Buch lesen: «Krumholz»

Schriftart:

FLAVIO STEIMANN

KRUMHOLZ

ROMAN


Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2020

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2021

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

1. Auflage

E-Book-ISBN 978-3-96054-248-3

AUCH DAS KIND werde nicht lange leben.

Widerspan hat es nur leise gesagt, als sollte man es nicht hören; den Schlauch des Stethoskops hat er verlegen um seine linke Hand geschlungen und legt sie – er muss sich dazu recken – dem Klausert ungelenk auf die breite Schulter. Der große Bauer aber, eine Eiche von Mann, ist nur noch ein Schatten und wie betäubt. Er steht, eine halbe Stunde bald, versteinert am hölzernen Pfosten vor der Schindelwand und stiert. Das Mostglas, das ihm der Dorfarzt in der verlassenen Küche randvoll mit Schnaps gefüllt hat, wirft unscharf seinen streifigen Schatten über den hell gescheuerten Tisch. Klausert hat es nicht angerührt.

Durch den Türspalt fällt hart ein schmaler Lichtkeil auf den Sandsteinboden vor dem Hauseingang. Widerspan trägt keine Socken, die bloßen Füße stecken im grauen Filz der Galoschen, das Nachthemd hat er in einem Wulst in den Hosenbund gestopft, unter dem Mantel ist er ohne Weste, eine Uhr für den Puls hat er ohnehin nicht mehr gebraucht – es ist für alles zu spät gewesen. Er solle jetzt trinken, das werde ihm helfen, meint endlich der Arzt und weiß nicht, wohin mit seinem Blick – und nachher der Frau, wo man es nicht sehen könne, ein paar Locken vom Kopfe schneiden für die Sterbezettel; er müsse sich jetzt aufmachen zum Pfarrhaus, einen Geistlichen wecken für die Nottaufe, es eile. Die Totenscheine bringe er, wenn der Sarger zum Messen komme. Bei Tag.

Der Bauer zittert, seine vertrockneten Lippen beben, und er schweigt. Widerspan klopft ihm drei Mal zögerlich auf die Schulter, nimmt dann die Hand vom verschwitzten Hemd, dessen nässende Kälte er schon lange am Daumen gespürt hat, streift die brüchig rauen Schlauchschlingen von den Fingern und lässt ohne hinzusehen das Instrument in die offene Bügeltasche zu Steißhaken und Kalottenscheren fallen. Dann drückt er energisch die Schnappverschlüsse zu, geht in schnellen Schritten den Treppenaufgang hinunter und schnallt die Notfallausrüstung mit einem Lederriemen hastig auf dem Träger seines angelehnten Fahrrads fest. Eilig schiebt er das Gefährt über den gestampften Vorplatz bis zur Linde, wo noch ein wenig Licht hinfällt, und dann zum Weg.

Er hat den linken Fuß schon auf der Pedale und stößt mit dem rechten ab, um sich auf den schwarzen Condor zu schwingen, als er vermeint, einen Schrei zu hören, lang und heiser wie von einem waidwunden Tier. Aber Widerspan zieht den Kopf zwischen die Schultern, fährt los und schaut nicht mehr zurück, die Krimmermütze tief ins Gesicht geschoben.

Der Schotterweg hinauf zur Kuppe verläuft in einer steilen Kehre. Widerspan ist aus dem Sattel gegangen, keuchend, die Lenkstange krampfhaft umfasst, nimmt er die Steigung im Wiegetritt. Wenn das Hinterrad im lockeren Belag nicht mehr greift, schleudert Splitt bis ins Wiesland hinaus.

Es dauert, bis er endlich die Anhöhe erreicht. Sein heißer Atem vernebelt im kühlen Zug.

Es muss wohl schon gegen vier Uhr gehen, die Nacht ist kalt. Der späte Maifrost, der über das weite Moorstück gezogen ist, hat den Torf versilbert, gegen das Widerlicht, das im Osten kaum merkbar den Himmel hellt, zeichnet sich über den Weihern wie ein aufgereckter Tellerdolch schwarz der Glockenturm des Klosters ab. Dünn belaubte Bäume, die den Blust verloren haben, stehen als dunkle Skelette am Weg.

