Buch lesen: «Zivilisation in der Sackgasse», Seite 2

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1.
DER GEBORENE NOMADE

Der Mensch war für alle Klimate und für jede Beschaffenheit des Bodens bestimmt; folglich mussten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen.

Immanuel Kant

Rund sieben Milliarden Menschen bevölkern heute die Erde. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung weltweit um derzeit über 80 Millionen Menschen pro Jahr. Menschen tummeln sich vorwiegend in Ballungszentren, in Millionenstädten und sogenannten Megastädten, aber man findet sie auch nach wie vor in kleinen Siedlungen; sie bewohnen warme und kalte Regionen und vermögen selbst unter unwirtlichsten Bedingungen (zum Beispiel in der Nordpolregion) zu überleben. In den Jahrmillionen ihrer Evolution haben sich Menschen beziehungsweise „Menschenartige“ allmählich auf allen Kontinenten ausgebreitet und sind heute die einzige Primatenart mit weltweiter Verbreitung. Nur in der Antarktis haben sie sich nicht auf Dauer niedergelassen (Spuren hinterlassen haben sie allerdings auch dort). Dabei begann alles sehr bescheiden. Unsere ältesten Ahnen blieben zunächst auf den afrikanischen Kontinent beschränkt und lebten dort ziemlich unauffällig in Uferwäldern, wo sie sich von Pflanzen und kleineren Tieren ernährten. Später gewann vor allem die Jagd auf größere Tiere an Bedeutung. Schließlich, gemessen mit evolutionären Zeitmaßstäben erst vor Kurzem, wurden Menschen sesshaft und begannen Siedlungen zu bauen – und es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, für den es in der Evolutionsgeschichte keine Präzedenzfälle gibt.

Das vorliegende Kapitel soll Lesern ohne nennenswerte anthropologische und evolutionsbiologische Vorkenntnisse wichtige Hintergrundinformation liefern. Es behandelt – in sehr gedrängter Form – die Herkunft und Entwicklung des Menschen und die Lebensweise unserer steinzeitlichen Ahnen. Wer aber über die Evolution des Menschen bereits hinreichend unterrichtet ist, kann dieses Kapitel getrost überschlagen. Allerdings liefert es Grundlagen für Argumente, die in späteren Kapiteln des Buches noch ihre Rolle spielen werden.

UNSERE „ÄFFISCHE“ ABKUNFT

Der heutige Mensch, Homo sapiens, ist eine von rund dreihundertfünfzig heute noch lebenden Arten der Säugetierordnung Primaten („Herrentiere“). Seine nächsten Verwandten sind Schimpanse, Bonobo (Zwergschimpanse), Gorilla und Orang-Utan. Spätestens seit Charles Darwin (1809 bis 1882) ist an der „äffischen“ Abkunft des Menschen ebenso wenig zu zweifeln wie daran, dass der Mensch „in seinem Körperbau immer noch die unaustilgbaren Zeugnisse seines niedrigen Ursprungs erkennen läßt“ (Darwin 1871 [1966, S. 274]). Aber, so ist gleich hinzuzufügen (und Darwin wusste es bereits sehr gut), auch in seinem Verhalten und Handeln, seinem Denken, Fühlen und Wollen schleppt der Mensch nach wie vor seinen „äffischen“ Ursprung mit sich herum. Der Affe sitzt ihm fest im Nacken, er kann seine eigene Herkunft und Vergangenheit nicht einfach abstreifen. Das ist aus evolutionsbiologischer Sicht eigentlich nicht weiter aufregend, weil auch alle anderen Arten ihre stammesgeschichtlichen „Bürden“ nicht abwerfen können. Aber uns Menschen betrifft dieser Umstand in besonderem Maße; und manchen macht er betroffen, denn es ist nach wie vor nicht jedermanns Sache, seine Spezies bloß als ein Glied in der langen „Tierkette“ zu wissen.

