Buch lesen: «Als ich die Stille fand», Seite 2

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Die Eltern Marilies und Franz Möst Mitte der 50er-Jahre am Attersee

I.
DIE LEHRE DER MUSIK

Von der Selbstverständlichkeit des Klanges

In die Musik geboren

Die Musik war noch eine Selbstverständlichkeit in der Welt, in die ich hineingeboren wurde. Zwischen den Weltkriegen hatte Österreich seine alte Rolle im europäischen Machtgefüge – und damit auch sein altes Selbstverständnis – verloren. Nach dem Ersten Weltkrieg musste die Erste Republik große Gebiete von Österreich-Ungarn abtreten, und vielen Bürgern der ehemaligen k. u. k. Monarchie wurde klar, dass Geschichte immer auch Wandel bedeutet. Wo das Vaterland wankt, ist es oft der Glaube, der den Menschen ein scheinbar beständiges Koordinatensystem verspricht. Als diese Zwischenjahre in Österreich mit dem „Anschluss“ an Hitlers Deutschland unheilvoll zu Ende ging, haben sich meine Eltern kennengelernt.

Das Grundstück am Attersee, auf dem ich anstelle des alten baufälligen Sommerhauses das Haus gebaut habe, in dem meine Frau und ich heute wohnen, gehörte einst dem Vater meines Vaters. Nur einen Kilometer entfernt hatte die Familie meiner Mutter, die eigentlich aus Wels kam, ein Ferienhaus. Für gewöhnlich traf man sich zu den Sommergottesdiensten in der Filialkirche im nahen Buchberg, ein idyllisches, kleines Gotteshaus für rund 100 Gläubige. Es wurde im 16. Jahrhundert vom Kloster Mondsee errichtet. Als meine Eltern sich das erste Mal trafen, das muss 1939 gewesen sein, war meine Mutter gut 14 Jahre und mein Vater 17 Jahre alt. Meine Großmutter fungierte als „Kupplerin“, indem sie meine Mutter Maria Elisabeth Wetzelsberger, die von allen Marilies genannt wurde, kurzerhand für die Obsternte einlud, bei der sich sie und Franz Möst schließlich näher kennenlernen sollten.

Die Glocke der Buchberger Kirche, die ich von meiner Terrasse aus hören kann, wird übrigens bis heute jeden Tag per Hand geläutet – ein Zeichen nicht nur der Gottesfürchtigkeit, sondern auch der Traditionsverbundenheit der Region.

Obwohl mein Vater erst nach dem Ersten Weltkrieg geboren wurde, wuchs er mit den Idealen des alten Österreich auf: für Gott, Kaiser und Vaterland. Dabei war der Glaube sein wichtigster moralischer Kompass. Ein Grund, warum er ein energischer Gegner Hitlers, des Anschlusses Österreichs und der Politik der NSDAP war.

Mein Vater arbeitete mit Gleichgesinnten im katholischen Widerstand, wurde allerdings schnell entdeckt. Ein Freund der Familie, der schon früh der NSDAP beigetreten war, kam eines Abends zu meinen Großeltern und berichtete, dass die Partei eine Statistik über Volksverräter führen würde und dass mein Vater bereits zwei „schwarze Punkte“ gesammelt hätte. Beim dritten Mal würde er wohl oder übel in ein Lager kommen. Als einzigen Ausweg schlug der Freund vor, dass mein Vater sich freiwillig zum Heer melden sollte. Was er dann auch tat.

