Buch lesen: «Frank Thelen – Die Autobiografie», Seite 4

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Die Katastrophe
Der dümmste Fehler meines Lebens

Bonn, ab 1999

Ein Vertreter unserer Bank saß im Aufsichtsrat der twisd AG. Und da die Bank auch an unserer Investmentgesellschaft beteiligt war, waren neue Kredite nie ein großes Problem. So auch nicht bei der neu gewährten Kreditlinie über knapp zwei Millionen DM. Ich hatte damals keine Aktien – außer denen am eigenen Unternehmen, das aber noch nicht börsennotiert war. Mich interessierten weder DAX noch Dow. Der Börsengang unserer Firma war für mich nur eine tolle Möglichkeit, weiteres Geld in ihr Wachstum zu stecken – und an diesem Erfolg auch persönlich teilzuhaben. Ich sah den Taifun nicht kommen – oder um im Bild zu bleiben: Ich habe nicht mal den Wetterbericht gehört.

Am 1. Juli 1999 waren am Neuen Markt bereits 124 Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 56 Milliarden Euro vertreten, acht Monate später waren es bereits 229 Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung von 234 Milliarden Euro. Im März 2000 notierte der Neue Markt sein All Time High. Mobilcom-Gründer Gerhard Schmidt spricht im Nachhinein davon, dass damals »die Banken doch jeden an die Börse gebracht haben, der einen ambitionierten Geschäftsplan vorgelegt und dabei das Wort ‘Internet’ richtig geschrieben hat«. Doch unter Insidern kursierten schon sogenannte »Todeslisten« von Unternehmen, deren Aktienbewertung wohl selbst bei idealer Geschäftsentwicklung als zu euphorisch angesehen werden musste.

Davon hatte ich nichts mitbekommen, aber zumindest eine unserer Banken hatte vermutlich schon kalte Füße bekommen. Denn etwa einen Monat nachdem unsere Kreditlinie erweitert wurde, bat uns der dafür zuständige Banker im Anschluss an eine Aufsichtsratssitzung zu einem Dreiergespräch. »Severin, Frank, wir müssen noch mal kurz über eine klitzekleine Formalität sprechen.« Zuvor hatten wir – wie üblich – bei unserer fancy PowerPoint-Präsentation die Steilheit der Wachstumskurve zwar beibehalten, nur mal wieder den Start des Durchbruchs ein wenig nach hinten verschoben.

»Jungs, wir haben vergessen, von euch noch die private Bürgschaft für den Wachstumskredit einzuholen. Ist ja nur theoretisch, aber sonst müsstet ihr jetzt einen höheren Zins zahlen. Und das wäre ja blöd.« Wie gesagt: Erstens interessierte mich das Geld nie, ich wollte einfach unbedingt mein Entwicklerteam ausbauen. Und zweitens standen wir kurz vor unserem IPO, der mich – so wie die anderen Unternehmer am Neuen Markt – millionenschwer machen würde. Severin und ich unterzeichneten die Bürgschaft daher direkt noch in diesem Meetingraum. Ohne Rücksprache mit irgendwelchen Anwälten oder wenigstens mit meinen Eltern. Wir haben nicht einmal drüber geschlafen. Es war ja nur eine »klitzekleine Formalität«. Wir waren im Hype, größer, schneller, weiter. Uns gehörte die Welt.

Das Dümmste, Idiotischste und Bescheuertste aber war etwas anderes. Ich könnte noch heute meinen Kopf auf die Tischplatte schlagen, wenn ich nur darüber nachdenke: Ich hätte das Dokument nicht mal unterzeichnen müssen. Der Kredit war längst bewilligt, die Bank hatte einfach vergessen, uns dafür bürgen zu lassen. Sie hatte einen Fehler gemacht. Und ich hatte mich in meinem Rausch überrumpeln lassen. Scheitern war aber damals eben noch gar keine Option, und wir hätten alles für unser Baby getan.

