Buch lesen: «Der Sohn des Deutschländers», Seite 5

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Ob sie sich willentlich so unschön zurechtmachte? Arthurs Vater seufzte und dachte: Ich weiβ nicht viel über diese Frau. Sie macht einen so verschrobenen, fast verbitterten Eindruck! Sie lacht nie, sagt von sich aus nie einen einzigen Ton, außer wenn man sie ganz direkt etwas fragt, sie schaut einem noch nicht einmal direkt ins Gesicht. Und sie scheint sich fest vorgenommen zu haben, aus ihrer Tochter ein ebenso weltabgewandtes Wesen zu machen. Das arme Mädchen. Sie sollte sich wie ein lebenslustiger Backfisch benehmen dürfen und nicht jeden Nachmittag in der Küche eines Hinterhauses verbringen!

Er seufzte erneut und machte kehrt. Immerhin hatten sich die Wogen in seinem Inneren geglättet.

Die Nacht lag noch schwer und feucht über der Stadt, als er zurück ans groβe Tor gelangte. Jedoch deutete ein erstes, sanftes Zwitschern von Spatzen sowie vereinzeltes Krähen der Hähne aus der Nachbarschaft darauf hin, dass der Morgen in Begriff war, die Nacht abzulösen.

Er fand den Patio in friedlicher Stille, lediglich bei der kleinen, matt erleuchteten Glühlampe neben der Auffahrt zum Hinterhof herrschte reges Leben: Wie die Planeten des Sonnensystems kreisten Insekten um ihr selbstgewähltes Heliozentrum. Arthurs Vater ging daran vorbei, legte sich geräuschlos in seine Hängematte und war wenige Minuten später fest eingeschlafen.

Das Pfeifen des Wasserkessels hätte alle im Hinterhaus und im Patio wecken müssen, aber an diesem Morgen lieβ sich keiner davon stören. Nur Justina war, pünktlich wie immer, um Viertel vor sechs aufgestanden. Sie weckte ihre Tochter und fing an, das Frühstück für das Mädchen vorzubereiten. Hildegard zwängte sich eilig in ihre Schuluniform und feste, hartlederne Schuhe. Schon zu dieser frühen Tageszeit standen winzige Schweiβperlen auf ihrer Stirn. Nachdem sie ein Marmeladebrötchen gegessen und etwas heiβe Milch getrunken hatte, rannte sie zur Ecke der Avenida Don Bosco, hielt mit ausgestrecktem Arm einen der Busse an und sprang auf das langsamer werdende Fahrzeug auf.

Wenig später krochen Arthur und Maria Celeste aus ihrem Bett, schlüpften am groβen Kleiderschrank und Luisas Bett vorbei unter das Vordach. Wie immer stand dort bereits eine Schüssel mit frischem Wasser für die Kinder, damit sie sich Hände und Gesicht waschen konnten. Patschend tauchten sie ihre Hände ein und fuhren sich mit den nassen Fingerspitzen über die zugekniffenen Augen. Dann liefen sie in die Küche und krabbelten auf ihre Stühle. Justina begrüβte die Kleinen wie jeden Morgen knapp, aber freundlich. Sie falteten die kleinen Händchen und schauten nach unten auf den Fuβboden, während Justina das morgendliche Gebet sprach. An den Brauch, vor dem Essen zu beten, hatten sich alle Bewohner des Hauses – auch die jeweiligen Besucher – längst gewöhnt. Man senkte den Kopf und wiederholte Justinas „Amen“ am Ende.

Arthur und Maria Celeste waren Genieβer. Sie nahmen sich alle Zeit der Welt für das Frühstück. Die keineswegs opulente Morgenmahlzeit bestand aus weichen Milchbrötchen, Guaven-Marmelade oder Griebenschmalz und honiggesüβter, warmer Milch.