Dann fällt die Straße ein Stück weit ins Tal, die Abfahrt kommt Widerspan gelegen, der noch junge Arzt braucht Luft um den Kopf und Wind.

Die Entscheidung darüber, wessen Leben man aufgeben solle, hat ihn mitgenommen. Wohl schon das elfte Kind dürfte es sein in diesem Jahr, das, noch nicht auf der Welt oder nur für wenige Stunden, lebensunfähig abgegangen ist, zumeist nach einem Partus violentus, nicht wenige Male aber auch beim praematurus, beim letzten war gar ein caesareus schuld mit anschließender Embolie.

Auch wenn er in dieser Nacht alles gegeben hat, ist es am Ende der Beckenenge wegen zu einem unschönen Partus post mortem gekommen. Das Kind war von der Kreißenden, die in jungen Jahren etwas rachitisch gewesen war, längst übertragen worden, die Möglichkeit eines lebensrettenden Accouchement forcé nach Fournier darum schon vertan, und hätte er nicht der Toten die Schoßbeine mit der gezahnten Kette durchgesägt und ihr das enge Becken geweitet, hätte er die Frucht nicht mehr lebend herausgebracht. Der Gebärmutterhals war schon gerissen und ein Arm darin verfangen.

Der Prügelweg, der am Bach entlang zum Dorf führt, ist holprig. Trotz des rauschenden Fahrtwinds hört er, wie das Besteck im ungefütterten Behälter aus Sattelleder metallisch gegeneinanderschlägt.

Bei den drei Eichen über der Kiesgrube hält er an und zieht den Riemen um seine Tasche fester. Dann atmet er die kalte Luft und schaut in die Weite.

Als er die Nabelschnur getastet hat, war da noch ein feiner Puls, eine Lebendgeburt darum nicht von vornherein ausgeschlossen. Hätte man die Mutter retten und dafür das Kind opfern wollen oder wäre mit einer sicheren Totgeburt zu rechnen gewesen, hätte er gröber verfahren müssen – die Enthirnung mittels des scharfen Hakens und ein forcierter Abort sind ihm in dieser Nacht erspart geblieben. Das kleinherzige Kind mit seiner schwachen Lunge aber, da hat Widerspan keine Zweifel, wird, noch ehe es das Licht des aufkommenden Tages erblickt hat, seiner Mutter folgen. Er hat noch keines gesehen, das mit einer solchen Zyanose überlebt hat.

In der Kammer liegt die junge Bauersfrau im Ehebett auf einer ausgelegten Gummischürze, zwischen den gespreizten Beinen in einer Lache der blutige Mutterkuchen, unter den Knien ein Haufen von schweren Barchenttüchern, streifig vom Auswringen und wie zu armdicken Stricken gedreht.

Die Dorfhebamme, die mit der regelwidrigen Geburt nicht mehr zu Rande gekommen ist und zu spät nach dem Arzt hat rufen lassen, hält mit verweinten Augen das wimmernde Wesen, eingerollt in ein Windeltuch, in ihrem Arm. Es ist ein bläuliches Fleischlein, kümmerlich und bald schon am Verkühlen, die verschlossenen Augen, wo an den flaumigen Brauen und Wimpern ein flockiger, zäher Ziger hängt, hat es nie geöffnet, auf seinem verschleimten Scheitel kleben, wie Würzelchen an einer frisch gegrabenen Knolle, nasse Strähnchen von dünnseidigem, rötlichem Haar.

Die Geburtshelferin, sonst vielem gewachsen, hatte bald nicht mehr ein und aus gewusst. Das entrollte Segeltuch mit dem Notbesteck liegt achtlos hingeworfen im Durcheinander von Salben und Essenzen auf dem Marmor der Kommode, das Pinard-Rohr aus Buchenholz ist im Gehetze vom Nachtschränklein gefallen und unter das Bett gerollt, das Wasser im Zuberchen aus Zinkblech seit einer Stunde bald erkaltet.