Im Juni 2000 ging ich mit einem befreundeten Unternehmer aus Köln essen. Er hatte sich meinen Traum schon erfüllt und war bereits an der Börse. Natürlich erzählte ich ihm, dass auch wir unmittelbar davor stünden und dass wir ja bald noch mehr Kumpels auf Augenhöhe wären. Aber dieses Mal sagte er: »Du, Frank, bitte behalte es für dich. Aber in den letzten Tagen habe ich sehr viele ernste Gespräche führen müssen. Ich glaube, es wird nicht mehr viele IPOs geben, und für mich werden die nächsten Monate auch nicht einfach.« Das war das erste Mal, dass ich in diesen Monaten überhaupt kritische Worte über die wirtschaftliche Situation hörte. Die ganze Tragweite seiner Worte habe ich damals überhaupt nicht begriffen. Es war kein schönes Gespräch, weil am Horizont irgendein Unwetter aufzuziehen schien, ich aber nicht so recht wusste, was das zu bedeuten hatte. Ich wischte den dunklen Gedanken zur Seite: Unser IPO-Plan stand, und wir hatten ja auch ein super Produkt.

Doch im September 2000 meldete mit Gigabell das erste Unternehmen am Neuen Markt Insolvenz an. Drei Monate nach Unterzeichnung der Bürgschaft war auch unsere Kreditlinie ausgeschöpft. Aber wir waren noch lange nicht am Ende, dachten wir: Wir verhandelten noch mit drei Investmentgesellschaften – damals hießen die ja noch nicht VC – über die Finanzierung unseres IPO. Wir benötigten nur noch etwas Überbrückungsgeld, um dann das große Geld an der Börse einzusammeln. Zwischenzeitlich gab es sogar noch ein Übernahmeangebot von möglichen strategischen Partnern, von denen ich für meine Anteile einen deutlich siebenstelligen Betrag erhalten hätte. Doch einer unserer beratenden Banker meinte, beim Börsengang würden wir ein Vielfaches einnehmen. Wir lehnten also ab. Wir folgten der Gier. Innerhalb weniger Wochen drehte sich der Wind endgültig um 180 Grad. Alle drei Investmentgesellschaften sagten die Finanzierung in derselben Woche ab. Linker Haken, rechter Haken, schwere Gerade mitten ins Gesicht. Aber es hätte uns auch nicht mehr geholfen, es gab plötzlich keine neuen Börsengänge mehr. Wir taumelten bereits und hatten es nicht einmal gemerkt. Der Neue Markt kollabierte, alle gerieten in Panik. Statt um noch größere Büros, mehr Entwickler und US-Expansion ging es innerhalb kürzester Zeit plötzlich nur noch ums nackte Überleben. Die Kreditlinie war ja bereits maximal ausgeschöpft, an eine Erweiterung war nicht zu denken. Nicht mal eine weitere persönliche Bürgschaft hätte geholfen, Severin und ich waren dafür nicht mehr kreditwürdig genug.

Heutzutage bin ich froh, dass wir damals noch kein Haus oder sonstige Besitztümer hatten. Ich kenne drei Weggefährten, die zu dieser Zeit in der gleichen Situation waren. Die haben ihre Häuser als Sicherheit für einen Überlebenskredit zur Verfügung gestellt und haben dann in sehr kurzer Zeit sowohl ihre Firma als auch ihr Eigenheim verloren. Wie gesagt, Severin und ich hatten aber nicht einmal die Option, uns privat weiter zu verschulden, was wir sogar zweifellos getan hätten. Die ersten Gläubiger wurden ungeduldig. Ich kann mich noch daran erinnern, wie der erste persönlich bei uns vorbeikam und Severin ein unangenehmes Gespräch führen musste. Ein anderer trug höchstpersönlich unsere – oder besser: seine – Computer wütend aus unserem Hosting-Raum. Jetzt merkten natürlich auch die Mitarbeiter, was im Markt im Allgemeinen und bei uns im Besonderen los war. Bisher hatten Severin und ich uns optimistisch geäußert, das war ja auch ein Teil unserer Aufgabe. Aber mit verzögerten Gehaltszahlungen, absolutem Investitionsstopp und zunehmenden Besuchen von Gläubigern und Gerichtsvollziehern konnten wir die aufziehende Katastrophe nicht weiter von unserem Team fernhalten.