Heute ist es kaum vorstellbar, wie lärmend die Kriegsjahre gewesen sein müssen. Für meinen Vater begann eine Zeit der Katastrophen. 1940 starb sein Vater, 1941 war er mit der Wehrmacht zunächst in Stettin stationiert, dann im finnischen Vaasa und blieb für anderthalb Jahre auf den Lofoten, dem damals nördlichsten Stützpunkt der deutschen Armee. Nach einer Odyssee von Landsberg am Lech über Neiße an der Neiße, Groß Born in Pommern bis Prag wurde er dann im Januar 1944 zur Schlacht um Monte Cassino beordert. Hier kämpften 80.000 deutsche Soldaten gegen 105.000 Alliierte um das Kloster, das auf einem 516 Meter hohen Felsenhügel liegt. Die Schlacht ist durch den etwas idealisierenden Film mit Joachim Fuchsberger, Die grünen Teufel von Monte Cassino, bekannt, und durch den Umstand, dass deutsche Truppen die 1.200 historischen Bücher und die wertvollen Gemälde von Leonardo da Vinci, Tizian und Raffael aus dem Benediktinerkloster in die römische Engelsburg gebracht haben. Was oft verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass man 13 Meisterwerke nach dem Krieg im Stollen des Salzbergwerkes Altaussee fand, in dem Hitler seine Kunstsammlung untergebracht hatte. Vor allem aber war die Schlacht um Monte Cassino – wie so viele im Zweiten Weltkrieg – brutal und blutig. Der viermonatige Kampf kostete 20.000 deutschen und 55.000 alliierten Soldaten das Leben. Mein Vater wurde gefangen genommen und über Bari nach Ägypten in ein Gefangenenlager gebracht.

Mein Vater war ein passionierter Briefschreiber, er verfasste Gedichte und schrieb Tagebuch. Aus seinen Aufzeichnungen weiß ich, dass er nach Kriegsende am 23. August 1945 endlich wieder nach Linz zurückkehren durfte. Er hatte viel erlebt und seine Gesundheit war schwer angeschlagen. Zunächst wurde er zur Genesung in eine Lungenheilstätte geschickt. Danach nahm er ein Jurastudium auf, entschied sich dann aber für Medizin. Ausgerechnet als endlich so viel Normalität eingekehrt war, dass meine Eltern hätten heiraten können, starb der Vater meiner Mutter, und meine Eltern mussten (so verlangte es der strenge katholische Ritus) ein Trauerjahr einhalten. 1954 war es dann endlich soweit! Marilies Wetzelsberger, die inzwischen in Wien Bodenkultur studiert hatte, und der promovierte Arzt Franz Möst konnten die lang ersehnte Ehe schließen. Und man kann sagen, meine Eltern haben in sehr kurzer Zeit sehr viel nachgeholt. Im September 1956 wurde mein ältester Bruder Johannes geboren, im November 1957 mein Bruder Thomas und im Jahr darauf meine ältere Schwester Maria.

Über meine Geburt kursiert in unserer Familie folgende Geschichte: Als meine Großmutter am 16. August 1960 von der Nachbarin über den Zaun gefragt wurde, was es denn nun geworden sei, ein Bub oder ein Mädchen, brach sie in Tränen aus und schluchzte: „Beides!“ Tatsächlich war niemand davon ausgegangen, dass meine Mutter mit Zwillingen schwanger war, um so erstaunter waren alle, als unmittelbar nach mir auch meine Schwester Elisabeth das Licht der Welt erblickte.

Zunächst wohnten wir in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Linz, zogen aber, als ich drei Jahre alt war, in das Haus meiner Großmutter nach Wels. Mein Vater arbeitete inzwischen als Lungenfacharzt und pendelte täglich nach Schloss Cumberland in Gmunden, jener Lungenheilstätte, in der er selbst nach dem Krieg als Patient lag. Es wurde einst von Ernst August von Hannover oberhalb des Krottensees in schönstem Windsor-Stil errichtet. Mit dem Ende des Krieges ging es in österreichischen Besitz über und wurde als Tuberkulose-Klinik betrieben. Mein Vater hat zuweilen über 120 Stunden in der Woche gearbeitet, ohne dabei üppig zu verdienen. Meine Mutter träumte davon, nach ihrem ersten Studium noch ein Jurastudium anzuschließen, blieb aber – auch weil ihr Vater so lange krank war – zunächst zu Hause.

