Buch lesen: «Frank Thelen – Die Autobiografie», Seite 3

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Studium – nur eine Zwischenstation für mich

Bonn und Sankt Augustin, Mitte der 1990er

Nach dem sehr erfolgreichen Abschluss meines Fachabiturs – wer hätte das je gedacht? – begann ich – zur großen Freude meiner Eltern – ein Studium der »Angewandten Informatik« an der Hochschule Bonn-Rhein Sieg. Durch meine Tätigkeit bei Chips at Work konnte ich recht gut programmieren und wusste, wie Betriebssysteme und Netzwerke funktionieren. Bei Windows und Linux machte mir so schnell keiner was vor. Jetzt sollte ich also studieren und Diplom-Informatiker mit goldener Zukunft werden. Das Problem: Die Professoren hatten wirklich wenig Ahnung von Programmierung, Betriebssystemen und Netzwerken. Auf dem Gymnasium hätte ich noch gesagt, dass es an mir lag, dass ich einfach nicht gemacht sei für das Schulsystem, das rote Lateinbuch und den Frontalunterricht. An der FH aber war ich bereits kompetent genug, um beurteilen zu können, dass der neue Studiengang »Angewandte Informatik« zwar ganz gut aufgebaut war, dass es den Lehrkräften aber ganz einfach an Wissen und Erfahrung mangelte. Gezaubert wurde außerhalb der Uni, bei Chips at Work. Hier konnten und wussten fast alle mehr als ich. Jeder wollte den anderen immer zeigen, dass er die nächste große Idee hatte. Jeder wollte einen Schritt voraus sein, die neue Technologie vor den anderen beherrschen. Diese Dynamik konnten die FH und vor allem deren Professoren nicht bieten.

Diese Gefahr besteht übrigens auch heute, und zwar mehr denn je: Wissen wird privatisiert. Wer sich heute auskennt mit künstlicher Intelligenz, Blockchain und Big Data, der geht nicht mehr an eine Uni. Warum den Umweg über Seminare, Promotion und Lehraufträge machen, wenn man für ein Vielfaches des Geldes, ohne akademische Ochsentour und Politik, bei den Großen anfangen kann? In Amerika sind das Facebook, Microsoft, Amazon, Google oder Apple – in China Tencent, Alibaba oder Baidu. Die Geschwindigkeit der Wissenszunahme ist so groß geworden, dass der Antrag für einen Sonderforschungsbereich (»SFB«) an der Uni schon in dem Moment veraltet ist, in dem er eingereicht wird. Und dann dauert es noch ein Jahr, bis er, wenn überhaupt, genehmigt wird – und ein weiteres, bis der SFB seine Arbeit aufnimmt. Was heute ein riesiges Problem ist, das fühlte ich im kleinen Rahmen schon damals: Ich brach mein Studium ab und gründete meine erste offizielle Firma.

Ich war erwachsen.


Meine ersten Schritte als Unternehmer
Büro zu Hause

Bonn, ab 1993

Mit verschultem Lernen war ich fertig, ein für alle Mal. Das Gymnasium hatte mich unglücklich gemacht, die Realschule unzufrieden, die Fachhochschule ungeduldig. Ich wollte endlich raus und mein eigenes Ding machen. Mit Hilfe meiner Programmierkenntnisse, der PC-Installationen und meinen eigenen CDs hatte ich gemerkt: Da geht was – und ich hatte auch schon eine Idee, was das sein könnte.

Ich war 18 Jahre alt, volljährig und voller Motivation, hatte aber kaum einen Pfennig in der Tasche. Meine Eltern hatten mir mittlerweile eine kleine Zweizimmerwohnung zur Verfügung gestellt – und mit 4.000 DM Unterstützung von meinem Opa kaufte ich einen modernen PC und eine Delphi-Lizenz, mit der man programmieren konnte. Und weil dann noch ein wenig Geld übrig war, gönnte ich mir bei IKEA einen Schreibtischstuhl auf Rollen – like a boss!

Meinen Schreibtisch stellte ich in die Mitte der Wohnung und fühlte mich wie Bill Gates und Steve Jobs zusammen. Meine Firma hatte sogar einen eigenen Namen, sie hieß Softer Solutions. Ich fand das damals mit meinen mangelhaften Englischkenntnissen einfach cool. Heutzutage frage ich mich, was dieser Name eigentlich bedeuten sollte.