Sie hat das Kind in ihrer Verzweiflung schon mit ein paar Tropfen aus einem Schälchen notgetauft für den Fall, dass der Herr es zu sich nehmen wird, bevor der Pfarrer mit dem geweihten Wasser kommt; es soll, solange sein kleines Herz noch schlägt, ihre Wärme spüren, und während das Gesichtchen, wenn ihr wieder das Augenwasser kommt, verschwimmt und sich zu einem schiefen Frätzchen verbiegt, bewegt sie lautlos ihre Lippen und spricht zu Gott. Fromm beten muss man in einer solchen Stunde, damit dies unschuldige Würmlein ein Fürbitter im Himmel wird, ein Engel, und um alles in der Welt kein Wiedergänger, der einem nach dem Kirchgang auf dem Buckel hockt. Ein Ungetauftes, das weiß sie, müsste man unter der Schwelle vergraben, weil es ansonsten vor einer solchen Seele keine Ruhe mehr gäbe.

Als Widerspan, beim Morgengrauen zurück im Haus, geziemend angekleidet und rasiert, auf dem schweren Schreibtisch des Studierzimmers im Alabasterschein der Bankierslampe nach dem Umschlag mit den amtlichen Scheinen sucht, überfällt ihn wieder die quälende Ungewissheit dessen, dem es nicht selten aufgetragen ist, zu wählen zwischen des einen Leben und des anderen Tod.

Das Kind aber stirbt nicht; es will am Leben bleiben. Als nach dieser langen Mainacht ohne Ruhe die Sonne hinter dem Gäuwald aufgeht und ein neuer Tag mit forscher Helle durch das offene Fenster ins Zimmer bricht, das ganze Elend mit seinem Licht erbarmungslos ausleuchtend, da ist dies dürftige Menschlein noch nicht tot; sein winziges Herz schlägt, seine Brust atmet leise, und es schläft.

Die übermüdete Geburtshelferin, bald am Ende ihrer Kräfte, hat es die ganze Nacht im Arm behalten – jetzt will sie auch nicht mehr auf den Pfarrer mit seinen Sakramenten warten. Sie deckt die Tote im Bett mit einem Laken zu und lässt sie allein, trägt dann, obwohl sie sich kaum mehr auf den Beinen halten kann, das Kind am Klausert, der am Tisch vor der leeren Flasche schläft, vorbei und, so schnell sie noch kann, von der Fluckern den Weg hinauf ins Hohried, zum übernächsten Hof, und dort in die Küche einer rechtschaffenen Bäuerin, die sie vor nicht langer Zeit, am Gründonnerstag desselben Jahres, gesund entbunden hat.

Die stämmige Frau, die in ihren Holzschuhen vor dem offenen Herd kniet, macht kein Aufsehen; sie will, es braucht dazu kein großes Bitten, dem fremden Kind Säugamme sein und für die erste Zeit – so gut es geht – auch eine Mutter.

Sie betten es gemeinsam in ein ausgepolstertes Seifenkistchen, das schon lange ungebraucht herumgestanden hat. Sein Nestlein aus Kaninchenfell, mit dem sie es ins warme Ofenfach schieben wollen, riecht nach Lavendel und geliderter Haut. Als sie das Kind mit dem wohlig weichen Scheckenbalg zum Wickeln auf die Sandsteinbank vor den grünen Kacheln legen, pulst am Kopf in der weichen Lücke zwischen den Schädelknochen fein und ruhelos sein junges Blut.

GOTT SCHLÄGT UND HEILT.

Der greise Pfarrherr hat es mit heiserer Stimme über den schmucklosen Sarg hinweg zum Klausert hin gerufen, und die Menschen auf den harten Bänken, hart geworden auch sie von diesem Leben, nicken stumm und schauen durch das Kirchenschiff an die Wände mit den dunklen Bildern.

Widerspan, der abseits und allein hinten beim Taufstein steht, hört zu und zweifelt.

Der junge Dorfarzt, der das Erbe seines Vaters angetreten hat, ist einer, der die Dinge sehen will, wie sie sind. Er hat die Schriften der Denker gelesen, ist früh aus dem Tal gezogen, und die Studiererei hat ihn nach Wien geführt und bis hinüber ins Böhmische. Dort, in Prag, wurde ein anderes Evangelium gelehrt.

Der Mensch sei frei und nicht gebunden, und eben darum solle er die Dinge selber in die Hand nehmen, dazu sei ihm nämlich ein Kopf gegeben und ein Wille. Bleiben, wie er geboren und erzogen worden sei, solle keiner, jeder könne, ja, müsse sich wandeln. Nichts auf Erden solle dem Menschen dunkel bleiben, hat man den wachen und willigen Studenten im Hörsaal gelehrt; ein Sehender könne jeder werden und für immer sein, denn allein jener, der vom Beherrschten zum Herrscher aufgestiegen sei, habe die Kraft, die Dinge zu schaffen und über sie zu gebieten als Eigner der Welt.