Ich erinnere mich an die Verhältnisse bei uns. Wir betrachteten uns nicht als arm, konnten uns aber in dieser Zeit nicht viel leisten. Bis 1970 hatten wir nicht einmal einen Fernseher. Unser Unterhaltungsprogramm bestand weitgehend aus eigenem Musizieren. Meine Mutter war eine erstklassige Pianistin, und ich weiß noch, wie wir Kinder sie in den Abendstunden oft gebeten haben: „Mutti, bitte spiel’ uns noch was.“ Vater hatte als Kind Geige und Trompete gespielt und all meine Geschwister hatten auch Instrumente gelernt. Musik war für mich seit jeher eine Selbstverständlichkeit. Es war mir als Kind unvorstellbar, dass es Menschen geben konnte, für die das Musizieren nicht zum Tagesablauf gehörte. Musik war für meine Eltern eine Art Heimat, etwas Unveränderliches in einer Zeit, die von so vielen Veränderungen geprägt war. Musik war für sie Erbauung, gab ihnen einen Wertekanon und stand im Einklang mit ihrem Glauben.

Franz Welser-Möst und seine Zwillingsschwester Elisabeth beim Baden im Attersee im Jahr 1964

Die strahlend weiße Stadtpfarrkirche mitten in Wels (sie ist dem Heiligen gewidmet, dessen Name mein ältester Bruder Johannes trägt) ist für mich zu einem Ort der musikalischen Sehnsuchtserfüllung geworden. Außer dem Klavierspiel meiner Mutter zu Hause, hatte ich sonst höchst selten Zugang zu musikalischen Darbietungen in der Öffentlichkeit. Auf den Holzbänken hörte ich – von meiner Mutter stets in einen Sonntagsanzug gekleidet oder in das weiße Gewand des Messdieners – zum ersten Mal die Messen von Joseph Haydn, Franz Schubert und Wolfgang Amadeus Mozart. Und ich erinnere mich an die Festgottesdienste, die ich als Ministrant im Alter von sechs bis 14 Jahren erlebte und die mich in bis dahin unbekannte Sphären versetzen konnten. Während der Messen schien die Zeit um mich herum stehenzubleiben und der Lärm der Welt ordnete sich in Harmonien. Was mich als Kind besonders beeindruckte, war, dass der Pfarrer es sich nicht nehmen ließ, sich am Altar durch einen pensionierten Geistlichen vertreten zu lassen und die Musik der Gottesdienste an hohen Festtagen selbst zu dirigieren.

Der Gläubigkeit meiner Eltern und ihrer Verbundenheit zur Kirche habe ich schließlich auch meinen ersten Musikunterricht zu verdanken.

Das Lineal von Schwester Gerburga

Meine Liebe zur Geige war keine auf den ersten Blick. Denn zwischen mir und ihr stand zunächst Schwester Gerburga. Es gehörte zu den Prinzipien meines Vaters, dass seine Kinder nicht an einer öffentlichen Musikschule ausgebildet werden sollten, sondern – wie in unserem Fall – an einer katholischen Schwesternschule. Also ging ich ab dem sechsten Lebensjahr regelmäßig in die Villa neben der Schwesternschule in Wels, wo Schwester Gerburga ihre Schüler zum Unterricht empfing: eine hagere, verhärmte Frau. Schwester Gerburga hatte bereits zahlreiche Jahrgänge von Schülern in Wels unterrichtet, nicht nur im Fach Geige, sondern auch Instrumente wie Blockflöte, Gitarre, Akkordeon oder Cello. Es gab wahrscheinlich nichts, was Schwester Gerburga nicht lehrte. In ihrer strengen, von Empathie weitgehend befreiten Art verkörperte sie den Stereotyp der frustrierten Frau, die sich wahrscheinlich nicht freiwillig dieses Leben ausgesucht hatte, und leider wohl auch das anachronistisch-provinzielle Erziehungsideal der Nachkriegszeit.

