreich gegründet. Das Modell war so erfolgreich, dass es expandierte. Heute werden über 150 Musikschulen betrieben – und die Nachfrage ist noch immer größer als das Angebot. Eine langfristige und höchst effektive Bildungsgrundlage für Oberösterreich!

Alles an Balduin Sulzer war pädagogisch herrlich unkorrekt. Da stand ein Lehrer, der von dem, was er uns beibrachte, selbst leidenschaftlich begeistert war. Sein Temperament macht bis heute Eindruck auf mich, und mir ist klar, dass nur derjenige begeistern kann, der selbst begeistert ist. Balduin Sulzer vergaß ein ganzes Semester lang, Schularbeiten, die ihm lästig waren, mit uns zu schreiben und holte dann alle auf einen Schlag in der letzten Schulwoche nach mit der Bemerkung: „Ich weiß sowieso, wer gut ist und wer nicht!“ Immer wieder ermunterte er uns, die Konzerte im Brucknerhaus zu besuchen. Wir hatten damals kein Geld, und so mussten wir kreativ werden: Einer von uns kaufte eine Karte, die wir dann immer wieder nach draußen „wandern“ ließen, bis am Ende zehn von uns im Konzert saßen. Besonders begehrt waren die Gastspiele der Wiener Philharmoniker. Es dauerte freilich nicht lange, bis unser Trick aufflog. Intendant Karl Gerbel hatte mitbekommen, was wir trieben. Doch anstatt uns zu rügen, hat er seine Billeteure angewiesen, bei den Schülern des Musikgymnasiums nicht so genau hinzuschauen. Eine kleine Geste, die im Rückblick eine unglaubliche Größe hat. Wäre so etwas heute noch möglich?

Balduin Sulzer war in seinen 40ern, als er begann, uns zu unterrichten. Er hatte sich mit 17 Jahren den Zisterziensern im Stift Wilhering angeschlossen und nahm hier auch den Ordensnamen an. Zuvor hieß Balduin Sulzer Josef. Er hat Theologie und Philosophie in Linz und in Rom studiert und hat sich musikalisch am Brucknerkonservatorium, am Päpstlichen Institut für Kirchenmusik und an der Wiener Musikhochschule ausbilden lassen. 1955 empfing er die Priesterweihe und unterrichtete zunächst am Stiftsgymnasium Wilhering. Allein dieser Lebenslauf zeigt, wie weltoffen mein Lehrer war, eine Erscheinung, die wir als Schüler alle bewunderten.

Wir haben damals gelebt wie junge Hunde, sind durch die Gegend gestreunt, haben debattiert und musiziert. Als ich mit dem Linzer Kammerorchester unter Sulzer meinen ersten Messias als Bass im Chor gesungen habe, schlotterten mir die Knie beim „Halleluja“. Und auch mit dem Schulorchester sind wir oft aufgetreten, unter anderem in regionalen Unternehmen wie den Stahlwerken der VÖEST in Linz. Dort haben wir vor den Arbeitern die Rhapsodie in Blue von George Gershwin gespielt. Auch diese Erfahrungen prägten mich und haben durchaus Einfluss auf unser Education-Programm in Cleveland.

Nicht selten hat uns unser Lehrer nach den Konzerten im Brucknerhaus ins Wirtshaus eingeladen. „Kommt, gehen wir noch etwas trinken“, war einer der Lieblingssätze von Balduin Sulzer. Und dann gingen wir ins „Breida“, ein kleines, gemütliches Beisl. Hier bestellte Balduin Apfelsaft – und als wir älter waren auch Bier – für uns alle. Großzügigerweise übernahm er auch die Rechnung. Und wir haben darüber debattiert, was wir gehört hatten. Mit jugendlicher Überheblichkeit sezierten wir sofort die Mängel aller, inklusive der Wiener Philharmoniker, und hatten Patentlösungen zur Hand. Es war jene Zeit, in der man glaubte, alles besser zu wissen als alle anderen.

Meine Eltern waren froh, dass ihr Sohn endlich einen Ort gefunden hatte, an dem er glücklich und zufrieden war. Ich erinnere mich, wie ich eines Morgens, nach einer sehr langen Feier mit meinen Schulfreunden, nach Hause schlich. Auf der Straße traf ich meine Mutter, die gerade vom Bäcker kam. „Was machst du denn hier?“, fragte sie, und ich habe geantwortet: „Schlafen, bevor ich vielleicht wieder in die Schule gehe.“ Meine Eltern haben all das akzeptiert. Es gab bei uns zu Hause nur eine rote Linie bezüglich Schule, die nicht überschritten werden durfte: Grundsätzlich hatte ich alle Freiheiten, nur sitzen bleiben wurde nicht geduldet. Aber das geschah zum Glück auch nicht.