Der Tag der Insolvenz

Severin und ich blickten uns eines Tages in die Augen und wussten: Es ist vorbei. Als Erstes würden wir das Team informieren müssen. Wir wussten, dass viele Fragen, Emotionen und Enttäuschungen auf uns warteten. Und zum ersten Mal hatten wir keine Antworten, zumindest keine, die Hoffnung machten. Da war nichts mehr schönzureden.

»Es tut uns sehr leid«, konnten wir nur vor versammelter Mannschaft sagen, »aber heute ist der letzte Tag der twisd AG, ab morgen wird ein Insolvenzverwalter die Geschäfte führen.« Nie im Leben werde ich die Sekunde vergessen, in der diese Botschaft allen ins Bewusstsein sickerte. Die Stille, die Blicke. Verständliches Entsetzen, einige waren einfach traurig, andere haben uns persönlich angegriffen. Manche verließen wortlos den Raum. Das war wirklich ein Horrortag, sehr belastend. Auch ich hatte Panik, durfte es aber nicht zeigen. Und das war erst der erste Teil des Tages. Severin und ich machten eine kurze Pause bei unserem Dönermann um die Ecke. Dass wir Champions hier mal so sitzen würden, so klein, so verzweifelt, so alleine: Das war noch vor wenigen Wochen, wenn nicht vor wenigen Tagen undenkbar gewesen. Aber nach kurzer Stärkung machten wir uns auf den Weg in die Innenstadt zum Amtsgericht, um die Insolvenz unserer über alles geliebten twisd AG anzumelden.

Es gibt eine Sache, auf die ich bis heute stolz bin: Wir haben immer die Gehälter unserer Mitarbeiter bezahlt, mit zwei Ausnahmen: die von Severin und mir. Diese Kapitänsehre unterscheidet für mich den echten Unternehmer vom Manager. Der Kapitän verlässt das sinkende Schiff zuletzt. Ich glaube, diese Tatsache und noch einige andere Punkte führten auch dazu, dass der Insolvenzverwalter uns nicht direkt alle Rechte entzog, sondern uns vertraute und eine sogenannte »Insolvenz in Eigenregie« ermöglichte. Das hieß: Wir behielten die Schlüssel – und am nächsten Morgen saßen Severin und ich wieder im Büro. Wie jeden Tag.

Heute allerdings war es gespenstisch leer. Bis gestern herrschte hier eine lebhafte Atmosphäre der Kreativität und des Aufbruchs. Überall junge Menschen, die an der Zukunft arbeiteten und dachten: Die Welt von morgen gehört uns. Und jetzt: nichts. Die Hochglanz-Kaffeemaschine von Jura stand noch da, und Severin machte uns einen Kaffee mit den exklusiven Bohnen – ein Vorrat, der für uns zwei noch sehr lange halten würde. Mein voll ausgestatteter BMW ging zurück an den Händler, die Leasingraten konnte ich ja auch nicht mehr bezahlen. Ich kaufte mir von meinem persönlich Ersparten einen Ford Ka ohne jedes Extra: 50 PS.

Ich bin sehr dankbar, dass Severin und ich uns auch in dieser unfassbar schweren Zeit nie gestritten haben. Wir haben das zusammen sauber durchgezogen und bis heute freundschaftlichen Kontakt. Er war übrigens danach einige Jahre als Berater im Bereich Internetmarketing aktiv und ist inzwischen in der Energiebranche gelandet. So ganz kann er vom Internet aber doch nicht lassen und ist in seiner Freizeit als Blogger aktiv.