Wenn ich mit meiner Dreiviertelgeige unter dem Arm zum Unterricht ging, wusste ich, dass Schwester Gerburga ihr Holzlineal stets in Griffnähe haben würde. Je nach Lust und Laune pflegte sie ihre Schüler damit durch Schläge auf die Finger oder auf die Hand zu bestrafen. Gründe waren leicht gefunden: falsche Noten, unsaubere Bogenstriche oder einfach nur eine verlegene Antwort. Ob eine Unterrichtsstunde einigermaßen glimpflich verlief oder eskalierte, war in der Regel schon am Ausdruck von Schwester Gerburgas Gesicht bei der Begrüßung zu erkennen. Mit ihrer Laune hielt sie nicht hinter dem Berg, und man hatte nicht den Eindruck, sie hätte Gefallen an ihrer Arbeit oder am Fortschritt ihrer Schüler. Eine ihrer pädagogischen Methoden war das Führen eines sogenannten Leistungsheftes. Darin notierte sie schlechte Leistungen, die zu Hause von der Mutter gegengezeichnet werden mussten. Sehr schlechte Leistungen mussten indes vom Vater unterschrieben werden. Das sagt viel über das Weltbild der Schwester, aber vielleicht auch über das katholische Oberösterreich der späten 60er-Jahre aus.

Ich ging aber nicht nur zum Geigenunterricht, sondern war auch als Messdiener tätig. In der Adventszeit musste ich dafür sehr früh aufstehen. Da fand bereits um 5:45 Uhr die Rorate statt, danach ging ich kurz nach Hause, um einen Kakao zu trinken. Um 6:30 Uhr musste ich einmal pro Woche zum Geigenunterricht bei Schwester Gerburga erscheinen und um 8:00 Uhr begann die Schule.

Ich erinnere mich genau an einen heißen Tag im Juni 1968, als ich den Unterrichtsraum von Schwester Gerburga betrat und feststellte, dass die Jalousien heruntergelassen waren. Ich konnte den Angstschweiß meiner Vorgänger noch in der Luft spüren und bemühte mich an diesem Tag besonders, meine Übungen ordentlich zu spielen. Aber mir wurde dabei immer schlechter. Aus Angst, Schwäche zu zeigen oder Schwester Gerburga wütend zu machen, versuchte ich den Würgereiz zu unterdrücken, was mir langfristig nicht gelang. Und so habe ich mich mit vollem Schwall in meine Geige übergeben. Das Mitgefühl von Schwester Gerburga hielt sich in Grenzen. Kurzerhand riss sie mir die Geige aus der Hand und hielt das Holz unter fließendes Wasser, um das Erbrochene abzuspülen. Dann schickte sie mich nach Hause. Es war die Robustheit ihrer Art, die mich davon träumen ließ, nie wieder zum Geigenunterricht zu müssen.

Nach vier Jahren hatte mein Vater endlich ein Einsehen und erlaubte, dass ich an die städtische Musikschule wechselte. Ich war zehn Jahre alt, als ich einen neuen Geigenlehrer bekam: August Patzelt. Er kam aus einem gänzlich anderen Kosmos als Schwester Gerburga. Unter anderem spielte er mit dem Musikpädagogen, Dirigenten, Mozart-Biografen und Mitbegründer der Salzburger Festspiele, Bernhard Paumgartner, in der Camerata Salzburg. Schon daran kann man sehen, dass mein neuer Lehrer einen weiteren Horizont hatte, dass Musikmachen für ihn kein zufälliger Beruf, sondern eine echte Berufung war. August Patzelt war neugierig auf uns Schüler und förderte uns nach seinen Möglichkeiten. Nach einem Jahr Unterricht bei ihm durfte ich auch im städtischen Musikschulorchester mitspielen. Hier eröffnete sich mir wieder eine vollkommen neue Welt: Der Klang, den wir in Gemeinschaft anhand von Stücken von Leopold Mozart und später, unter anderem von Edvard Griegs Holberg-Suite, entstehen ließen, überwältigte mich. So begann ich, das Geigenspiel zu lieben.