Als sie satt waren, besprachen Maria Celeste und Arthur, was sie heute unternehmen könnten und obwohl Justina keinerlei Erziehungsgewalt über sie hatte, schauten die Kinder sie fragend an. Sie schienen auf ihre Zustimmung zu warten. Erst wenn Justina lächelnd nickte, rutschten die beiden von ihren Stühlen und rannten hinaus.

Heute schliefen die Erwachsenen, auβer natürlich Justina, besonders lange. Deshalb legte Maria Celeste den Zeigefinger auf die Lippen. Leise kichernd liefen sie am Schlafzimmer und den Hängematten vorbei auf die Straβe, dann in Richtung ihres kleinen Parque, wie sie es nannten.

Bei diesem „Park“ handelte es sich um eine kleine Grünanlage an der Ecke beim Hafen. Früher einmal mochte dieser Platz hübsch und gepflegt ausgesehen haben, inzwischen kümmerte sich niemand mehr um die vielen Büsche und den Gehweg, der von Sitzbänken gesäumt war, an denen die Farbe abblätterte. Maria Celeste liebte die vielen Chivatos. Bäume, die hier entweder in herrlich sattem Orange blühten oder armlange Schoten voller riesiger Samenkörner trugen. Diese Samenkörner ließen sich wunderbar leicht aus den reifen Schoten lösen und als Spielgeld oder dergleichen verwenden.

An der Auβenseite des Platzes, nicht weit vom Hafengebäude entfernt, ging ein abschüssiger Erdwall ohne Zaun oder Mauer in die Flussniederung über. Dort standen ärmliche Hütten in wildem Durcheinander. Die meisten dieser Hütten bestanden aus dürftig zusammengenagelten Brettern, waren mit Pappe beschlagen und hatten Dächer aus Wellblech, Stroh oder Zeltplane. Nur ganz wenige hatten ein Ofenrohr, durch das der Rauch von der Feuerstelle abziehen konnte. Die meisten erhitzten das Wasser für das morgendliche Mate-Ritual auf einem offenen Feuer vor ihrer Hütte. Arthur und Maria Celeste hatten hier unter einem riesigen Busch ihre eigene Casita, ein Häuschen, aufgebaut: Ein altes Tischgestell ohne Platte, das sie einmal an einer Straβenecke gefunden hatten, diente als Gerippe für das Haus. Fast einen ganzen Vormittag hatten sie gebraucht, um das Gestell hierher zu schleppen. In einer Holzkiste unter Deisenhofers Vordach hatten sie dann ein Stück Zeltplane „gefunden“, mitgebracht und über das Tischgestell gespannt. Die harte, gummierte Stoffplane reichte bis auf den Boden. Ringsherum hatten sie den Rand der Plane mit groβen Steinen beschwert. Selbst bei Regenwetter blieben sie hier so lange trocken, wie der Boden nicht völlig durchgeweicht war.

Ihre Casita stand nun schon seit zwei Wochen hier unter dem Gebüsch und bisher waren weder die Plane, noch das Tischgestell verschwunden. Somit war deutlich, dass ihr Häuschen von den anderen Bewohnern des Ufers als Nachbarhaus akzeptiert, und als „Propiedad privada“, ihr Privateigentum, respektiert wurde.

Hier lebten Maria Celeste und Arthur in ihrer gespielten Welt. Manchmal war das Häuschen ein Krankenhaus, in dem Maria Celeste Kranke operierte und heilte, manchmal war es eine Schule, ein Kaufladen oder das Wohnhaus einer groβen Familie. Leere Flaschen, abgebrochene Ruder oder ein angeschwemmtes Stuhlbein wurden zu Mitschülern, zu todkranken Patienten oder zu Geschwistern innerhalb einer groβen Familie.

Heute hatte Maria Celeste Lust auf Schule, weil sie gestern im Papierkorb in der Küche ein altes Heft von Hildegard gefunden hatte. Seite für Seite war es mit wichtig aussehenden Zeichen vollgeschrieben. Arthur saβ gelehrig unter ihrer Aufsicht da und malte mit einem abgebrochenen Zweig die seltsamen Zeichen nach.