Rückblickend frage ich mich noch manchmal, ob das unschöne Ende der twisd AG vermeidbar gewesen wäre. Sicher beantworten kann ich es nicht, sehe aber, dass wir doch einige entscheidende Fehler gemacht haben. Dass wir so manche Zeichen der Zeit nicht erkannt hatten, habe ich ja schon geschildert. Wesentlich für das Scheitern war aber auch, dass wir uns nicht zu 100 Prozent auf unser Produkt, den kleinen Internetserver, konzentriert haben. Für den hatten wir ja schließlich das Investment erhalten. Nein, wir tanzten noch auf anderen Hochzeiten. Das Projektgeschäft hatten wir weiter betrieben, also das Erstellen der Multimedia-CDs und der Internet-Seiten, denn hierin hatten die Ursprünge unseres gemeinsamen Unternehmens gelegen, und die wollten wir nicht aufgeben. Natürlich brachte dies zwar gute Umsätze, band aber auch viele unserer Ressourcen, die wir besser in die Entwicklung unseres Produkts hätten investieren sollen. Als im Zuge der Krise des Neuen Markts wichtige Kunden von uns in die Insolvenz gingen, sorgte dieser Geschäftszweig sogar für hohe Forderungsausfälle. Geld, das uns dann umso mehr bei der Produktentwicklung fehlte. Hätte ich heute den jungen Frank bei Die Höhle der Löwen vor mir und er würde mir seine twisd AG vorstellen, würde ich ihm einen ganz klaren Rat geben: Konzentriere dich auf eine Sache. Und zwar auf das Produkt, das du effektiv skalieren kannst. Doch hinterher ist man immer klüger.

Die letzte Firewall wird durchbrochen

Ach ja, ich hatte damals noch etwas Wichtiges vergessen, leider. Die Abwicklung der Firma, das Entlassen der Mitarbeiter, die Überlegungen, was als Nächstes kommen würde – das alles hatte mich völlig in Beschlag genommen. Mittlerweile wohnte ich wieder bei meinen Eltern, und ich hatte noch keinen Plan, wie es weitergehen sollte. Aber da gab es noch ein winzig kleines Detail – die »klitzekleine Formalität«. Die Bürgschaft, die ich in dem unbedachten Moment unterschrieben hatte.

An jenem grausamen Morgen war ich unterwegs zu einem Kumpel, der mir eine neue Softwaretechnologie zeigen wollte. Ich war gerade bei ihm angekommen, als mein Telefon klingelte. Meine Mutter war dran, fassungslos, schockiert, verzweifelt. Sie hatte einen Brief der Bank an mich geöffnet, in dem mir recht formlos mitgeteilt wurde, dass ich unverzüglich eine Million Euro zurückzuzahlen habe – oder zumindest schon einmal die acht Prozent Zinsen pro Jahr, also 80.000 Euro, ohne damit einen Cent zu tilgen. 80.000 Euro jährlich alleine an Zinsen! Und – wo sollte ich eine Million hernehmen? Ich lebte doch schon in meinem alten Kinderzimmer, ohne Job, ohne Verdienst! Das war eine Todesbotschaft. Der Brief kam aus einem großen Bankhaus mit Tausenden Sachbearbeitern, da denkt keiner darüber nach, ob dieser Brief das Leben eines Menschen zerstört oder ob ein persönliches Gespräch nicht vielleicht der bessere Weg wäre. Aber ich will mich nicht rausreden, die Schuld lag vor allem bei mir: Ich hatte das Damoklesschwert der persönlichen Bürgschaft einfach zu lange verdrängt. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass da irgendwann etwas kommt. Heute kann ich das auch nicht mehr begreifen, aber die menschliche Psyche ist ein raffiniertes Ding.

Ich fuhr direkt nach Hause, ich musste meinen Eltern Rede und Antwort stehen. Die Realität hatte zugeschlagen – und zwar mitten auf die Zwölf. Jetzt war ich wieder voll da, mit einem Schlag war ich gelandet. Und das war keine harte Landung – das war ein katastrophaler Crash. Der Weg zur Wohnung, das Umdrehen der Schlüssel. Meine Mutter und mein Vater saßen an dem Esstisch, an dem wir fast zwei Jahrzehnte lang gemeinsam unzählige Gespräche geführt hatten. Viele gute, einige schwierige. Aber nie hatte ich Angst, noch nie hatte ich mich geschämt an diesem Tisch. Jetzt hatte ich sogar Panik. Mein Vater fing an: »Mein Junge, was hast du da gemacht? Wir können dir nicht mal helfen, die Zinsen zu begleichen! Wie konntest du das unterschreiben – ohne Rücksprache mit uns?« Meine Eltern hatten 25 Jahre in mich investiert. Sie waren immer für mich da gewesen, vom Fußballverein über die Schule bis zu den Klamotten, Skateboards und Urlauben. Sie hatten für mich gesorgt, alles für mich gezahlt. Ob ich schlechte Noten nach Hause brachte oder mein Fußball in der Scheibe des Nachbarn landete, sie standen immer bedingungslos hinter mir. Ich glaube, sie hätten auch jetzt alles für mich gezahlt, aber das war einfach zu viel. Das konnten sie nicht leisten. Und jetzt?