Außerhalb des Musikunterrichts blieb ich allerdings ein eher verträumtes Kind, so sehr, dass sich meine Mutter Sorgen um mich machte: Was ist nur los mit dem Buben? Warum ist er so still? Während meine Zwillingsschwester problemlos die Schule meisterte, interessierte mich all das nicht sonderlich. Ich war nicht schlecht, lernte aber auch nicht viel. In der Regel freute ich mich auf die Donnerstage, an denen ich in die Pfarrbücherei gehen durfte. Von dort nahm ich fünf oder sechs Bücher mit nach Hause, die ich dann in der darauffolgenden Woche las. Am liebsten hatte ich Heldensagen oder Kinder- und Jugendbuchklassiker. Das Einzige, das mich nicht ansprach, waren die Abenteuerromane von Karl May.

Die Bücher wurden zu meiner eigentlichen Welt. Mein Kopf verwandelte sich zu einem Universum der Fantasie, und ich merkte oft nicht, dass die reale Welt an mir vorbeiging. Es war diese Zeit, in der meine Mutter in der Regionalzeitung, den Oberösterreichischen Nachrichten, einen Artikel las, in dem davon berichtet wurde, dass in Linz ein neues Musikgymnasium entstehen sollte. Vielleicht wäre das eine gute Möglichkeit für ihren träumerischen Sohn? Tatsächlich sollten die Jahre in Linz, das Musikgymnasium und mein zukünftiger Lehrer Balduin Sulzer, unglaublich prägende Jahre in meinem Musikleben werden – und eine praktische Lehre darüber, worum es in der Musikpädagogik eigentlich gehen sollte.

Doch bevor ich darüber berichte, vielleicht noch folgende versöhnliche Geschichte zur Schwesternschule. Das Haus, in dem ich meinen Geigenunterricht erhielt, gehört inzwischen guten Freunden von mir. Und ich musste schmunzeln, als ich sie das erste Mal vor etwa zehn Jahren besuchte. Dort, wo Schwester Gerburga mich und andere Schüler mit dem quälte, was sie unter Musikunterricht verstand, haben meine Freunde inzwischen ihr Schlafzimmer eingerichtet – nicht auszudenken, wenn Schwester Gerburga das wüsste.

Jedes Kind in Cleveland: der 100-Jahresplan

Heute weiß ich, dass alles, was ich als Kind erfahren habe, nicht selbstverständlich war – weder in den 1960er- und 70er-Jahren, und erst recht nicht heute. Für meine Eltern bedeutete Musik Heimat und Stabilität, mich spornte sie an, Fragen zu stellen, neugierig zu werden und mit offenen Ohren durch die Welt zu gehen. Heute ist mir klar, dass ich akzeptieren muss, dass Musik, die mir fast alles bedeutet – besonders klassische Musik –, sehr vielen Menschen nur wenig oder gar nichts bedeutet. Was mir ein Leben lang selbstverständlich war, spielt in ihrem Leben keine Rolle.

Ich bin kein fanatischer Musik-Missionar. Aber ich glaube fest daran, dass Musik ein Menschenrecht sein sollte und Musik eine optimale Möglichkeit ist, dass wir in Zeiten der Haltlosigkeit Halt finden. Dass Musik ein Ort ist, an dem wir einander zuhören und miteinander spüren können. Dass Musik ein wunderbarer gesellschaftlicher Kitt ist. Als Kind bin ich mit der Erfahrung aufgewachsen, dass die Welt, wenn sie ein wenig durcheinander, ungeordnet und chaotisch erscheint, wenn der Lärm zu laut wird, dass die Welt in diesen Momenten Musik sehr gut vertragen kann. Weil der Klang uns ein Bewusstsein für die Stille schenkt, in der Ordnung erst möglich wird. Ich will niemanden zur Musik bekehren, aber ich will, dass jeder die Möglichkeit hat, Musik zu erfahren.