Aber glücklicherweise war die Geschäftsidee besser als der Firmenname: Damals klebte gefühlt auf jeder Zeitschrift eine Multimedia-CD: auf der TV Movie, auf der Computerbild, auf dem Focus, überall. Der De-facto-Standard für die Produktion dieser Multimedia-Inhalte war der Macromedia Director. Er wurde in allen Agenturen eingesetzt, die Software hatte viele Funktionen, und es gab viel Literatur darüber. Die mit Macromedia Director produzierten CDs hatten aber sehr lange Ladezeiten. Vielleicht erinnern sich einige noch: Wenn man so eine CD ins Laufwerk legte, sirrte und surrte es erst einmal ewig, bevor man überhaupt etwas auf dem Bildschirm sah, wenn sich der Computer nicht irgendwann vorher komplett aufhängte. Das war für den Käufer der Zeitschrift oft unbefriedigend und frustrierend. Heute wäre so etwas undenkbar – aber damals nahm man das offensichtlich in Kauf, man kannte es ja auch nicht anders.

Dabei lag – zumindest für mich – die Lösung für dieses Problem auf der Hand: Diese CDs bestanden unter anderem aus Hunderten kleiner Bilddateien, die der Macromedia Director einzeln von der CD lud. Daher das Sirren und Surren. Der Rechner fuhr für jede Datei einzeln an die Stelle der CD, wo sie gespeichert war, lud sie, fuhr dann an die nächste Stelle, um die nächste Datei zu laden, und so weiter. Es funktionierte wirklich noch wie ein Schallplatten-Arm, nur in kleiner und schneller. Meine Idee war einfach, die 100 Bilder in einer einzigen Datei zu speichern. Der Rechner lädt nur diese eine Datei von der CD, und erst in seinem Speicher wird die eine Datei dann in die 100 einzelnen Bilddateien zerschnitten. Klingt jetzt nicht besonders revolutionär – aber oft sind die einfachsten Ideen ja die besten: Meine CDs luden zehnmal, ach was, fünfzigmal schneller. Zusätzlich entwickelte ich Buttons, die optisch pulsierten, schnelle Foto-Animationen, einen besonders hochwertigen Video-Player und viele weitere Funktionen, die der Wettbewerb nicht beherrschte.

Das blieb nicht unbemerkt, und mehrere Agenturen beauftragten mich, für ihre großen Kunden Multimedia-CDs umzusetzen. Meine Technologie erlaubte ihnen, gegen andere Agenturen im Pitch um die großen Budgets zu gewinnen. Meine CDs begeisterten mit schnelleren Ladezeiten, schöneren Animationen und neuen Funktionen, die andere nicht anbieten konnten. So durfte ich recht schnell für Auftraggeber wie Agfa, 1&1, den Deutschen Bundestag und sogar für den Anbieter einer Potenz-Spritze arbeiten – ja, ja, lacht jetzt ruhig, aber ich war jung und brauchte das Geld. Der kritische Punkt war immer die Lieferung des »Gold Masters«, den ich von meiner kleinen Wohnung in Bonn in die große weite Welt liefern musste.

Das Brennen von CDs war in der Zwischenzeit recht einfach und stabil geworden. Aber der Gold Master wurde millionenfach auf CDs gepresst. Jetzt lag die Herausforderung in der fehlerfreien Software. Wenn die Software auf dem von mir gelieferten Master einen kritischen Fehler gehabt hätte, wäre ein katastrophaler finanzieller Schaden entstanden. Du kannst dir vorstellen, wie ich in meinem Zimmerchen saß, mit spitzen Fingern den Gold Master aus dem Brenner nahm und ihn sorgfältig in ein Jewel Case packte, während ich zum Software-Gott betete, dass beim Kunden alles einwandfrei funktionieren würde. Heute kann man alles online updaten, die Entwicklungswerkzeuge warnen den Programmierer vor möglichen Problemen, und es muss nicht alles in vier Megabyte RAM passen. Aber damals war es rückblickend wirklich verrückt: Ein kritisches Problem – und Millionen von CDs, die ja auf den Zeitschriften klebten, wären unbrauchbar gewesen. Es hätte keine Chance gegeben, dies nachträglich zu beheben. Ich habe damals unfassbar viel falsch gemacht, aber auch verdammt viel richtig und vor allem viel gelernt. Die neuen Möglichkeiten waren faszinierend, und ich hatte jeden Tag neue Ideen. Der Arbeitstag begann um elf Uhr morgens und endete zwischen ein Uhr und drei Uhr nachts. Vor einer Deadline wurde es auch oftmals sechs Uhr. Dann holte ich ab und zu frische Brötchen und frühstückte mit meinem Vater, der immer sehr früh ins Büro fuhr.