In der Schule hat Balduin Sulzer unsere Talente genau erkannt und gefördert. Ich war damals, 1976, Stimmführer der zweiten Violinen im kleinen Schulorchester. Balduin sagte eines Tages beiläufig zu mir: „Du übernimmst morgen die Probe.“ So stand ich plötzlich vor meinen Mitschülern und „dirigierte“ oder tat das, was ich meinte, dass Dirigieren sei.

Er übertrug mir immer häufiger Proben, und ich fand Gefallen daran. Ungefähr ein halbes Jahr später fragte ich ihn, ob ich auch einmal ein Konzert dirigieren dürfe, und er meinte, wenn ich mir alles selbst organisierte, stünde dem nichts entgegen. Dabei fiel der so wichtige Satz: „Dirigieren fängt beim Sessel-Aufstellen an!“ Also wurde ich mein eigener Impresario: Ich organisierte unser erstes Sommerseminar im Sommer 1977 im Stift Kremsmünster, wo wir alle gemeinsam in den damals noch großen Schlafsälen des Konvikts schliefen, trieb Geld auf, organisierte den Transport der Instrumente und der Musiker sowie die Veranstaltungsorte, ließ Plakate drucken und war mein eigener Orchesterwart. Nach einer Woche Proben mit meinen Kollegen war es Mitte August soweit. Wir gaben unser erstes gemeinsames Konzert im Dunkelhof in Steyr. Auf dem Programm standen Mozarts Divertimento KV 137, Bachs Tripelkonzert, ein Flötenkonzert von Antonio Vivaldi und Mozarts Kleine Nachtmusik. Es kamen auch unsere Eltern und mein Vater hatte noch einige Musiker-Freunde in seinem Renault, Modell Dyane 6, mitgenommen. Und auch Balduin Sulzer war dabei und – wie ich glaube – ziemlich stolz auf uns.

Dass das erste Konzert, das ich dirigierte, in jener Stadt stattfand, wo ich am schicksalshaften Tag gut zwei Jahre später Schubert hätte spielen sollen, ist auch ein eigenartiger Zufall. Als ich nach unserem Unfall aus der Stille erwachte, wollte ich so schnell wie möglich zurück in die Schule. Zwölf Wochen lang lag mein gesamter Oberkörper in Gips, aber ich wollte mir beweisen, dass ich noch Geige spielen konnte. Tatsächlich spielte ich noch weiter, aber für eine professionelle Karriere war die Verletzung der Nerven zu groß.

Balduin Sulzer hat mich fortan als Dirigent gefördert. Auch, nachdem wir 1979 als erster Jahrgang des Linzer Musikgymnasiums maturiert hatten. Das Schulorchester war für uns Ehemalige keine Option mehr, und wir mussten etwas Neues gründen. So erfanden wir das Jeunesse-Orchester Linz, das fortan meine große Leidenschaft werden sollte. Mit diesem Orchester bin ich 1982 übrigens auch zum ersten Mal im Großen Saal des Wiener Musikvereins aufgetreten. Als ich 20 Jahre alt war, schlug mir Balduin nach einer erfolgreichen Aufführung von Beethovens C-Dur-Messe für das darauffolgende Jahr die Missa solemnis vor. Um ehrlich zu sein, hatte ich ungeheure Angst und großen Respekt vor diesem gigantischen Werk. „Was ist dein Problem?“, fragte er mich. „Du bist 20 Jahre jung und hast die Hose voll – na und? Andere dirigieren das mit 50 – und haben auch die Hose voll. Der Unterschied ist, dass du dann 30 Jahre lang mit voller Hose gelebt hast.“ Und lachte. Also habe ich all meinen Mut zusammengenommen und die Missa solemnis dirigiert.

Proben im Abtzimmer des Stifts Kremsmünster für das erste Konzert 1977, das Franz Welser-Möst dirigiert hat

Von Balduin Sulzer habe ich viel Wesentliches über Musik gelernt und auch, wie Musik die Menschen begeistern kann. Von Linz zog ich zum Studium an die Musikhochschule München weiter. Aber vieles von dem, was mich als musikalischen Menschen ausmacht, habe ich zuvor bei Balduin Sulzer gelernt.

Muss Musik denn wirklich sein?