Als ich 1999 gefragt wurde, ob ich Musikdirektor in Cleveland werden möchte, bat ich – was viele nicht verstanden haben – zunächst um Bedenkzeit. Ich habe grundsätzlich kein Interesse an schnellen, kurzfristigen Engagements und prüfe Angebote gern darauf, ob es gute Gründe für eine langfristige Zusammenarbeit gibt. Ich versuche mir vorzustellen, ob ich einem Orchester auch in fünf, zehn oder 20 Jahren noch etwas zu sagen hätte. Ob es das Potenzial für eine kontinuierliche, gemeinsame Entwicklung gibt – sowohl was die Arbeit am Klang und am Repertoire angeht als auch was die gesellschaftliche Rolle des Orchesters vor Ort betrifft.

Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, und mir wurde schnell klar, dass es sich um eine Stadt handelt, die schmerzlich erfahren musste, dass Geschichte stets Wandel bedeutet und dass Wandel nicht immer eine Aufwärtsbewegung sein muss. Cleveland war einst die fünftgrößte Stadt der USA, Aushängeschild der Industrialisierung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Stadt am nördlichen Rand von Ohio, direkt am Eriesee, lag für die Stahlindustrie geografisch günstig. Und das Cleveland Orchestra, das 1918 gegründet wurde, war seit jeher eine fixe Größe für die Bürger der Stadt. Eine Institution, auf die man stolz war. In den 60er-Jahren war es noch gang und gäbe, dass die Leute in Cleveland die Musiker am Flughafen begrüßten, wenn sie von einer Auslandstournee zurückkehrten.

Allerdings begleitet die Rezession Cleveland nun schon fast 100 Jahre lang. Die Arbeitslosigkeit wuchs rasant, besonders als es der Stahlindustrie an den Kragen ging. Irgendwann bekam Cleveland den Spitznamen „The Mistake on the Lake“ („Der Irrtum am See“). Gegenwärtig sind 51 Städte in den USA größer als Cleveland. Es zählt nur noch 385.000 Einwohner und der Trend zur Abwanderung hält weiter an. Hinzu kommt, dass kaum eine Stadt der USA derart von Rassenkämpfen erschüttert wurde. Heute, im Jahre 2020, leben hier rund 53,3 Prozent Afroamerikaner, 37,3 Prozent Weiße und zehn Prozent Latinos. Vor Beginn der Corona-Krise lag die Arbeitslosenquote bei 7,3 Prozent.

Als ich 1993 zum ersten Mal als Gastdirigent in Cleveland war, war ich erschrocken über den desolaten Zustand der Stadt. Umso erstaunlicher erschien es mir, dass die Bürger dieser Stadt sich seit nun über 100 Jahren eines der besten Orchester der Welt geleistet haben. Über die Jahre hinweg habe ich mehr und mehr die Schönheiten dieser Stadt entdeckt und die Menschen schätzen gelernt, die dort leben.

Wenn das Cleveland Orchestra also anruft, sagt man nicht einfach „Nein“. Aber mir war wichtig, zu wissen, warum ich „Ja“ sagen sollte. Das Cleveland Orchestra bestach durch seine außergewöhnliche Qualität, die unter anderem von meinen Vorgängern Erich Leinsdorf (1943–1946), George Szell (1946–1970), Lorin Maazel (1972–1982) und Christoph von Dohnányi (1984–2002) geprägt wurde und seine besondere Tradition. Ein wesentlicher Aspekt neben der qualitativen Entwicklung des Orchesterklanges war auch meine Neugier auf eine Stadt, in der Musik nicht zum Alltag der jungen Menschen gehörte. Im Jahr 2018 habe ich anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Gründung des Orchesters die Institution mit einer Vision herausgefordert: Spätestens in weiteren 100 Jahren soll jedes Kind der Stadt mit Musik in Berührung kommen. Musik soll zur Selbstverständlichkeit werden. Damit wollte ich auch eine alte Tradition fortsetzen. Bereits 1918 haben die Bürger von Cleveland das Orchester auch deshalb unterstützt, weil es die Idee der Klassik in der Stadt verbreiten sollte. Mir ist bewusst, dass dieses kulturelle Ziel kein konkretes Problem lösen wird, keinem Arbeitslosen einen Job verschafft und keinen Kriminellen läutert. Aber ich glaube, dass eine Stadt, in der Musik eine Selbstverständlichkeit und Klassik allgemein zugängig ist, ein Ort ist, an dem es grundsätzlich mehr Chancen gibt. Eine Stadt, in der mehr zugehört wird. Eine Stadt, in der das Miteinander eines Orchesters eine Vorbildfunktion übernimmt.