Multimedia-CDs waren ein großer Hit, und das Geschäft lief. Es gab bloß ein Problem: Ich war ein sehr schlechter Verkäufer meiner eigenen Leistung. Oft bot ich mein Produkt weit unter Wert an – ich war so euphorisch, wenn ein Kunde Interesse zeigte, dass ich den Auftrag keinesfalls am Preis scheitern lassen wollte. Oder ich unterschätzte den Arbeitsaufwand durch meine Euphorie so sehr, dass ich auf einen lächerlichen Stundenlohn kam. Als Putzkraft in einem der zahlreichen Bonner Ministerien hätte ich deutlich mehr verdient. Oft reichte es gerade so fürs Essen, den MSN-Zugang und die Telefonrechnung. Wenn es mal richtig gut lief, blieb Geld für Software-Updates, Hardware-Updates oder neue Software-Bücher übrig. Zum Glück zahlten meine Eltern die Miete für meine Wohnung, und meine Mutter fühlte sich noch für meine Wäsche verantwortlich. Und wenn ich abends quasi meine Mittagspause bei ihr machte, hatte sie immer etwas Leckeres zu essen für mich. Aber das sollte ja auch nicht ewig so weitergehen.

Create Media

Bonn, späte 1990er Jahre

Ich hielt mich mehr schlecht als recht über Wasser, was eigentlich nicht zu verstehen war, denn das Geschäft brummte, ich arbeitete 60 bis 80 Stunden pro Woche, und meine Produkte kamen gut an. Nach circa zwei Jahren traf ich Severin Tatarczyk, der für Anwaltskanzleien und Arztpraxen die damals aufkommenden lokalen Netzwerke installierte und für Mitarbeiter Office-Schulungen anbot. Severin war ein deutlich besserer Geschäftsmann als ich und kannte, im Gegensatz zu mir, viele wichtige Bonner Geschäftsleute. Das ist aber auch kein Wunder, wenn man wie ich tagelang wie ein Rhesusäffchen im Labor nur in seiner Büro-Wohnung hockt und wie besessen vor sich hin programmiert! Ich konnte viel von Severin lernen. Er sah, glaube ich, das Potenzial in meinem Softwaretalent. Und so vollzog ich meinen ersten Merger: Seine proPC GmbH und meine Softer Solutions GmbH wurden zur Create Media GmbH & Co KG und wir 50/50-Partner. Ab jetzt wurde es ernst, da wir ganz offiziell ein Ein-Zimmer-Büro in Bonn bezogen. Mit eigenem Schild an der Tür – das ich heute noch als Erinnerungsstück habe. Ab jetzt mussten wir also jeden Monat Miete zahlen, laufende Kosten, die gedeckt werden wollten! Aber ich erinnere mich trotzdem noch sehr gerne und sehr genau an dieses Wahnsinnsgefühl: ein eigenes Büro, ein eigener Geschäftsbriefkasten mit eigener Adresse. Krass. Severin und ich ergänzten uns wirklich gut. Er war der Geschäftsmann und Netzwerker, und ich konnte mich aufs Programmieren konzentrieren. Unsere Create Media wuchs: Durch die Kombination von Severins Erfahrung und Netzwerk mit meinem Technik- und Designverständnis gewannen wir sehr schnell viele Kunden. Plötzlich hatten wir zehn Mitarbeiter, um alle Aufträge zu erledigen, und fünf Räume. Kunden besuchten uns – jetzt waren wir eine richtige Firma. Und es gab ein neues Geschäftsfeld: Internetseiten!

Die Älteren werden sich erinnern: Fiepfiep, blinkblink – ein 14,4-K-Modem! Man musste jede Minute Online-Zeit bezahlen, die Websites bauten sich Zeile für Zeile langsam auf, der Rechner fuhr heiß, bis der Lüfter ansprang und ein lautes Gebläse das ganze Ding wieder kühlte, aber: Man war im World Wide Web. Das war neu, das war aufregend, und es gab viele Unternehmen, die jetzt eine eigene Website haben wollten, weil alle davon redeten und sie vielleicht das Potenzial witterten, aber keine Ahnung hatten, wie man das anstellen musste. Wir hingegen wussten das und waren eine der ersten Agenturen, die das komplette Paket anbieten konnten – und wir waren für damalige Verhältnisse echt gut.