Meine Freunde starteten gerade ihre Karrieren, verdienten jetzt ihr erstes eigenes Geld, luden auch mal ihre Eltern ein. Auf kleinem Niveau, aber solide, genau die Freunde, die ich vor kurzem noch ausgelacht hatte, weil sie einen ordentlichen Beruf erlernt hatten. Ein monatliches Festgehalt, von dem man damals gerade die Leasingraten meines BMWs hätte bezahlen können? Das war doch was für Spießer und Verlierer, so hatte ich bisher gedacht. Und jetzt hätte ich alles gegeben, um in genau ihrer Position zu sein: einen langsamen, soliden Start hinlegen mit viel Stabilität und Luft nach oben.

Aber ich hatte alles verjuxt. Ich war überheblich und arrogant gewesen, hatte auf Menschen herabgeblickt und das Geld anderer Leute verschwendet. Alles, was ich nach Hause brachte, war ein so gigantischer Haufen an Schulden, dass die Familie nicht einmal die Zinsen bedienen konnte. Dieses eine Zehn-Minuten-Gespräch, diese eine Unterschrift, sie hatten mein Leben zerstört. Und nicht nur meines, sondern auch das meiner Eltern, samt ihrer Hoffnungen in mich und ihrem Stolz auf mich. Meine Mutter bekam einen Nervenzusammenbruch, ich selbst stand kurz davor. Ich schämte mich. Und jetzt? Ich bekam Panik: Kein Studium, ein Leben lang unfassbar hohe Schulden, wie sollte es weitergehen, wovon sollte ich leben, wie sollte ich je eine Freundin bekommen, was wäre im Alter? Ich sah das Leid und die Verzweiflung in den Augen meiner Mutter. Mein Vater war gefasster, aber tief enttäuscht.

Plötzlich waren auch alle »Freunde« weg, die so gerne mit dem coolen Franky unterwegs gewesen waren. Keiner wollte sich mehr mit einem deprimierten Loser befassen, der plötzlich einen alten Ford Ka fuhr. Und der, noch schlimmer, keine Energie mehr hatte, müde, enttäuscht und fertig war. Früher begeisterte ich mit Ideen und Geschichten und füllte den Raum mit meiner Anwesenheit. Mein ganzes Ego hatte auf dem Konzept »Erfolg« beruht, darüber hatte ich mich definiert, daraus zog ich mein Selbstbewusstsein und meine Vitalität. Konsequenterweise war mit dem Scheitern des Konzepts »Erfolg« auch mein Selbstbewusstsein implodiert und das energiereiche Leuchten in meinen Augen erloschen. Ich war ein Nichts, ein Niemand, ein 360-Grad-Versager. Mein Körper konnte nicht mehr und begann, sich zu wehren: Ich bekam mehrfach täglich stoßweises Nasenbluten. Hautausschläge breiteten sich auf meinem Körper aus, und ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich schloss mich in meinem alten Kinderzimmer ein und ließ die Jalousien runter. Ich war am Ende.

Der Deal mit der Bank
Die Lösung: Private Insolvenz?

Nachdem ich sechs Wochen lang so im Dunkeln gelegen hatte, spürte ich zaghaft und langsam wieder Leben in mir. Ich schämte mich, und ich war wütend: auf die Bank, auf die Welt, vor allen Dingen aber auf mich selbst. Aber es hilft nichts, sich depressiv im Kopfkissen zu vergraben. Es hilft nichts, mit den Fäusten auf den Schreibtisch zu trommeln. Es hilft nichts, mit leeren Augen an die Decke zu starren. Was war bloß aus mir geworden? So konnte es nicht bleiben – so wollte ich nicht sein.