Auch das berühmte Basketball-Team Cleveland Cavaliers hat vorgemacht, wie großartig Identifikation sein kann. 2016 haben die Basketballer den NBA-Titel gewonnen. Die ganze Stadt war im Ausnahmezustand. Und das, obwohl ein Ticket für ein Spiel mindestens 350 Dollar kostete – und damit für viele Clevelander unerschwinglich war. Leider war der Erfolg der Cavaliers nicht von Dauer. Nach dem Verkauf von Star-Spieler LeBron James, der inzwischen bei den LA Lakers 35,65 Millionen Dollars verdient, ging es wieder bergab. Ein Wechsel, von dem sich die Cavaliers bis heute zu erholen versuchen.

Es gibt bekanntlich allerhand Gemeinsamkeiten zwischen Sport und Musik. So „spielt“ man Basketball ebenso wie man Geige, Oboe oder Klavier „spielt“. Ein Aspekt, den ich beim Musizieren für existenziell halte. Geige wird nicht „gearbeitet“ oder „ausgeübt“, sie wird gespielt. Ähnlich wie beim Sport handelt es sich um ein Spiel, bei dem sich die Freude daran erst einstellt, wenn man es ernst nimmt, wenn man es kultiviert, wenn man übt, an sich selbst arbeitet, an seiner eigenen Leistung – und an der Leistung des Teams.

Ich will, dass Musikmachen in Cleveland so selbstverständlich wird wie das Basketballspielen, das in den Garageneinfahrten der Vorstädte und an öffentlichen Plätzen täglich gepflegt wird. Mir geht es darum, sowohl die musikalische Qualität des Cleveland Orchestra als auch seine Bildungs- und Jugendarbeit langfristig anzulegen. Sie dürfen nicht auf einen Star ausgerichtet sein – und schon gar nicht auf mich selbst. Mein Ziel ist es, mit der 100-jährigen Perspektive, die ich 2018 skizziert habe, das Education-Programm so weiter auszubauen, dass es den Einzelnen weit überdauern würde. Und es macht mich ein wenig stolz, dass wir auf dem besten Weg dorthin sind.

Ich musste allerdings auch sehr viel lernen, etwa wie schleichend die Selbstverständlichkeit der Kultur verschwinden kann und wie schnell grundlegende Dinge abgeschafft werden können. In den USA begann dieser Prozess schon vor rund 40 Jahren. Damals wurden immer mehr school bands sang- und klanglos aus Kostengründen aufgelöst. Dies hat dazu geführt, dass es heute wesentlich schwieriger als früher ist, qualifizierte Bläser aus den Vereinigten Staaten zu finden. Ein Prozess, der Europa ebenfalls drohen könnte. Wir müssen auf den Humus achtgeben, auf dem nächste Generationen wachsen können. Dies betrifft vor allem Musikkapellen, Vereine sowie Kirchen, sonst wird auch in Österreich viel Typisches unserer Tradition verloren gehen. In Cleveland wurde mir bewusst, dass wir die Auswirkungen eines Prozesses zu spüren bekommen, der über eine Generation zuvor unaufhaltsam eingesetzt hat und der nicht von heute auf morgen rückgängig zu machen ist. Es ist schwer, eine schon lang eingeschlagene Richtung wieder zu ändern.