Ein paar Straßen weit entfernt wachte Arthurs Vater auf und stellte enttäuscht fest, dass ihn nicht die Ankunft der Deisenhofers geweckt hatte, sondern Stimmen, die gedämpft durch das Fenster von Luisas Schlafzimmer zu hören waren. Für einen Augenblick spürte er wieder den Ärger der vergangenen Nacht in sich hochkommen. Schwerfällig wälzte er sich aus der Hängematte, streckte die steifen Glieder. Der Tag war viel zu wichtig, um sich mit Gedanken über den gestrigen Abend herumzuschlagen, beschloss er. Deisenhofer würde endlich kommen, er hatte lange auf diesen Tag gewartet.

Justina war gerade dabei, Teig für ihre allseits beliebten Milchbrötchen zu kneten. Sie schaute nicht von ihrer Arbeit auf, murmelte nur leise „Guten Morgen“, als Arthurs Vater mit einem Kopfnicken an ihr vorbei in die kleine Duschkabine verschwand, um die muffige Unausgeschlafenheit von sich abzuwaschen.

Als er halbwegs erfrischt, mit nacktem Oberkörper die Dusche verlieβ, wendete sich Justina rot anlaufend ab. „Ziehen Sie sich doch bitte anständig an!“, zischte sie und warf den Teig mit einer heftigen Bewegung in eine Plastikschüssel.

„Verzeihung, Gnädigste“, sagte Arthurs Vater mit gespielter Unterwürfigkeit und verbeugte sich leicht. Dann wickelte er seinen Oberkörper in sein groβes Badehandtuch.

„Ich kann mir ja kein frisches Hemd aus meinem Zimmer holen, wo die beiden Turteltäubchen miteinander beschäftigt sind“, erklärte er grinsend und zuckte die Achseln.

Justina seufzte und murmelte etwas Undeutliches, das wie „Sodom und Gomorrah“ klang.

Arthurs Vater wollte sich nicht von Justinas anklagender Stimmung anstecken lassen. „Jetzt spielen Sie doch nicht den moralischen Scharfrichter, Justina! Luisa und ihre Männer sollen doch machen, was sie wollen! Solange sie uns nur mit ihrem Gehabe in Ruhe lassen!“

Er musste sich selbst über seine lapidare Äuβerung wundern. Ganz offensichtlich hatte die Einsicht, zu der er auf dem nächtlichen Spaziergang gekommen war, dem Stachel namens Luisa die Spitze genommen.

In diesem Augenblick trat sie mit triumphierendem Blick und strahlendem Lächeln in die Küche. Ihr „Buenos días“ klang eher gesungen als gesprochen. Sie verschwand in der Duschecke, lieβ das Wasser laufen und man hörte, wie sie sich fröhlich summend einseifte.

Arthurs Vater wusste, dass in dem Duschbehälter kaum noch Wasser übrig war. Er sprang auf, eilte mit groβen Schritten zum Brunnen, holte einen groβen Krug voller Wasser und wartete neben der Dusche. Grinsend zwinkerte er Justina zu, die mit weit aufgerissenen Augen da stand. Ihre Mundwinkel zuckten. Erst als Arthurs Vater hörte, dass die letzten Wassertropfen aus dem Duschbehälter gerieselt waren und Luisa im Trockenen stehen musste, trat er an die hölzerne Abtrennung heran und hielt den Krug hoch. „Bitteschön, liebes Fräulein“, sagte er und betonte dabei fast zynisch das Wort Fräulein.

Einen Moment lang blieb alles still. Schlieβlich streckte Luisa ihre nassen Arme über die Holzwand und sagte mit trockener Stimme „gracias“. Arthurs Vater und Justina konnten hören, wie sie den Duschbehälter herunterließ, das Wasser einfüllte und weiter duschte, ohne jedoch ihr fröhliches Summen wieder aufzunehmen.