Der Mensch fresse anders als die Sau; nicht Gottes Gnade, davon ist Widerspan längst überzeugt, sondern der Benzinmotor und das Elektrische werden den Lauf der Dinge bestimmen, denn jede gegenwärtige Wirklichkeit enthalte ihr Hundert-, ja Tausendfaches an künftigen Möglichkeiten.

Doch die Leute hier sind von anderem Schlag, sie tragen grobe Kleider und sind nicht für Bücher gemacht. Sie lesen, was im Kalender steht, und die Nachrichten im vertrauten Blatt. Was Gott tut, ist für sie wohlgetan, sie beten und singen zu seiner Ehre und danken ihm für das tägliche Brot. Was die Roten denken und wollen, gefällt ihnen nicht, und noch weniger, was sie auf den Straßen laut skandieren.

Widerspan aber hat ein Jahr mit Russinnen an der Fakultät in Genf verbracht, er hat mit ihnen Vorlesungen besucht, manches aus ihrem Leben vernommen und sich politisieren lassen.

Nicht dass er das Bauernvolk verachten würde, er findet auch immer wieder den richtigen Ton. Dass es sich aber selber im Wege steht mit seiner Verstocktheit in Haltung und Gesinnung, schafft in ihm je länger, je mehr ein entfremdendes Missbehagen. Er tut für diese Menschen, was für sie zu tun ist, von Tag zu Tag jedoch ringt er zunehmend um das Bleiben oder das Gehen.

Als das winzige Örgelchen – kein Grand Jeu – pfeifend und mit knarrendem Balg zum Schlusschoral ansetzt, steht Widerspan schon unter der Tür.

Selbst der fromme Dichter wisse, dass es zuweilen die Alten seien, die den Jungen die Augen schließen müssten, denn unergründlich seien die Wege des Herrn, hört er den segnenden Pfarrer von der Kanzel aus über die Köpfe des knienden Kirchenvolks hinweg in das düstere Schiff künden, Gott mit uns, die Engel würden neues Leben weben.

Gott mit euch, murmelt Widerspan und tritt ins Freie, ohne sich zu bekreuzigen.

Das dünne Geläute hat eingesetzt, und wieder denkt er an Olga, die schöne Medizinerin aus dem Zarenreich, die sich approbiert am Genfersee niederlassen will und in deren Gegenwart er, fern der kleinen Welt dieses Tals, Haus und Erbe und alle Bürde vergessen könnte.

Das Kind jedoch ist ein Taubstümmchen, ein Viersinniges bloß; es hat gehen gelernt und schaut in die Welt, wie viele andere es tun, aber auch nach vier Jahren kommt noch kein Wort über seine Lippen. Wenn man es ruft, geht es weiter seinen Weg, schaut nie zurück, und auf eine Antwort, was immer es gefragt wird, wartet man vergeblich.

Die Hohrieder Bauern haben es deshalb, als sie, wie immer, wenn es Winter wird, auf den Kalten Markt gefahren sind, zum Seringer ins Doktorhaus gebracht. Widerspans mürrischer Nachfolger hat in seinem Untersuchungszimmer nicht lange gebraucht, um die Vermutung zu bestätigen. Er hat das seltsam schauende Geschöpf kurzerhand auf den Schragen gesetzt, und da hat es nach einer ersten Aufregung seelenruhig gesessen, zufrieden durch das Fenster in den Garten hinaus zum Futterhäuschen geschaut und nicht gehört, dass er hinter seinem Rücken laut gesungen und gegrunzt und alsdann wie ein Wilder mit dem Reflexhammer auf eine Nierenschale getrommelt hat.

Erst als der Seringer fortwährend in die Hände klatschend unter lautem Geschrei mit dem Fuß gestampft hat und dann mit seinem ganzen Gewicht gehüpft ist, so dass der Riemenboden mitsamt den Schränken voller klirrender Instrumente und Fläschchen nachgegeben und gebebt hat, hat es sich verwundert und mit großen Augen nach ihm umgedreht.