Ich entwickelte interaktive Seiten, zum Beispiel eines der ersten Content-Management-Systeme mit dem Namen Loom. Oder mit Photoweb eine der ersten Fotodatenbanken im Netz. Das war insofern abenteuerlich, als damals noch kaum jemand seine Fotos digitalisierte, geschweige denn in ausreichender Auflösung zu unserem Server übertragen konnte. Daher wurde unser Photoweb von einem Praktikanten via CD-Lieferung in unserem Keller manuell aktualisiert. Hallo.de war eine Flirt-Community, die ich an den Start brachte. Wahnsinn, wenn ich mir überlege, dass das Jahre vor Facebook war. Was hätte aus mir werden können…! Severin und ich wollten aber jetzt noch größer denken, wir eröffneten Büros in Berlin und München und holten einen dritten Partner an Bord: Sandor Rozsa, einen herausragenden Designer. Zu dritt hatten wir die wichtigen Themen unter Kontrolle und waren auf dem Weg, die Welt zu erobern. Unsere Zeit war gekommen!

Twisd AG

Bonn, ab 1997

Bis jetzt hatten wir nur Produkte für andere entwickelt, also Auftragsarbeiten. Damit konnten wir unser wachsendes Team und die Büros finanzieren. Aber bald wollten wir endlich selbst das große Geld verdienen. Und das geht natürlich nur mit einem eigenen Produkt, das millionenfach verkauft wird. Jetzt wird es kurz ein wenig technisch, aber ich versuche, es verständlich zu halten: Unsere Idee war eine Kombination aus allem, was wir bisher gelernt hatten. Für die Experten: Lokale Netzwerke (LAN, Local Area Network), Web-Applikationen und Design.

Wir entwickelten eine kleine Box, die lokale Netzwerke mit dem Internet verband und alles drum herum regelte: LIC, das stand für LAN Internet Connect.


Damals musste man noch teure Server kaufen

Heutzutage ist das Standard und auf einem kleinen Chip zu haben. Damals war das spektakulär: Jedes kleine Büro bis zum Mittelständler konnte seinen Internetzugang selber administrieren. Es gab keine komplizierten Zugangsschranken, und man brauchte keine Techniker mehr! Und das alles mit einer attraktiven und leicht verständlichen Benutzeroberfläche, hinter der sich eine ziemlich komplexe Software versteckte. Die Idee und Umsetzung war für damalige Verhältnisse genial, das musst du mir jetzt einfach mal glauben. Auch heute bin ich noch überzeugt davon, dass wir ein sehr gutes Produkt hatten. Aber um die Welt zu revolutionieren, braucht man Geld. Wir zogen mit unserem LIC los – und wer ein bisschen Verständnis für Computer und Netzwerke mitbrachte, war davon auch sehr schnell begeistert. Ein Bonner Kapitalgeber stellte uns 1,4 Millionen DM Venture Capital bereit, um das Produkt zur Marktreife zu bringen.

Hurra! An der Börse war gerade die Zeit des Neuen Markts. Firmen wie Intershop, EM.TV oder Infineon elektrisierten die Anleger. Und die Idee war brillant: Man wollte junge Unternehmer an die Börse bringen, um ihnen die Chance zu geben, am Kapitalmarkt Investoren von sich zu überzeugen und so zu wachsen. Pro Woche gab es mehrere Börsengänge, und es war keine Ausnahme, dass eine Aktie am ersten Handelstag um 100 Prozent nach oben schoss. Wer zum Beispiel im Oktober 1997 für 3.500 DM EM.TV-Aktien gekauft hatte und behielt, besaß wenige Monate später auf dem Papier Aktien im Wert von 1,2 Millionen DM. Es war ein regelrechter Hype, keiner wollte den Zug verpassen. Deshalb wurde auch in Aktien investiert, deren Unternehmen noch kein funktionierendes Produkt hatten und schon gar nicht erklären konnten, wie sie bald sehr viel Geld verdienen würden. Das war alles eine große Wette auf die Zukunft. Ich war damals in der Firma nicht CEO, sondern CTO, also für die technischen Produkte verantwortlich, das Geschäft machten andere. Aber es sollte auch für uns an die Börse gehen – und ich hatte nichts dagegen! Junge Unternehmer wie Lars Windhorst, Stephan Schambach von Intershop oder die Haffa-Brüder von EM.TV ließen es krachen – und mir gefiel der Gedanke, irgendwie und irgendwann dazuzugehören. Mit dem Geld vom Kapitalgeber sollte sowohl der Börsengang vorbereitet als auch das Produkt entwickelt werden. Mit dem Börsengang würden dann weitere Millionen eingenommen werden, das war der Plan. Es war eine verrückte Zeit!