Das zaghafte Lächeln, das unwillkürlich um Justinas Mundwinkel herum erschienen war, hatte sie sofort wieder heruntergeschluckt. Sie presste wie üblich die Lippen zusammen und begann, angeklebte Teigreste mit einem kleinen Küchenmesser vom Tisch abzukratzen. Dann machte sie das Frühstück für Arthurs Vater, Luisa und die beiden Arbeiter. Für Luisas kleine Jungen kochte sie einen Brei aus grob geschrotetem Weizengrieβ mit Milch. Sie beachtete Arthurs Vater nicht weiter, tat so, als sei er nicht im Raum. Er hatte jedoch das unbestimmte Gefühl, ihm sei vorhin zum ersten Mal eine kleine Sympathiewelle von ihr zugeflogen.

Wenig später saβen sich er und Luisa allein am Frühstückstisch gegenüber. Miguel und Adalberto zogen es vor, gemeinsam im Patio zu sitzen und dort Mate zu trinken. Eisiges Schweigen. Kein Wort wurde gewechselt. Weder am Küchentisch noch im Garten. Keiner von ihnen würde ein Wort über den vergangenen Abend verlieren.

Justina schälte inzwischen die Mandioca für das Mittagessen. Aus unerklärlichen Gründen genoss sie das Schweigen zwischen Luisa und Arthurs Vater, denen sie den Rücken zugekehrt hatte. Sie war sicher, dass niemand ihr Gesicht sehen konnte, deshalb brauchte sie jetzt nicht verhindern, dass ein kaum wahrnehmbares Lächeln ihre sonst so fest zusammengepressten Lippen umspielte.

Der Kaffee war noch nicht ausgetrunken, als lautes Poltern alle aus ihren Gedanken riss. Maria Celeste und Arthur wurden nie vor Mittag zurückerwartet, deshalb konnte der Lärm nur bedeuten, dass Julius Deisenhofer und seine Frau endlich angekommen waren. Und tatsächlich hörte man in diesem Moment eine Männerstimme laut nach Miguel und Adalberto rufen.

Alle rannten an das Tor. Jeder von ihnen war erleichtert darüber, dass endlich etwas geschah, das sie von Gedanken über das peinliche Verhalten in der vergangenen Nacht ablenken würde.

Kapitel V.

Kapitel 5

Deisenhofers äuβere Erscheinung wirkte auf Arthurs Vater im ersten Moment fast enttäuschend. Er hatte sich unter dem von allen als „Don Julio“ bezeichneten Groβgrundbesitzer und Geschäftsmann eine irgendwie eindrucksvollere Persönlichkeit vorgestellt. Deisenhofer war wesentlich kleiner als er selbst, hatte einen gewichtigen Bauchansatz und trug bei dieser ersten Begegnung ein verknittertes, kariertes Arbeitshemd zu staubigen Jeanshosen und knöchelhohe, stark dreckverkrustete Lederschuhe mit offenen Schnürsenkeln. Hingegen entsprach seine Frau, Christa Deisenhofer, voll und ganz dem Bild einer begüterten Dame aus der so genannten „Campaña“, eine Ortsbezeichnung, die sich auf alle ländlichen Provinzen Paraguays beziehen kann.

Ihre Frisur war sportlich elegant, der ständig schwülen Witterung angepasst: Das mittellange, leicht gewellte Haar war für Reisen wie diese mit einer schlichten Metallspange hochgesteckt. Sonst lieβ sie es offen auf die Schultern fallen. Sie trug meist wadenlange Röcke. Dazu, je nach Bedarf, Arbeitsstiefel, wie sie auch von Männern getragen wurden oder hochhackige, meist farblich auf die Kleidung abgestimmte Sandaletten.