Noch bevor Darwin – auf der Basis umfassender Befunde aus verschiedenen ihm zugänglichen wissenschaftlichen Disziplinen – den Menschen in die Evolution der Tierwelt einreihte und seine enge Verwandtschaft mit dem Schimpansen und dem Gorilla herausstellte, hatten schon zwei andere Naturforscher Klartext gesprochen: der Engländer Thomas H. Huxley (1825 bis 1895) und der Deutsche Ernst Haeckel (1834 bis 1919). Beide waren, im Gegensatz zu Darwin (dem zurückhaltenden „Revolutionär“), sehr beredte und streitbare Geister; Huxley war Darwins großer Fürsprecher und Verteidiger in seiner Heimat („Darwins Bulldogge“), Haeckel sorgte für die Verbreitung der Ideen Darwins in Deutschland. Beide erschütterten den in unserer Geistesgeschichte tief verwurzelten Glauben an die „Sonderstellung“ des Menschen in der Natur. Daran halten noch viele unserer Zeitgenossen fest. Nimmt man aber die Ergebnisse der modernen Anthropologie und Primatenforschung ernst, dann muss man zugeben, dass sich die Grenzen zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten mehr und mehr verwischen.

Selbstverständlich kann niemand leugnen, dass sich der Mensch allein schon in anatomischer Hinsicht (aufrechter Gang, stark vergrößertes Gehirn) von den übrigen Primatenarten durchaus unterscheidet (und natürlich auch von allen anderen Säugetierarten, vom großen Rest des Tierreichs ganz zu schweigen). Und in praktisch allen kognitiven Leistungen (Denkvermögen, Lernen, Sprache) ist der Mensch sämtlichen anderen Arten weit überlegen. Aber wie der Neurobiologe Gerhard Roth betont, lässt sich daraus keine wirkliche Einzigartigkeit ableiten,

denn beim Menschen gibt es nichts, was nicht in einigen Vorstufen bei nichtmenschlichen Tieren bereits vorhanden ist. Vielmehr zeichnet sich der Mensch durch eine Kombination von Merkmalen aus, die für seine Lebens- und Überlebensbedingungen äußerst vorteilhaft waren wie der aufrechte Gang, der Handgebrauch, eine hohe allgemeine Intelligenz und schließlich eine besonders effektive Form sprachlicher Kommunikation.

(Roth 2010, S. 393 f.)

Außerdem bleibt festzuhalten, dass die „menschliche Eigenart“ schon deswegen nichts Einzigartiges ist, weil sich jede Spezies in einer mehr oder weniger großen Anzahl von Merkmalen von allen anderen unterscheidet. So gesehen könnte auch der Blauwal – wenn er denn könnte – eine Sonderstellung in der Natur für sich reklamieren, nämlich wegen seiner enormen Körpergröße und seines ebenso enormen Körpergewichts. Und wie einzigartig müsste sich, wenn er sich darauf besinnen könnte, der australische Koala oder Beutelbär mit seinem unverwechselbaren Aussehen vorkommen, welches noch von seiner spezifischen Ernährungsweise (dem Fressen von nährstoffarmen, für die meisten Pflanzenfresser unbekömmlichen Eukalyptusblättern) flankiert wird …

Es sollte überflüssig sein zu bemerken, dass weder Darwin noch irgendein anderer ernsthafter Evolutionsforscher behauptet hat, der Mensch stamme von einer der heutigen Affenarten ab. Vielmehr war stets von gemeinsamen Vorfahren die Rede. Aus heutiger Sicht ist davon auszugehen, dass sich die Evolutionslinien des Schimpansen, des Gorillas und des Menschen vor etwa acht bis fünfeinhalb Jahrmillionen getrennt haben und die zum Orang-Utan führende Linie noch einige Millionen Jahre früher ihren Anfang nahm. Funde von entsprechenden Fossilien aus neuerer Zeit legen nahe, dass Menschen – Hominini im Sprachgebrauch der modernen Paläoanthropologie – also ein stammesgeschichtliches Alter von über fünf Millionen Jahren aufweisen. Charakteristisch für Menschen war dabei von Beginn an der aufrechte Gang, die Bipedie, also die Fortbewegung auf nur zwei – den hinteren – Extremitäten. Der Erwerb des aufrechten Ganges kann freilich nicht über Nacht erfolgt sein, sondern muss sich – hier fast wörtlich gesagt – schrittweise vollzogen haben, wie in der Entwicklung eines Kindes, allerdings in viel größeren Zeiträumen. Prähistorische Primaten, die sich ähnlich den heutigen Schimpansen zumindest vorübergehend allein auf den hinteren Extremitäten fortbewegen konnten, haben wohl die Anfänge dieser Lokomotionsform markiert. Im Übrigen ist es natürlich schwer, Menschen von anderen prähistorischen Primaten scharf abzugrenzen. Wir haben es hier mit fließenden Übergängen zu tun. Aber die Hominisation oder Menschwerdung im engeren Sinn erfolgte offenbar mit der Entwicklung der zweibeinigen Fortbewegungsweise. Ein weiteres ihrer charakteristischen Merkmale ist die auffallende Vergrößerung des Gehirns, die vor allem auf dem Niveau der Gattung Homo (siehe unten) beschleunigt einsetzte und vermutlich durch eine maßgebliche Verbesserung der Ernährungssituation gefördert wurde. Das Gehirn nämlich benötigt im Vergleich zu seiner Größe beziehungsweise seinem Volumen sehr viel Energie. Man muss aber umgekehrt auch davon ausgehen, dass der Mensch mit der Vergrößerung seines Gehirns und mithin einer Steigerung seiner kognitiven Leistungen seine Ernährungssituation verbesserte. Denn er war imstande, immer effizientere Techniken der Nahrungsbeschaffung und schließlich Nahrungszubereitung (Kochen, Garen) zu entwickeln.