Im Gehörgang hat er nichts Außergewöhnliches sehen können, die Taubheit dürfte seiner Meinung nach mit der regelwidrigen Geburt und einem Sauerstoffmangel zu tun haben oder mit einer Verknöcherung.

Der neue Dorfarzt hat es anschließend, zumal es schon in seinem Sprechzimmer war, auch noch mit dem Stethoskop an Rücken und Brust auskultiert und mit einem nachdenklichen Seufzen gemeint, die Geräusche dieser Lunge wollten ihm nicht so recht gefallen.

Am Abend, wieder zurück im Hohried, reden sie darüber.

Was für das Kind zu tun gewesen ist, scheint es den rechtschaffenen Bauersleuten, hätten sie, aus bloßer Menschengüte und ohne verwandt zu sein, getan. Es könne schon seit langer Zeit stehen und gehen. Und essen, das wüssten sie mittlerweile recht gut, könne es auch. Zu diesem fremden säßen in ihrem Haus nämlich noch sechs eigene Kinder am großen Tisch, und auch wenn die Mutter gestorben sei, habe es doch noch seinen Vater mit einer Pflicht.

Der bringt, als sie ihm dies bedeuten, keinen Einwand vor, auch wenn es ihn nicht freut.

Auf den Barbaratag, es wird bald schneien, kommt das Kind wieder zurück an den Ort, wo es geboren worden ist. Kein Kirschbaumzweig ist eingestellt, der Stubenofen kalt, und es ist ihm alles fremd und abweisend, auch der Mann, der sein Vater ist und den es nicht eigentlich kennt.

Die forsche Magd, die unter dem Tisch mit nackten Füßen stets Klauserts Beine sucht und ihn mit der Aussicht auf eine lohnende Einheirat bedrängt, ist dem trauernden Witwer mit ihrem Begehren befremdlich und kein Trost.

Und dem Kind keine Mutter.

Das Bauern will dem Klausert seit seiner schwersten Nacht nicht mehr recht gelingen.

Bereits das dritte Frühjahr ist es für Wochen nass und kalt, die Vögel haben bald schon ihre Bruten aufgegeben, niemand kann sich an einen solch garstigen Lenz erinnern.

Wo immer der Mann ackert, geht die frische Saat nicht auf, die junge Frucht des Winterweizens verfault in einem braunen Sumpf. Hat er das Wenige, das nicht verdorben ist, mit Mühe in den Sommer gebracht, fällt es den Hagelzügen zum Opfer und liegt zerfetzt am Boden. Im Stall ist kein Glück, ein Kalb nach dem andern liegt, wenn er am Morgen zum Melken kommt, steif im Stroh, der einst ruhige Mann ist nicht mehr zu erkennen, er flucht, ist laut und tritt die Tiere in die Flanken. Wohl singt er noch, weil sie ihn drängen, freudlos mit einem brüchigen Bass im Männerchor und bläst in der Feldmusik, die schwarze Trauerbinde am Ärmel der Uniform, mehr schlecht als recht das Bügelhorn, aber er tut es wider seinen Willen, es fehlt ihm an Zuversicht und Lebensmut. Die Nächte schlingen ihn in schwere, schwarze Tücher, aus denen er auch in der Tageshelle nicht mehr findet, die Leute sehen ihn, seit er die Frau verloren hat, stets häufiger inmitten einer Arbeit unversehens stehen bleiben. Er schaut, will ihnen scheinen, mit matten Augen durch alle Dinge und auch die Menschen hindurch in eine unsichtbare Ferne, und in der Tat hängt eine Müdigkeit, kaum, dass er sich in der Früh auf die Beine gezwungen hat, an ihm wie ein bleierner Mantel und zieht ihn mehr und mehr zu Boden und in dunkle Tiefen.

Das hustende Kind mit seinem schweren Atem, auch wenn es ihm nichts tut, steht stets und überall im Weg und wird, weil es mit seinem ins Rötliche fallenden Haar und den gebleichten borstigen Wimpern der schwächlichen Mutter zu gleichen beginnt, ein Schmerz und eine fortdauernde quälende Erinnerung.

Als unverhofft das erste Rind nicht mehr frisst, ist es zunächst ein bloßer Schreck.