Beide, sowohl Herr als auch Frau Deisenhofer waren braungebrannt, hatten blaue Augen und waren wohl einmal dunkelblond gewesen. Mittlerweile wurde das Haar von grauen Strähnen durchzogen, wobei man bei Julius von Strähnen eigentlich gar nicht sprechen konnte, da die vordere Hälfte seines Kopfes ohnehin frei von jeglicher Haarpracht war und der Hinterkopf so kurzgeschoren, dass sich das helle Grau hier eigentlich eher in Form von Flecken als von Strähnen zeigte.

An der Art, wie Deisenhofer mit seinen Arbeitern, Miguel und Adalberto, aber auch Justina und Luisa umging, merkte Arthurs Vater sehr schnell, dass er als humorvoller, freundlicher und beliebter Arbeitgeber bezeichnet werden konnte, der jedoch auch daran gewöhnt war, absoluten Respekt zu genieβen.

Das Auftreten seiner Frau Christa war weitaus weniger dominant, dafür umso majestätischer. Sie schien jede einzelne Handlung vollkommen bewusst und wohlüberlegt auszuführen – selbst wenn sie in Eile war. Wenn sie sprach, bekam man den Eindruck, sie habe ihre Wortwahl lange vorher getroffen. Jede Silbe, jedes Wort wurde perfekt in makellose Sätze eingefügt. Alles was sie tat oder sagte, wirkte protokollarisch, allerdings nie steif oder gekünstelt.

Im Groβen und Ganzen erwiesen sich sowohl Don Julio als auch Doña Christa als freundliche, angenehme Menschen. Arthurs Vater war erleichtert. Schon nach dem ersten Kennenlernen konnte er sich vorstellen, dass sein Entschluss, nach Paraguay zu kommen, vielleicht doch richtig gewesen sein könnte. Deisenhofer, selbstständiger und geradezu leidenschaftlicher Geschäftsmann, war schon nach ihrem ersten Gespräch davon überzeugt, dass Arthurs Vater mit seiner Idee von der Vermarktung von Tierhäuten vollkommen falsch lag. Aber das behielt er für sich. Er wartete jedoch nicht lange mit dem Hinweis darauf, dass mit dem Verkauf von Edelhölzern zurzeit gutes Geld zu machen sei.

Nachdem sich die Deisenhofers von der Fahrt etwas erfrischt hatten, forderte Don Julio Arthurs Vater auf, ihn zu begleiten und bei den anstehenden Geschäftsbesuchen dabei zu sein.

„Es kann nicht schaden, wenn meine Kontaktleute Sie auch kennen lernen, mein Freund!“

Auf dem Weg nach Luque, wo Deisenhofer die Bezahlung für das am Vortag gelieferte Brennholz einkassierten wollte, malte er Arthurs Vater aus, wie er ein eigenes Holzgeschäft angehen und die Ausfuhr von Fellen allenfalls nebenbei betreiben könnte. Praktisch auf jede Frage zu gesetzlichen Regelungen und Bestimmungen wusste er eine Antwort. Arthurs Vater geriet in einen Taumel der Begeisterung angesichts der Möglichkeiten, die Deisenhofer ihm vorschlug. Don Julio schien sich mit allem auszukennen und jegliche Bedenken zur Finanzierung der verschiedenen Projekte wischte er mit einer wegwerfenden Handbewegung vom Tisch. „Ach, lassen Sie mich nur machen, mein Freund. Das sag ich Ihnen: ich kenn mich da aus!“

Der Ausflug in das kleine Städtchen Luque war für Arthurs Vater eine willkommene Abwechslung. Er stellte dabei fest, dass Julius Deisenhofer groβe Bekanntheit und ebenso groβen Respekt genoss. Auf dem Gelände des Elektrizitätswerkes der ANDE, die Administración Nacional de Electricidad, wurde er von einfachen Arbeitern an der Dampfmaschine mit Stromgenerator ebenso freundlich begrüβt wie von Büroangestellten in Schlips und Kragen.