Insgesamt hat man sich den Prozess der Menschwerdung als einen komplexen Vorgang der Wechselwirkung verschiedener Faktoren vorzustellen, die voneinander nicht zu trennen sind. Es ist also müßig darüber zu streiten, was den Menschen eigentlich zum Menschen gemacht hat. Sicher hat die Vergrößerung seines Gehirns – von ursprünglich etwa vierhundert Kubikzentimetern auf mehr als das Dreifache innerhalb von rund zwei Jahrmillionen – den Menschen zu ganz entscheidenden Innovationen befähigt. Das Gehirn ist der Sitz unserer Persönlichkeit, unseres jeweils spezifischen (individuellen) Denkens, Fühlens und Wollens. Aber der Prozess der Gehirnentwicklung ist in ein komplexes Faktorengefüge eingebettet. Er hängt mit anatomischen Änderungen ebenso zusammen wie mit ökologischen Anforderungen, klimatischen Umständen und sozialer Konkurrenz. Die Evolution des Menschen insgesamt war also kein geradliniger Vorgang, sondern ein sehr komplizierter Prozess, der sich auf vielen verschlungenen Pfaden vollzogen hat.

JÄGER UND SAMMLER

Wenig umstritten ist, dass Menschen in langen Etappen ihrer Evolution nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt haben. Der aufrechte Gang erwies sich bei der Jagd zweifelsohne als erheblicher Vorteil. Als nicht geringer aber ist jener Vorteil einzustufen, den die von der Fortbewegung befreiten Vorderextremitäten dem Menschen boten. Unsere Hände sind universell brauchbare Instrumente. Wir können uns mit ihnen nicht nur festhalten, sondern sie erweisen uns bei der Handhabung von Gegenständen unschätzbare Dienste. Sie erlauben uns, die Feder zu führen, einen Stein mit Meißel und Hammer zu bearbeiten, Klavier zu spielen und vieles mehr. In Verbindung mit einem immer größer werdenden Gehirn und mithin wachsenden Intelligenzleistungen dienten die Vorderextremitäten dem prähistorischen Jäger und Sammler zur Herstellung von immer effizienteren Werkzeugen. Diese ermöglichten ihm, wie gesagt, die Nahrungsbeschaffung und später durch den Gebrauch des Feuers auch die Zubereitung von Nahrung und wirkten sich positiv auf die Bewältigung seines Lebens aus. In der Konkurrenz mit Raubtieren um Beute brachten Waffen wie Steinschleudern oder Speere dem Menschen entscheidende Vorteile. Während beispielsweise Löwen, Tiger, Wölfe oder Bären ihre Beute nur in direktem Kontakt zu ihr und mittels ihrer Pranken und Zähne schlagen können, vermag der Mensch mit Waffen, also gewissermaßen außerkörperlichen Organen, seine Beute aus der Distanz zu erlegen. Obendrein dienen ihm seine Waffen dazu, sich die Raubtiere einigermaßen vom Hals zu halten und so in der Konkurrenz mit ihnen um Nahrung Vorteile zu gewinnen.