Und noch etwas ist mir ziemlich schnell klar geworden. Selbst eine große Institution wie ein Orchester mit seinen vielen Musikerinnen und Musikern, seiner Administration, seinen Förderern, Fans und seinem breiten Publikum ist nicht in der Lage, eine ganze Stadt im Alleingang zu verändern. Es steht immer in der Gefahr, selbstreferenziell zu sein, nur ein Publikum anzusprechen, das es ohnehin erreicht, und in seiner eigenen Blase zu spielen. Wenn man Musik ernsthaft als Alltäglichkeit einer ganzen Stadt etablieren will, ist man auf die Hilfe anderer Institutionen angewiesen, auf Unternehmen, Schulen, Kultur- und Sportvereine oder Kirchengemeinden.

Es war also der erste Schritt zu begreifen, dass die klassische Musik, die für mich immer eine Selbstverständlichkeit war, längst keine mehr ist. Auch deshalb muss musikalische Bildung weit tiefer ansetzen als lediglich durch die Bereitstellung von Unterricht. Musik muss zunächst einmal wieder in der Gemeinschaft ihren festen Platz finden. Die grundlegende Frage von Education-Programmen ist also nicht, welche einzelnen Programme man anbietet, sondern was nötig ist, um Musik wieder als Selbstverständlichkeit einer Gemeinschaft zu etablieren. All das geht nur, wenn man das Orchester an sich in seiner Unternehmens- und Betriebskultur als Vorbild versteht. In Cleveland wollen wir deshalb regional wie national Vorreiter sein, Maßstäbe im Orchester-Management setzen, Veränderungen nicht nur hinnehmen, sondern herbeiführen, und uns gleichzeitig auch immer wieder die Frage stellen, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. So ist es und war es immer unser Ziel, international in der Spitzenliga mitzuspielen, wenn es um Orchester- und Klangkultur geht. Aber wir haben nicht vergessen, dass wir in erster Linie in Cleveland zu Hause sind und dass wir hier die Rolle des regionalen Kultur-Nahversorgers einnehmen. Wir haben begriffen, dass unsere Positionierung vor Ort die Keimzelle unseres nationalen und internationalen Erfolges ist.

Franz Welser-Möst in seiner ersten Saison als Musikdirektor des Cleveland Orchestra im Jahr 2002

Seit ich in Cleveland bin, ist es mir wichtig, genau diese kulturelle wie gesellschaftliche Rolle ernst zu nehmen: Das Orchester spielt in den Schulen in der West und East Side und kooperiert intensiv mit dem Metropolitan School District. Unser Ziel ist es (ermöglicht durch eine großzügige Spende), vor jedem Schüler der Stadt zu spielen. Wir verstehen uns als Partner des Musikkonservatoriums Cleveland Institute of Music und sind allgegenwärtig in der Stadt vertreten, etwa mit kostenlosen Konzerten am „Tag der Musik“, mit dem Martin-Luther-King-Konzert oder den Open-Air-Auftritten zum Unabhängigkeitstag. Und als Musikdirektor ist es mir auch besonders wichtig, unser eigenes Jugendorchester (COYO – The Cleveland Orchestra Youth Orchestra) mit allen Kräften zu unterstützen.

All das hat auch mit meiner musikalischen Erziehung zu tun und mit den Erfahrungen in meiner Jugend. Heute ist mir bewusst, dass das Erlernen eines Instruments wahrscheinlich schon 1970 in Wels Distinktionsmerkmal einer bürgerlichen Familie war. In einer Stadt wie Cleveland ist es unmöglich zu ignorieren, dass Musizieren nicht zum Alltag aller Menschen gehört, sondern dass es die Freizeitbeschäftigung einer weitgehend privilegierten Gesellschaftsschicht ist. Und genau das gefällt mir nicht! Es liegt auf der Hand, dass die vielleicht größte Selbstverständlichkeit des Musikmachens – dass die Mutter ihrem Kind am Abend ein Lied vorsingt – viel damit zu tun haben kann, ob es in einer Stadt eine musikalische Institution gibt, die die Menschen dafür sensibilisiert.

Wie musikalische Bildung krachend scheitern kann, habe ich bei Schwester Gerburga in Wels erfahren müssen, wie musikalische Erziehung ansteckend wirkt, durfte ich später am Musikgymnasium in Linz erleben.

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