Dann aber wird die angstvolle Vermutung zur Gewissheit – die Seuche bricht aus. Einem Tier nach dem anderen faulen die Klauen, am Kiefer sind Wunden, das Flotzmaul häutet sich und reißt, das Fleisch hängt in blutigen Fetzen um die Zähne.

Der Amtstierarzt, den er hat rufen müssen, kommt mit einem Trupp junger Veterinäre; sie tragen lange Schürzen aus Gummituch und Handschuhe bis zum Oberarm. Tier für Tier holen sie aus dem Stall und drängen es, aller Widerwehr zum Trotz, mit Stecken und Stacheln über die Rampe in die wartenden Wagen. Kaum ist der letzte abgefahren, werden eiserne Fässer herangerollt. Die jungen Tierärzte in ihren hüfthohen Watstiefeln ziehen sich Rüsselmasken mit runden Augengläsern über. Mit Pumpen, die an ihrem Rücken hängen, gehen sie daran, in den Ställen alles mit einem grünlichen, streng nach Chlor riechenden Gift einzunässen, bis Barren und Ketten triefen.

Der Klausert hockt in der dunklen Küche beim Schnaps, derweil im Schlachthaus sein Viehstand abgetan wird; die nächsten Tage spricht er nur noch wenig und dann überhaupt nicht mehr.

Sein Hof ist ein Geisterort geworden, die Türen zu allen Ställen stehen sperrangelweit offen, nachts kommen die Füchse und strolchen durch alle Räume, der Garten verwuchert, die Felder verganden.

Die drohende Gant, bei der das ganze Hab und Gut bis zur letzten Gabel unter den Hammer kommt, macht ihm Sorgen und drückt ihn von Tag zu Tag wie eine Zentnerlast mehr und mehr zu Boden.

Weil nach jedem strengen Winter das Gras wieder wächst, fasst sich der Klausert doch noch ein Herz. Da sie ihm zugeredet haben, will er, sobald es ans Pflügen geht, seine Brachen wieder nutzen und den Nachbarn mit seinen verbliebenen zwei alten Gäulen zur Hand gehen.

Noch einmal denkt er daran, vielleicht Geld aufzunehmen und Vieh zu kaufen, aber der Verwalter der Darlehenskasse will zuerst mit dem Direktor Rücksprache nehmen; man wird ihm den Bescheid mitteilen.

In einem Brief.

Zu Lichtmess, nachdem sie wieder für ein Jahr gedungen sind, feiern Mägde und Knechte den besonderen Tag im Wirtshaus beim Tanz. Man hat Speck gegessen und Würste; zu Beginn des Bauernjahres müssen die Reste der Löhnung noch ausgegeben werden und die geschenkten neuen Schuhe eingetragen. Ein frohes und ausgelassenes Fest ist im Gang.

Erst als die Kapelle – Mitternacht ist längst vorbei – nach dem letzten Schottisch die Instrumente auf den Bühnenboden legt und jemand im dickdünstigen Menschendampf des kleinen Saals für frische Luft die Fenster öffnet, hört man das Feuerhorn und das Sturmgeläut der Kirchenglocken. Auf der Fluckern stehen Haus und Scheune in Flammen.

Die Männer aus dem Dorf und von den Höfen, aufgeschreckt aus dem Schlaf und die meisten mit dem Nachthemd in die Stallhosen gestopft, haben kaum Zeit gefunden, den breiten Gurt mit dem Karabinerhaken und den Helm aus der Kammer zu holen. Sie sind, so schnell sie konnten, zum Spritzenhaus gerannt, wo im Turm die Schläuche hängen und die Eimer gestapelt sind.

Mit scheuenden Pferden, die auf dem zugeschneiten Fahrweg immer wieder ausgleiten, bringen sie die Handdruckspritze hinauf zum Unglückshof und schlagen mit Pickeln Löcher in den felsenhart gefrorenen Bach und durch das dicke Eis des Weihers. Das bisschen Wasser, das sie mit dem Saugschlauch und den rinnenden Kübeln zusammenbringen, reicht nirgendwo hin, aus dem Wendrohr kommt der Strahl nicht stärker als aus der Röhre eines Brunnens.