Einer meiner guten Freunde ist der Sänger Simon Keenlyside. Als er Vater geworden ist, saßen wir beisammen, und irgendwann sagte er: „Mein Sohn wird später einmal Klavier lernen.“ Ich stutzte und fragte: „Und wenn er nicht will?“ Da schaute Simon mich verdutzt an: „Dann werde ich ihn natürlich zwingen.“ Als er merkte, dass ich nicht überzeugt war, fuhr er fort: „Wir werden von Schule und Staat gezwungen, Mathematik zu lernen. Warum sollten wir unsere eigenen Kinder nicht dazu bringen dürfen, dass sie lernen, was wir für wichtig halten?“ Eine Meinung, die mich zum Nachdenken brachte.

Simons Standpunkt lässt sich mehr denn je nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass Musikunterricht – egal, wohin man schaut – schon lange nicht mehr zum Alltag an unseren Schulen gehört. 2017 sind allein an Deutschlands Grundschulen 80 Prozent aller Musikstunden ausgefallen. Der Musikrat sprach zu Recht von einem Skandal: Die viertreichste Industrienation schafft es nicht, die musikalische Bildung ihrer Kinder sicherzustellen. Dabei sprechen wir von der Heimat Bachs, Brahms’ und Beethovens. Doch mindestens genauso schlimm ist die Tatsache, dass Musik nicht einmal mehr als Nebenfach betrachtet wird, und einige Politiker – auch in Hinblick auf die universitäre Ausbildung – erklären, nur Mathematik, Physik, Wirtschaft oder Jura seien Fächer, mit denen man heute international konkurrenzfähig bleiben könne.

Den Zugang unterschiedlicher Länder zur musikalischen Bildung werde ich später noch gesondert besprechen, an dieser Stelle nur so viel: Nationen wie Finnland, bei denen Musik und Kunst einen ebenso großen Stellenwert einnehmen wie Mathematik oder Chemie, schneiden in den internationalen PISA-Studien mit Abstand am besten ab. Und es besteht auch wissenschaftlich kein Zweifel mehr, dass musikalische Förderung einen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Gehirne von Babys, Kleinkindern und Jugendlichen hat, zumal bis zum 25. Lebensjahr unsere neuronalen Strukturen ausgebildet werden.

In diesem Zeitraum geht es vor allen Dingen um die Verbindung der Synapsen. Sie sorgen dafür, dass unser Gehirn leistungsfähiger und kreativer wird. Das Musikmachen kann dabei eine entscheidende Rolle spielen. Mir gefällt der Satz des Göttinger Neurobiologen Gerald Hüther, wenn er den Zusammenhang von Evolution und Musik folgendermaßen beschreibt: „Es ist eigenartig, aber aus neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass die nutzloseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist unzweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen –, den größten Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen hat.“

Ähnlich sieht es einer der profiliertesten Gehirnforscher unserer Zeit, der Neurowissenschaftler Wolf Singer. Er stellt fest, dass unsere Sinnesorgane so angelegt sind, dass sie nur einen Bruchteil ihrer Möglichkeiten ausschöpfen, um das zu kreieren, was wir als „Wirklichkeit“ wahrnehmen. Grundsätzlich ist unser Gehirn dauernd bemüht, einen Sinn in all dem zu konstruieren, was uns umgibt. Dazu verbinden sich die einzelnen Zellen miteinander und finden selbst in der Aleatorik eines John Cage, also Kompositionen, in denen der Zufall eine wichtige Rolle spielt, noch eine sinnvolle Form. Die große Frage ist, woher das Gehirn seine Ordnungskriterien hat. Die Gehirnforschung unterscheidet verschiedene Formen des Wissenserwerbs. Eine ist das Vorwissen, ein implizites Wissen, das durch die Verschaltung unserer Nervenzellen durch den Evolutionsprozess bereits vor unserer Geburt angelegt ist und genetisch vererbt wird. Eine andere Form des Wissensgewinns findet von der Geburt an statt, auch dieser Prozess ist zum großen Teil implizit, passiert also unbewusst. Und dann erwerben wir Wissen noch durch das bewusste Lernen, sei es im Alltag, im Kindergarten oder in der Schule.

Die Annahme, dass es ein Gehirnzentrum gibt, in dem das „Ich“ zu Hause ist und in dem die „Wirklichkeit“ zusammengesetzt wird, ist falsch. In Wahrheit funktioniert unser Gehirn als distributives System mit äußerst flachen Hierarchien. Mit anderen Worten: Viele Gehirnareale verarbeiten zahlreiche Sinneseindrücke gleichzeitig und verwandeln sie an vielen unterschiedlichen Orten in Emotionen und Informationen, aus denen heraus wir unsere Wahrnehmung konstruieren und unser Handeln abwägen. Die Aufgabe der Kunst in diesem Prozess könne darin bestehen, erklärt Wolf Singer, dass sie unser Gehirn mit dem Unbekannten konfrontiert: Bilder, die mit unserer Wahrnehmung spielen, Gedichte, die nur zwischen den Zeilen Sinn ergeben, oder Musik, die es schafft, Emotionen durch Klang zu erzeugen. Die Kunst kann unser Gehirn auf andere Art aktivieren als die Gegebenheit der Welt. Dadurch regt sie uns an, vollkommen neue Synapsen zu schließen und mehr Fenster in unserem Gehirn zu öffnen.