Die lange Zeit beliebte These, dass der Mensch von Anfang an ein Jäger gewesen sei und die Jagd seine weitere Evolution gleichsam determiniert habe, ist allerdings nicht mehr haltbar. Vieles spricht dafür, dass die ältesten Hominini in (feuchten) Uferwäldern lebten, die ihnen ein relativ breites Nahrungsspektrum boten: neben verschiedenen Pflanzen beziehungsweise Früchten leicht zu fangende, im Wasser lebende Tiere (zum Beispiel Krebse). Temporär und saisonal bedingt werden sie ihre Biotope aber auch verlassen haben, um sich nach weiteren Nahrungsressourcen umzusehen. Es ist ein lange gehegtes, ein wenig romantisch verklärtes Bild: Ein vierbeiniger, auf Bäumen kletternder Affe stieg von den Bäumen herunter, trat aus dem Wald in die Savanne und richtete sich allmählich auf, womit er zum Menschen wurde. So einfach war es sicher nicht. Die Hominisation erfolgte in verschiedenen Etappen. Unsere ältesten menschlichen Ahnen waren der Bipedie zwar mächtig, beherrschten aber das Klettern noch sehr gut und begaben sich gern auf die Bäume zurück (wo sie auch, noch nicht mit wirkungsvollen Werkzeugen ausgerüstet, Schutz vor manchen Feinden fanden). Der Hang zum Klettern ist uns erhalten geblieben. Welches Kind klettert nicht – wenn man es denn noch lässt! – auch heutzutage gern auf einen Baum …

Kaum zu bestreiten ist jedoch, dass der Mensch während eines beträchtlichen Zeitraums seiner Evolutionsgeschichte, über zwei Millionen Jahre, nomadisierend als Jäger und Sammler gelebt hat. Er ist also der geborene Nomade. Besser sollte man vielleicht sagen: Halbnomade. Denn es liegt nahe, dass sich die steinzeitlichen Jäger und Sammler vorübergehend auch niedergelassen haben, und zwar vor allem an Orten, die ihnen ausreichende Nahrungsressourcen boten. Es wäre ja eine Verschwendung von Energie gewesen, herumzuwandern, wenn das zum Fressen Benötigte in unmittelbarer Umgebung zumindest saisonal verfügbar und das Aufspüren von Ressourcen in größerer Distanz mit Unwägbarkeiten verbunden war. Und man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen: Nichts lag unseren steinzeitlichen Ahnen ferner, als überflüssige Anstrengungen zu unternehmen oder sich unnötigen Risiken auszusetzen. Ihr Leben war ohnedies hart genug. Die auf die Antike zurückgehende Vorstellung eines „goldenen Zeitalters“ irgendwann in grauer Vorzeit und die noch von Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) vertretene und verteidigte Idee, dass im „Naturzustand“ alles gut gewesen sei und der Mensch in seinem Urzustand glücklich gelebt habe, sind schöne Märchen. Dagegen stellte bereits der Arzt und Philosoph Ludwig Büchner (1824 bis 1899), der populärste Vertreter des Materialismus seiner Zeit, treffend Folgendes fest:

So schön und tief empfunden die Paradies-Sage oder diejenige vom goldenen Zeitalter ist, ebenso unwahr und der Phantasie entsprossen ist sie doch. In Wirklichkeit hat es niemals einen paradiesischen Zustand der Menschheit gegeben, sondern ganz im Gegentheil einen elenden, erbärmlichen Zustand unseres ältesten Vorfahren oder des Urmenschen, aus welchem sich derselbe nur sehr allmählich befreit hat, … nicht durch Göttliche Hülfe, sondern durch eigene, unerhörte Anstrengungen im Laufe zahlloser Jahre und Generationen.

(Büchner 1891, S. 3)

Wann immer es ihm gegönnt war, wird der „Urmensch“, wie gesagt, Anstrengungen vermieden haben – womit er sich in keiner Weise von anderen Tieren unterschied. Auch ein Löwe etwa unternimmt keine zusätzliche Anstrengung, wenn er sich an Ort und Stelle einer fetten Beute versichern darf und obendrein von niemandem behelligt wird. Es herrscht das „Trägheitsprinzip“: Anstrengung lohnt sich nur, wenn sie unmittelbar Erfolg verspricht. Freilich ist das Leben der Tiere (in freier Wildbahn) und war das Leben unserer steinzeitlichen Ahnen von gar vielen Mühen und Plagen gekennzeichnet. Nur satte Mäuler können der Ruhe pflegen.