Nachdem er abkassiert hatte, klopfte er sich lachend auf die Hemdtasche, in die er den erhaltenen Wechsel gesteckt hatte.

„Das sag ich Ihnen, mein Freund“, rief er, „wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht wert! Das Geschäft mit dem Brennholz ist ein Nebenerwerb, der zwar nicht das groβe Geld bringt, aber nicht zu verachten!“

„Nebenerwerb?“, fragte Arthurs Vater verständnislos.

„Nun ja, das eigentliche Geschäft beim Roden machen wir mit den Riesen! Die Baumstämme, die nach Argentinien in die Parkettfabrik oder in den Hafen gehen und von dort aus wer-weiβ-wohin. Edelstes Holz, das sag ich Ihnen, mein Freund. Meterlange Stämme, schnurgerade! Jeder Kubikmeter ein Schmuckstück! Das Kleinholz, das ich hierher bringen lasse, sind sozusagen die Späne, die beim Hobeln abfallen, wenn ich ein Stück Land sauber mache. Aber das zeige ich Ihnen, wenn wir nach Independencia kommen.“

Abends sollten Arthur und sein Vater mit den Deisenhofers im Haupthaus essen. Justina brachte das Essen aus der Küche hinüber und servierte im groβen Speisesaal des vorderen Hauses. Für alle übrigen Hausbewohner deckte sie wie immer in der Küche den Tisch.

Den kleinen Arthur hatte Luisa heute nach dem Bad besonders nett angezogen und sein Haar sauber gescheitelt. Doch als ihn sein Vater an die Hand nehmen wollte, um hinüberzugehen, schüttelte der Junge den Kopf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Nicht einen einzigen Schritt weit würde er ohne Maria Celeste gehen.

Diese saβ bereits am Tisch in der Küche des Hinterhauses und hatte ihr Gesicht in die gleichen bockigen Falten gelegt wie Arthur.

„Jetzt komm, Kleine, iss etwas!“, sagte Luisa energisch. „Justina hat heute etwas besonders Gutes gekocht!“ Maria Celeste schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute trotzig aus dem Fenster.

Sie sah, wie Arthur von seinem Vater sanft an der Schulter gepackt und in Richtung Haupthaus geschoben wurde. Arthur stemmte seine Fersen ins Gras.

Doña Christa wartete bereits auf die beiden. Als sie jedoch sah, wie sehr sich der Kleine gegen einen Besuch im Haupthaus wehrte, sagte sie lachend zu Arthurs Vater: „Lassen Sie mal, wir werden den Kleinen schon irgendwann kennen lernen. Es ist nur zu verständlich, dass er mit den Kindern von Luisa zusammen bleiben möchte.“

Auf die Idee, Maria Celeste ebenfalls zu sich einzuladen, schien sie nicht einmal zu kommen.

Augenblicklich drehte sich der kleine Arthur um und lief auf die Küchentür im Hinterhaus zu. Auch Arthurs Vater war erleichtert über Christas Verständnis. Er wischte sich den Schweiβ von der Stirn folgte ihr an den festlich gedeckten Tisch im Vorderhaus.

Am nächsten Morgen ging Arthurs Vater wie immer in die Küche. Er wirkte verschlafen, kniff die Augen zusammen, schüttelte kurz den Kopf und lächelte. „Der Wein!“, sagte er entschuldigend zu Justina und setzte sich an den Tisch. Während er sich ein Marmeladebrötchen zurechtmachte bat er sie, sich in nächster Zeit zusammen mit Luisa ein wenig um seinen Sohn zu kümmern.

„Ich werde endlich dieses Independencia kennen lernen! Wir fahren schon heute ab“, erklärte er gutgelaunt.