Für eines bin ich unendlich dankbar: In diesen schwierigen Wochen und Monaten haben mir meine Eltern niemals das Gefühl gegeben, versagt zu haben. Ich bin nie besonders religiös gewesen – aber das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn passt hier durchaus. Der hatte ebenfalls sein Vermögen verprasst, kam als Schweinehirte zu seinem Vater zurück und wurde dennoch aufgenommen. Auch ich war immer noch der Sohn meiner Eltern, ich war immer noch Teil dieser Familie. Sie hatten diesmal keine Lösung für mich, aber gemeinsam würden wir es irgendwie schaffen. Es hatte einfach nur noch keiner einen Plan. Ich glaube, mein Vater hoffte als bekennender Rheinländer auf den Artikel 3 des »Kölschen Grundgesetzes«: »Et hätt noch emmer joot jejange« (»Es ist noch immer gut gegangen«). Dieses – durch keinerlei Fakten gestützte – Gefühl hat mir geholfen. Ich bilde mir ein, deswegen neben dem Unternehmergen auch das »Stehaufmännchen«-Gen zu haben.

Natürlich fühlte es sich immer noch grausam an, aber als ersten Schritt ließ ich wieder etwas Licht in mein Zimmer. Irgendwann war ich wieder in der Lage, aufzustehen, zu frühstücken und mich sogar mit einem befreundeten Anwalt zu treffen. Er berichtete mir von anderen Personen, die aus ähnlichen Situationen wieder ins Leben zurückgefunden hatten. Ich sprach mit weiteren Anwälten, anderen Unternehmern und auch mit Severin über mögliche Wege, wieder auf die Beine zu kommen. Da ich mit der Bank nur einen einzigen Gläubiger hatte und wir dem Staat keine Sozialabgaben für unsere Mitarbeiter schuldeten, kristallisierte sich eine Lösung heraus, von der ich bis dahin noch nicht gehört hatte: die private Insolvenz. Private Insolvenz, das hieß damals: Man lebt sieben Jahre am Existenzminimum, keinerlei Kreditwürdigkeit, kein Autoleasing, selbst für einen Handyvertrag würden meine Eltern haften müssen. Bei guter Führung könnten es sechs Jahre werden, wobei eine einzige Geschwindigkeitsüberschreitung oder Schwarzfahren alles wieder zunichtemachen könnte. Wenn ich diese sieben Jahre überstehen würde, wäre ich mit Anfang dreißig wieder frei. Vor allen Dingen wieder schuldenfrei. Um diese Möglichkeit auszuloten, musste ich erneut zum Amtsgericht, diesmal allerdings nicht in das Zimmer für Firmen, sondern in das Zimmer daneben – für Privatpersonen. Zunächst aber ließ ich mich nur beraten. Ich war ja noch sehr jung und wollte die Jahre nutzen, um zu studieren, eventuell sogar zu promovieren. Zeit war ja genug. Vielleicht könnte ich dann doch noch eine späte Karriere in einem großen Konzern machen, mir ein kleines Reihenhäuschen leisten und mit etwas Glück sogar noch eine Frau finden. Der Plan stand. Es war nicht das, was ich mir vor wenigen Monaten noch erträumt hatte, aber ich fasste langsam wieder Mut. Vielleicht könnte ich meinen Eltern doch noch zeigen: Euer Sohn ist kein Versager.