Das Musizieren erfordert dabei ein besonders komplexes Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Fähigkeiten. Es baut auf den Hörsinn, den Sehsinn, den Tastsinn und auf unsere Feinmotorik. Wenn wir uns allein die Kontrollfunktionen vor Augen führen, die bei einem Geigenstrich notwendig sind: das Erkennen und Lesen der Noten, das Umrechnen des Gesehenen in unterschiedliche Bewegungsabläufe der rechten und der linken Hand, dazu das gleichzeitige Hören und der Abgleich, ob der produzierte Klang mit den im Gehirn entwickelten Erwartungen übereinstimmt, dazu eventuell noch die emotionale Charakterisierung des Klanges als lustige oder traurige Musik. Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass bei der Verarbeitung von Musik sogar das Broca-Areal beteiligt ist, eines der beiden Sprachzentren.

All das hat Auswirkungen auf unsere kognitive und emotionale Entwicklung. Musik macht uns vielleicht nicht schlauer, aber sie unterstützt – besonders in der frühkindlichen Phase – die Verknüpfung unserer Synapsen und damit die Möglichkeiten und die Flexibilität unseres Gehirns. Sie fördert gleichzeitig das mathematische Verständnis und das Leseverständnis. Ganz nebenbei werden Bewegung und Rhythmus angeregt, die Disziplin und ein Verständnis von Geben und Nehmen ausgebildet. Das Wichtigste ist für mich aber, dass Musizieren vor allem jene Fähigkeiten ausbildet, die ich in unserer Gegenwart als besonders defizitär wahrnehme: Musik fördert das Zusammenspiel, das Zuhören, den Sinn für Gemeinschaft und die Empathie. All das sind Lerneffekte, die nicht bewusst wahrgenommen werden, sondern einfach „passieren“, während man musiziert.

Bei all diesen Erkenntnissen sollte die Frage von Simon Keenlyside durchaus erlaubt sein: Warum zwingen wir unsere Kinder zwar Schreiben, Lesen und Mathematik zu lernen, drücken bei der musikalischen Ausbildung aber ein Auge zu? Wie kann es sein, dass wir die Erkenntnisse der Gehirnforschung einfach ignorieren? Wie können wir so leichtfertig mit der Erziehung, Entwicklung und Bildung unserer Kinder umgehen?

Inzwischen wird der Umstand, dass Musikunterricht an vielen Schulen gar nicht mehr stattfindet, dadurch ausgeglichen, dass immer größere Erwartungen an die jeweiligen Orchester gestellt werden. Während die Schulen kapitulieren, sollen diese die musikalische Bildung übernehmen. Das kann man beklagen, aber wir dürfen vor dieser Aufgabe auch nicht weglaufen. Die Zeit, dass ein Chefdirigent sich allein um das Repertoire, die Proben und die Aufführungen kümmert, ist längst vorbei. Er muss immer auch die gesellschaftlichen Möglichkeiten eines Orchesters mitdenken. Und wir müssen uns genau überlegen, welchen Sinn die Musikpädagogik eines Orchesters erfüllen kann und soll.

Meine grundlegende Idee ist, dass jede Musik zunächst einmal eine Form darstellt: Takte, Notenwerte und harmonische Regeln definieren einen Rahmen. Das gilt sowohl für die Dur-Moll-Harmonik als auch für den Serialismus der Neuen Musik. Selbst Musik, die bewusst formlos sein will, kommt nicht ohne Form aus – und sei es, um sie zu brechen. In diesem Sinne verstehe ich Musik als eine Ordnung, die uns die Orientierung erleichtert und unseren Raum und unsere Zeit definiert. Vielleicht ist es genau das, was uns heute oft fehlt: eine Form oder ein Rahmen, durch den wir die eigene Position in der Welt verorten können. Ich glaube fest daran, dass Freiheit nur in Ordnung möglich ist.

Auch deshalb steht am Anfang unseres vielseitigen Tuns in Cleveland eine ganz einfache Regel: Die Bühne ist heilig! Das bedeutet, dass auf dem Podium die Musik ernst genommen wird, sowohl von uns Musikern als auch von den Jugendlichen. Denn wer daran glaubt, dass Musik den Menschen bei der Orientierung helfen kann, ist gut beraten, sie auch ernst zu nehmen.