Nun kurz zu der alten Frage „Woher kommen wir?“.

AFRIKA UND DIE BESIEDLUNG DER ERDE

Abermals war es Charles Darwin, der bereits die richtige Vermutung hinsichtlich unserer „Urheimat“ äußerte: Afrika. Alle Fossilien, die das früheste und frühe Auftreten von Menschen (Hominini) heute belegen, stammen aus diesem Kontinent. Mittlerweile sind es recht viele Funde, die verschiedene Gattungen und Arten repräsentieren. Keineswegs alle können hier berücksichtigt werden. Zu erwähnen ist aber zunächst Ardipithecus ramidus aus Äthiopien, der älteste bisher bekannte „Mensch“, eine Spezies jedenfalls, die schon zur bipeden Fortbewegung befähigt gewesen sein muss und vor über fünf Jahrmillionen auftrat. Seine Existenz ist erst seit den 1990er Jahren bekannt. Auf eine längere Entdeckungsgeschichte kann die Gattung Australopithecus zurückblicken, die nach wie vor häufig als „Urmensch“ bezeichnet wird. Der erste Fund dieser Gattung stammt aus dem Jahr 1924. Heute werden, je nach Gesichtspunkt, fünf bis acht Spezies unterschieden, die älteste von ihnen ist Australopithecus anamensis, der ein Alter von über vier Millionen Jahren aufweist. Andere Arten sind der rund drei Millionen Jahre alte Australopithecus africanus und Australopithecus robustus (auch Paranthropus robustus genannt), der vor etwa zwei Jahrmillionen auftrat. Es muss davon ausgegangen werden, dass in den frühen (teils auch in späteren) Phasen seiner Evolution mehrere Gattungen und Arten des Menschen zeitgleich und auch in derselben Region gelebt haben. Wie mögen sie einander begegnet sein? Eine spannende Frage. Wahrscheinlich standen sie in Konkurrenz zueinander und besetzten unterschiedliche ökologische Nischen. Mag sein, dass sie sich gelegentlich auch gehörig in die Quere kamen. Aber Näheres bleibt derzeit noch Mutmaßungen überlassen, vieles wird vielleicht für immer im Dunklen bleiben (obwohl man in der Wissenschaft ein Problem nie resignierend als grundsätzlich unlösbar erachten sollte).

Die Gattung Homo, zu der auch unsere eigene Spezies zählt, trat vor etwa zwei Millionen Jahren in Erscheinung und sollte sich gleichsam als Erfolgsmodell in der Evolutionsgeschichte des Menschen herausstellen. Ihre ältesten Vertreter sind Homo habilis und Homo ergaster, etwas jünger – seit etwa einer Million Jahren nachgewiesen – ist Homo erectus, dessen späte „Ausläufer“ noch vor zweihunderttausend Jahren existiert haben dürften. Ursprünglich beschränkte sich auch das Verbreitungsgebiet der Gattung Homo auf Afrika, Homo erectus aber, dessen Erforschungsgeschichte im späten 19. Jahrhundert mit der Entdeckung von Skelettresten auf Java begann, lebte auch schon in Asien und in Europa. Zu einiger Berühmtheit brachte es dabei der sogenannte Peking-Mensch, der in den 1920er Jahren in der Nähe der chinesischen Hauptstadt entdeckt wurde, vor knapp fünfhunderttausend Jahren erstmals in Erscheinung trat und sich bereits im Gebrauch des Feuers übte. Für die paläoanthropologischen Forschung nicht minder bedeutsam ist auch ein „Europäer“, der Heidelberg-Mensch oder Homo heidelbergensis, der vor etwa sechshunderttausend Jahren in Afrika aufgetaucht war und sich später auf unserem Kontinent niederließ. Unsere eigene Art schließlich, Homo sapiens, erschien vor etwa hundertfünfzigtausend Jahren auf der Bühne, und zwar wiederum zunächst in Afrika, von wo aus er nach Europa – und später auf alle anderen Kontinente – auswanderte.