Software-Architektur und Technologie waren meine Leidenschaft, und jetzt konnte ich eine komfortable Anzahl von Entwicklern einstellen und mit ihnen Tag und Nacht an meinem Produkt arbeiten. Wir hatten die schnellsten und teuersten PCs und die besten Server. Wir saßen in fancy Büros mit der feinsten Kaffeemaschine und dazu abgestimmten italienischen Bohnen. Wir tranken Cola light ausschließlich aus den kleinen Flaschen. Klar, die großen waren günstiger, aber wen juckte das schon. Keiner fragte nach Umsätzen – und so etwas wie Gewinne erschien sogar uncool. Es ging um große Storys, um Technologie, um Marktführerschaft. »Fantasie« war das Wort der Stunde. Da ist »Fantasie« drin. Hat das Produkt »Fantasie«? Hat die Aktie »Fantasie«? Dann war sie heiß. Unser Produkt hatte Fantasie, aber Hallo.

Man las von irren Parties, von Superyachten auf den Malediven und Privatjets auf der eigenen Insel in der Karibik. Es gab einen vorbestraften Hacker namens Kim Schmitz – aka Kim Dotcom oder Kimble – der angefangen hatte wie ich, nämlich mit dem Knacken von Computerspielen. Mittlerweile hatte er sich einen zweifelhaften Ruf als »Berater« erworben, indem er zunächst die Firewalls großer Firmen knackte und sich im Anschluss von diesen Firmen einen hochdotierten Vertrag geben ließ. Nach eigenen Angaben hatte er 500 Millionen Euro verdient, was ihm offenbar ermöglichte, sich mit leicht bekleideten Mädchen im Whirlpool ablichten zu lassen, Helikopter zu chartern und beim Großen Preis von Monaco eine Loge für sich zu buchen. Später waren ihm erst die Staatsanwälte und dann sogar das FBI auf den Fersen. Anscheinend war nicht jede Mark legal verdient. Merkwürdiger Typ – aber es waren ja auch merkwürdige Zeiten.

Ganz so groß wurde bei uns natürlich nicht gefeiert. Aber die Bergfeste der Telekom auf der Cebit waren legendär. Wir durften als enger Partner und Referenzkunde mit der ganzen Standbelegschaft mitfeiern. Mit einem anderen Partner fuhren wir mit dem Taxi aus der niedersächsischen Provinz auf ein paar Drinks nach Hamburg und wurden anschließend wieder, ebenfalls per Taxi, zurück ins Hotel nach Hannover gebracht. Schließlich musste man – trotz allem – am nächsten Morgen wieder fit für die nächsten großen Deals und Präsentationen auf der Messe sein. Immerhin träumten wir alle vom Neuen Markt.