Im Jugendorchester von Cleveland habe ich einen jungen Mann kennengelernt, der mir erklärt hat, wie wichtig die Form des Übens für ihn persönlich gewesen ist. Er stammt aus schwierigen Verhältnissen, sein Vater sitzt im Gefängnis und seine Mutter ist alkoholkrank. Er erzählte mir, dass die Geige seine Rettung gewesen sei. Er habe sich in das Instrument verliebt und Stunden damit verbracht, es zu erlernen. Das Üben habe seinen Tag strukturiert, ihn angespornt und ehrgeizig gemacht. Jeder Fortschritt sei für ihn ein Erfolgserlebnis gewesen, das er zuvor so nie gehabt hatte. Inzwischen spielt er gemeinsam mit anderen Jugendlichen im Orchester und hat den großen Wunsch, Profimusiker zu werden.

Ich erzähle diese Geschichte, weil sie zeigt, dass wir die musikalische Bildung ernst nehmen sollten. Weil Jugendliche Musik grundsätzlich auch ernst nehmen wollen! Es mag sein, dass Musik in vielen Schulen zur Nebensache verkommen ist, desto wichtiger ist, dass Orchester Überzeugungsarbeit für den Wert der Musik leisten. Schon als Musikdirektor der Wiener Staatsoper hat es mich gestört, dass Opern für Kinder im Keller oder auf einer Bühne unter dem Dach aufgeführt wurden. Gerade auf Kinder macht die große Bühne doch den größten Eindruck. Und darum muss es beim ersten Kontakt mit der Musik gehen: Eindruck zu machen. Gleiches gilt übrigens für den Klang. Warum sind so viele Aufnahmen von „Musik für Kinder“ von – mit Verlaub – mittelmäßigen Orchestern eingespielt? Wenn wir Jugendliche für unsere Kunst begeistern wollen, ist es geradezu existenziell, dass wir ihnen das Beste geben, was wir zu bieten haben.

Deshalb ist es mir wichtig, dass Education nicht zur leidenschaftslosen Nebensache eines Orchesters verkommt. Im Mittelpunkt muss die Arbeit an der klanglichen Perfektion stehen. Nur ein Orchester, das abends große Momente erzeugen kann, wird es langfristig auch schaffen, Jugendliche zu überzeugen. Anders gesagt: Es wäre falsch, die Education-Arbeit zu benutzen, um das Image eines Orchesters zu polieren. Es wäre fatal, hinter der Bildungsarbeit die Arbeit am Klang zu vernachlässigen. Education muss zur Selbstverständlichkeit eines Spitzenorchesters gehören – ebenso wie das Streben nach dem idealen Klang an jedem Aufführungsabend.

Unser Konzept in Cleveland besteht darin, dass wir nicht jedes Kind zwingen wollen Musik zu machen, aber wir wollen jedem Kind zeigen, wie schön es sein kann zu musizieren. Wir haben uns dabei bewusst entschieden, zweigleisig zu fahren. Zum einen geht es um die Breitenwirkung der Musik, darum, Klassik als Normalität in der Öffentlichkeit zu etablieren, zum anderen darum, die Spitze zu fördern. Dafür ist ein spezielles Programm für Hochtalentierte – oft aus schwierigem Umfeld – in Ausarbeitung.

Als Österreicher vergleiche ich diesen Spagat gern mit dem Skifahren. Ein Marcel Hirscher in Österreich war nur möglich, weil Skifahren bei uns ein Breitensport ist und es viele Vorbilder gab. Gleichzeitig müssen Talente wie Hirscher aber auch intensiv und persönlich gefördert werden. Nur so können die gut ausgebildeten Leistungssportler am Ende eine neue Generation von Jugendlichen begeistern. Bei den Musikern ist es nicht anders.

Wir sind in diesem Kapitel um die Frage gekreist, ob Musik wirklich sein muss. Ich halte es mit meinem Freund Simon Keenlyside: Wenn wir der Meinung sind, dass Mathematik und Physik sein müssen, sollten wir auch die Musik in den Kanon jener Fächer aufnehmen, die wir für existenziell halten. Wir können und dürfen die Erkenntnisse der Gehirnforschung nicht länger ignorieren. Unsere Jugend hat ein Recht auf Musik. Und wenn wir darüber hinaus die Möglichkeit haben, Menschen für die Musik zu begeistern, statt sie zu zwingen, dann haben wir erreicht, wovon ich zutiefst überzeugt bin.

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