Und dann eröffnete mir dieser Plan eine weitere Option. Ein anderer Anwalt hatte mir berichtet, dass man mit der Bank alternativ zur privaten Insolvenz einen »Vergleich« schließen könne: Sie verzichten auf den größten Teil ihrer Forderungen, da sie im Fall der Privatinsolvenz gar nichts bekommen würden, der Rest wird nach und nach abbezahlt. So wären meine Schulden überschaubar, und ich könnte die Insolvenz sogar vermeiden. Natürlich nur, wenn sich die Bank darauf einließe. Das hörte sich verrückt an. Aber es war einen Versuch wert. Ich wollte alles versuchen, bevor ich sieben Lebensjahre abschrieb. Ich ging also zur Bank und spielte hohes Risiko: »Wenn ihr das gesamte Geld und die Zinsen von mir haben wollt, bekommt ihr gar nichts, weil ich dann Privatinsolvenz anmelden werde und studieren gehe. Nach sechs oder sieben Jahren bin ich wieder schuldenfrei, habe ein abgeschlossenes Studium und ihr null Komma null Euro.« Das Problem war, dass die Zeit gegen mich lief. Jeden Tag, an dem ich nicht zum Amtsgericht ging, starteten die sieben Jahre nicht. Wenn ich aber jetzt schnell private Insolvenz angemeldet hätte, wäre die Möglichkeit eines Deals mit der Bank sofort weg gewesen. Ich setzte mir eine Deadline von drei Monaten. Nach vielen Treffen und schmerzhaftem Warten bot mir die Bank eine Woche vor dem Verstreichen dieser Frist folgenden Vergleich an: Ich sollte 60.000 Euro zahlen, zinsfrei in 120 Monatsraten à 500 Euro. Also zehn Jahre lang jeden Monat 500 Euro. Das konnte ich als Programmierer verdienen. Der Deal wurde gemacht – und am Ende war es sogar für die Bank ein annehmbares Geschäft: 60.000 Euro sind besser als gar nichts.

Und so startete ich mit 26 Jahren in mein zweites Leben. In wenigen Monaten war ich vom arroganten Multimillionär auf Pump zum bodenständigen Softwareentwickler mit Ford Ka geworden. Finanziell war das ein großer Verlust, charakterlich aber der vielleicht größte Gewinn meines Lebens. Wer so hart aufschlägt wie ich, der ist für alle Zeiten geerdet. Dennoch: Wenn jemand aus dieser Geschichte etwas lernen will, dann das: Kopiere nicht meinen Lebenslauf.

Nun hieß es also: Neustart! Frank 2.0 musste zwar monatlich 500 Euro bezahlen, aber das traute ich mir zu. Das war nämlich nicht der unbezwingbare Berg von einer Million Euro Schulden, sondern eine langwierige, harte Forderung, aber machbar. Und Arbeit hatte ich ja nie gescheut. Was tat ich also mit diesem Ticket für mein neues Leben? Statt mir eine Festanstellung zu suchen oder einen Job mit sicherer Perspektive und soliden Aufstiegsmöglichkeiten, entwickelte ich einfach ein neues Produkt. Eigentlich nicht gut nach all den Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Aber ich kann einfach nicht anders, in mir brennt dieses Feuer. Was mir damals vielleicht fehlte, war das Gespür, Risiken abzuschätzen. Ab und zu, aber viel seltener, fehlt mir das auch heute noch. Manche sehen Hindernisse und Wände, ich sehe neue Möglichkeiten. Und deshalb laufe ich immer wieder los. Manchmal kriege ich einen vor den Bug, manchmal erreiche ich aber auch Ziele, die viele für unerreichbar gehalten haben.

Was ich durchlebt habe, findet selten ein Happy End. In komprimierter Form habe ich erfahren, welchen Schaden es anrichten kann, zu viel Geld in zu kurzer Zeit und zu jungem Alter in die Hände zu bekommen. Wie es ist, im Rausch große Teams aufzubauen, bejubelt zu werden und sich selbst zu überschätzen – und schließlich nach freiem Fall aus dieser Höhe auf nacktem Beton aufzuschlagen. Was ich an Niederlagen erlebt habe, gönne ich meinem ärgsten Feind nicht.

Die Lehre daraus: Es gibt keinen einfachen Weg zum schnellen Erfolg – aber sicher effektivere als meinen. Und wenn ich aus dieser Geschichte etwas gelernt habe, dann das: Frank 2.0 kam von ganz tief unten und wusste bei jedem Meter, den er aufstieg, wie unfassbar schnell es jeden Tag wieder nach unten gehen kann.

Es ging mir nun zwar noch nicht wirklich gut, aber ich hatte wieder eine Perspektive und die Hoffnung, doch noch ein normales Leben führen zu dürfen.

Übrigens, die monatlichen 500 Euro habe ich tatsächlich zehn Jahre lang abbezahlt, auch wenn ich die Summe später leicht auf einen Schlag hätte tilgen können. Doch ich wollte, dass mich die monatliche Überweisung an diese schwere Zeit in meinem Leben erinnert und mahnt, die Fehler aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

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