Die Investitionen dieser Firmen wurden immer größer und – rückblickend gesehen – verrückter: Die schon erwähnte EM.TV hatte zum Beispiel mit der Vermarktung der Rechte an Comicserien fürs Kinderfernsehen begonnen, Alfred Jodocus Kwak oder Tabaluga. Jetzt kaufte sie für 1,3 Milliarden DM die Jim Henson Company, also die Sesamstraße und die Muppets. Im März 2000 erwarb EM.TV sogar 50 Prozent der Rechte an der Formel 1. Meine ersten Gründer-Kumpels wurden durch den Neuen Markt über Nacht Millionäre – und auch sonst gab es keine Grenzen. Ich ging zu BMW und leaste den krassesten 3er. Sechs Zylinder mit 300 PS, feinste Ledersitze, sogar mit Fernseher. Das klingt aus heutiger Sicht auch für mich völlig irre, aber damals war das normal. Natürlich war das auch mein eigener Fehler, aber ich war 25 und unerfahren, und plötzlich war alles megacool. Alle anderen machten es auch so, und niemand bremste, auch nicht unser Aufsichtsrat, von dem ich im Zweifelsfall erwartet hätte, dass er eingreift und uns empfiehlt, das Geld nur für die Produktentwicklung und den Vertrieb auszugeben. Aber im Gegenteil, auch unser Aufsichtsrat war vom Geist der Zeit erfasst und gab die Budgets frei für die luxuriösen Firmenwagen, Büros und vieles mehr. Wichtig war damals nur, wann wir endlich unseren IPO machen würden. Auch bei den anderen Technologiefirmen, damals nannte man sie ja noch nicht Startups, wurde das Geld mit vollen Händen ausgegeben. Jede Woche eröffnete ein neues, ausgefalleneres Unternehmen mit einer Idee, die »Fantasie« versprach. Ich arbeitete weiterhin Tag und Nacht, es war großartig, mit hervorragenden Technikern im Grenzbereich zu entwickeln. Da wir wirklich viele neue Funktionen lieferten und kein Wettbewerber mithalten konnte, glaubte ich, all das viele Geld auch tatsächlich verdient zu haben. Leider brachte das eine Begleiterscheinung mit sich, die ich heute sehr bereue. Ich mutierte über den virtuellen Erfolg zum eingebildeten Idioten. Es geht um mein damaliges Ich, und für das traf dieser Begriff leider zu. Ich weiß nicht, ob es die ersten Artikel in der Zeitung mit dem Titel »Der Wunderjunge« waren oder mein voll ausgestatteter BMW 330i, den sich meine Eltern auch nach 30 Jahren Arbeit nicht leisten konnten, oder das hippe Chefbüro. Aber irgendwas hat mich überschnappen und abheben lassen. Ich hätte mich damals außerhalb meiner Technikwelt selbst nicht treffen wollen. Meine Eltern sind sehr ehrliche und ruhige, geerdete Menschen, und sie haben dies eigentlich auch an mich weitergegeben. Aber wenn ich jetzt nach Hause kam, erzählte ich von meiner großen neuen Welt und davon, wie klein, langsam, uncool und dumm alle anderen waren. Ich fühlte mich wie der König der neuen Welt. Alle, die nicht dabei waren, verschwendeten in meinen Augen ihr Leben. Es gibt ein Foto, auf dem wir drei Vorstände der twisd AG vor unserem LIC-Produkt stehen, Severin, Sandor und ich. Die Daumen in die Höhe gestreckt. Drei junge Männer mit einem etwas fragwürdigen Style, aber grenzenlosem Optimismus. Leider aber auch mit einer Prise Übermut und Überheblichkeit.

Ich habe diesen Optimismus und die Liebe für Technik behalten, aber hoffentlich die Überheblichkeit gegen Demut getauscht. Denn diese Zeit hielt noch eine Lektion für mich bereit, die ich bis heute nicht vergessen habe. Die ersten 1,4 Millionen DM Wagniskapital waren schneller aufgebraucht als gedacht – kein Wunder. Auch wenn es mir damals so erschien, war das Kapital dann doch nicht unendlich. Wir hatten davon aber auch ein wirklich gutes Produkt entwickelt, ich bin bis heute stolz auf unsere Technologie und das Design. Allerdings hatten wir einfach vergessen, die Boxen auch zu verkaufen. Natürlich führten wir Gespräche mit potenziellen Großabnehmern, wie zum Beispiel der Telekom oder IBM. Aber die dauerten länger als erwartet. Und ging es nicht um die Wette auf die Zukunft statt um die Umsätze im Hier und Jetzt? Ehrlich gesagt: Wir hatten nicht einmal ernsthaft geprüft, wie viele unserer genialen Boxen wir auf welchen Wegen überhaupt verkaufen könnten. In bestimmten Bereichen des Geschäftslebens waren wir einfach himmelschreiend naiv und unerfahren. Aber darauf achtete keiner: der Aufsichtsrat nicht, die Banken nicht und wir erst recht nicht. Der Börsengang stand ja kurz bevor und würde uns alle zu Millionären machen. Alles würde bald noch viel glorreicher werden. Und als das Kapital weg war, gab uns unsere Bank einfach eine Kreditlinie über zwei Millionen DM. Die Party konnte weitergehen!

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