Aber es gibt, das kann jeder sehen, ohnehin nichts mehr zu löschen, die Flammen, die den goldenen Kamm auf dem Helm des verzweifelten Kommandanten hell aufstrahlen lassen und ihm schon von weitem die Gesichtshaut spannen, sind auf keine Weise mehr zu bändigen; alle wissen, dass es ein lächerliches Tun ist, wenn sie mit Schaufeln klumpenweise zusammengekratzten Schnee in die Brunst werfen; vom Wohnhaus steht nur noch das Gemäuer mit dem Aufgang aus Sandstein, die Scheune ist längst ein rot glimmendes Skelett, von dem die Ziegelscherben wie glühende Geschosse durch den Qualm in den erhellten Himmel stieben. Bevor das große Dach funkensprühend mit einem wuchtigen Grollen dumpf in sich zusammenfällt, sehen sie den Klausert mit geschmolzenen Stiefeln wie eine verkohlte Puppe am stählernen Schleppseil der Winde unter der Pfette hängen und sich im Wirbel der heißen Gase langsam drehen.

Die ganze Nacht hindurch suchen sie in den feuerheißen Trümmern nach dem Kind.

Ein kleiner Trupp hat sich im Hofbrunnen getränkte Säcke um die Schuhe gebunden und das Gesicht mit nassen Taschentüchern geschützt. Mit dem wenigen, das sie noch unversehrt vorfinden, einer rostigen Stange, einer Wagendeichsel, einem Bindbaum, stochern sie im fahlen Schein der Laternen und Karbidlampen in allen Winkeln und Löchern, in den Nischen und eingefallenen Gewölben.

Wenn einer auf etwas Weiches stößt, stockt ihm das Herz – aber wenn sie nachschauen, ist es ein Bündel gerollter Säcke oder eine versengte Pferdedecke, dann der Schaft eines mit Wasser gefüllten Stiefels.

Von Glutnestern züngeln unversehens Flammen, Rauch quillt erneut aus verdeckten Glimmstellen, man dreht jedes schwere Mauerstück und hebt alle ausgeglühten Eisenträger, aber auch nach Stunden finden sie den kleinen Körper nicht.

Der Morgen ist gespenstisch. Schläuche, Eimer und Geräte liegen verstreut zwischen Scherben, verkohlten Hölzern und Ziegelsteinen. Auf dem Brandplatz ist in der Luft eine Wärme wie im frühen Sommer. Die müden Männer, schwarz im Gesicht vom Ruß und mit brennenden Augen, hocken, statt in die Kirche zum Blasiussegen zu gehen, auf Kisten und Eimern im zerstampften Gras und trinken schweigend den Schnapskaffee, den sie vom Nachbarhof gebracht haben. Die Helme mit den zwei Äxten und dem Kreuz auf der Kokarde haben alle abgenommen und auf einem Planenstück zu einem Ries gelegt.

Aus dem Nebel, der vom Tal her zieht, fällt mit einemmal ein Morgenlicht, nicht gleißend, nicht blendend, aber doch ein Aufleuchten ist es, ein Scheinen, fremdartig und unwirklich, als käme es nicht von der Sonne. Am schweigsamsten von allen ist der alte Wasenmeister, der etwas abseits alleine auf einem Kübel hockt. Im Schutz der Dunkelheit wird er den Selbstmörder Klausert für seinen Frevel büßen lassen und ohne Totenmesse beim kleinen Gehölz hinter der Friedhofsmauer verscharren müssen, außerhalb der geweihten Erde, mit dem Gesicht nach unten und als Bann mit einem großen Eisen beschwert.

Dann findet einer, als sie die nassen Schläuche rollen und die Hoffnung beim weiteren Suchen längst aufgegeben haben, hinter einer Wegkurve das Kind verschreckt aber unversehrt im kleinen Chaisenwagen, den der Klausert vor seiner Tat spätnachts mit aufgespanntem Verdeck geschützt vor dem Feuer ins feuchte Mergelloch gestellt hat. Eingepackt in einen umgeschlagenen Soldatenmantel und dick in wollene Decken gehüllt hat es auf dem knopfgesteppten Lederpolster die ganze Zeit geschlafen.

Noch einmal kommt es, mittlerweile Waise, für kurze Wochen in die Kinderkammer im Hohrieder Bauernhaus. Es wäre dort zufrieden.

Aber dann waltet das Amt.

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