Somit lässt sich heute nicht nur sagen, dass die Wiege der Menschheit in Afrika stand, sondern auch, dass von dort aus immer wieder menschliche Populationen in andere Regionen der Erde eingewandert sind. Diese im Fachjargon als Out-of-Africa bezeichnete Migrationshypothese findet nicht nur in Fossilien und Werkzeugen, sondern auch in molekularbiologischen Untersuchungen (DNA-Vergleichen heutiger menschlicher Populationen) eine veritable Stütze. Was aber hat Menschen immer wieder dazu bewogen, den afrikanischen Kontinent und ihr jeweils angestammtes Territorium zu verlassen? Eine abermals sehr spannende Frage. Es mögen Nahrungsmangel, klimatische Veränderungen und noch andere Faktoren dafür maßgeblich gewesen sein. Vielleicht auch veranlasste seine zunehmende Intelligenz und mit dieser seine sich beständig steigernde Neugier und Entdeckungslust den Menschen schon früh dazu, nach neuen Ufern vorzustoßen, auf neuem Terrain Fuß zu fassen.

Obwohl hier ein nur überaus knapper Abriss der Evolution und Verbreitungsgeschichte des Menschen bezweckt sein kann, darf die Erwähnung des Neandertalers nicht fehlen. Der Homo neandertalensis ist eine Schlüsselfigur der Paläoanthropologie, die als Wissenschaft vom fossilen Menschen mit seiner Entdeckung überhaupt erst ihren Anfang nahm (1856 in einer Höhle im Neandertal bei Düsseldorf). Wenngleich die Existenz des Neandertalers mittlerweile durch zahlreiche Funde aus Europa und dem Vorderen Orient sehr gut dokumentiert ist und seine Lebensweise anhand einschlägiger Grabungsergebnisse gut rekonstruiert werden konnte (nachweislich bestattete er seine Toten und schmückte ihre Gräber mit Blumen), gibt diese „Menschenform“ nach wie vor einige Rätsel auf. Insbesondere ihr Verschwinden vor knapp dreißigtausend Jahren liefert immer noch Stoff für einige Spekulationen. Tatsache ist, dass der Neandertaler zeitgleich mit dem heutigen Menschen, Homo sapiens, lebte, genau gesagt mit dem (nach seinem französischen Fundort benannten) Cro-Magnon-Menschen. Dieser repräsentierte bereits unseren heutigen „Menschentyp“ oder unterschied sich jedenfalls von diesem kaum. (In der heutigen Welt hätte ein Cro-Magnon-Kind alle Voraussetzungen für einen Physikprofessor, einen Lokomotivführer oder einen Bankräuber.) Möglicherweise konkurrierte der Cro-Magnon-Mensch mit dem Neandertaler um Nahrung und ging aus dieser Konkurrenz schließlich als Sieger hervor. Vielleicht auch hat er seinen „Vetter“ – eben als Konkurrenten – ausgerottet. (Völkermorde begleiten ja auch unsere weitere Geschichte.) Vielleicht aber haben sich Neandertaler und Cro-Magnon-Menschen miteinander vermischt, sodass in uns allen heute noch Neandertalerblut fließt …

Wie man sieht, geben uns die eigene Herkunft und unsere Evolutionsgeschichte noch einige Aufgaben auf, die zu bewältigen vielleicht viele Jahre oder Jahrzehnte dauern wird. Aber fest steht, dass Menschen aus „affenartigen“ Vorfahren hervorgegangen sind, der heutige Mensch das Resultat eines mehrere Jahrmillionen umfassenden komplexen Prozesses darstellt und dass er die Zeugnisse seiner Vergangenheit unauslöschlich mit sich herumträgt. Nicht zu zweifeln ist auch daran, dass Menschen während der längsten Zeit ihrer Evolution als Nomaden oder Halbnomaden herumgezogen sind. Jagend und sammelnd waren sie den Unbilden der Natur meist hilflos ausgeliefert und fanden sich in keiner besseren (oder schlechteren) Situation wieder als alle übrigen Tiere auch. Dann aber, vor erst etwa fünfzehntausend Jahren – welch unbedeutender Zeitraum auf der Zeitskala der Evolution! –, geschah etwas recht Eigenartiges: Menschen wurden sesshaft, begannen Siedlungen zu bauen, Pflanzen und Tiere zu züchten (anstatt sie als Wildformen zu sammeln beziehungsweise zu pflücken und zu jagen) und komplexe, arbeitsteilige Gesellschaften zu entwickeln. Es erfolgte der als neolithische oder jungsteinzeitliche Revolution bezeichnete Übergang von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise, und zwar zunächst im Vorderen Orient, um aber später auch auf andere Regionen der Erde überzugreifen.

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