Justina bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Würde der nette Deutschländer, wie sie ihn insgeheim nannte, vielleicht schon jetzt endgültig nach Independencia siedeln? Aber dann lieβe er ja seinen Sohn kaum hier in der Stadt. Sie nickte also und meinte achselzuckend: „Der Kleine macht ja ohnehin nie etwas anderes als Maria Celeste.“

Sie traute sich nicht, Arthurs Vater zu fragen, wie lange er wegbleiben würde und welche Pläne er für die Zukunft hatte. Trotzdem erzählte er beim Essen ausführlich, was er und Deisenhofer am Vorabend miteinander durchgesprochen hatten und dass er vorhätte, sich gemeinsam mit Deisenhofer ein Stück Land in einem Waldgebiet nördlich von Independencia anzusehen. Dieses Waldstück wolle er vielleicht kaufen und als Partner in Deisenhofers Holzgeschäfte einsteigen. Seine Begeisterung war nicht zu überhören, als er davon sprach, dass er auβerdem die Möglichkeit sähe, dort Kontakt zu Jägern aufzunehmen, Felle aufzukaufen und natürlich selbst zu jagen. Durch den Export von Fellen könnte er dann sicherlich die Abzahlung der Kredite, die er aufnehmen müsste, schneller vorantreiben.

Justina hörte aufmerksam zu. Sie hätte nicht erklären können warum, aber sie hatte das undeutliche Empfinden, dass Arthurs Vater mit allzugroβer Begeisterung von seinen Plänen sprach. Ihr war diese heitere und unvoreingenommene, man könnte auch sagen: siegessichere Art, an ein völlig neues Vorhaben heranzugehen, fremd. In ihrer Familie, auch innerhalb der weiter entfernten Verwandschaft, hatte sie die Männer immer als sehr vorsichtig erlebt, wenn es darum ging, in neue Geschäfte einzusteigen. Immer, wenn gröβere Geldbeträge im Spiel gewesen waren, wurde innerhalb der Gruppe von männlichen Familienmitgliedern – Frauen waren immer von solchen Besprechungen ausgeschlossen gewesen – zunächst um Weisheit und Gottes Führung gebetet und dann gemeinsam entschieden, ob man alle eventuellen Risiken am jeweiligen Geschäft erkannt hatte.

Die vollkommen unbeschwerte, sorglose Fröhlichkeit, mit der Arthurs Vater über sein Vorhaben sprach, wunderte Justina ebenso wie die Tatsache, dass er gerade ihr seine Pläne mitteilte. Einfach so. Sie hätte so gern gefragt, weshalb er ihr das alles erzählte. Ihre jahrelang antrainierte Zurückhaltung schnürte ihr jedoch die Kehle zu. Und schon gar nicht fühlte sie sich berechtigt, kritische Einwände gegen seine – oder Deisenhofers – scheinbar unfehlbare Geschäftsideen zu äuβern. Alles, was ihr auf der Zunge lag, könnte falsch sein. Sie sagte also gar nichts.

Schlimm genug war, dass sie sich seit zwei Tagen mit heftigen Vorwürfen gegen sich selbst herumplagte. Wie hatte sie nur so unbeherrscht herausposaunen können, welches Bild sie von ihrer Mitbewohnerin Luisa hatte! Jeder – auch Arthurs Vater – würde doch irgendwann selbst feststellen, was für ein Weibsbild diese Luisa war! Sie hatte einfach die Beherrschung verloren und herausgebrüllt, was ihr seit langem auf der Seele und der Zunge lag. Nie wieder wollte sie die Gewalt über sich selbst verlieren und sich zu derartigen Beschimpfungen hinreiβen lassen, nahm sie sich fest vor. Wer wollte schon ihre Meinung wissen!

Arthurs Vater wischte sich mit dem Handrücken die Krümel von den Lippen und erhob sich. Justina bemerkte, dass er in der Küchentür stehen blieb und sie ansah. Offensichtlich erwartete er irgendeinen Kommentar von ihr. Aber sagte sie nur: „Schön“, und „gute Reise“, dann fuhr sie fort, die Kaffeetassen und Teller vom Frühstück mit heiβem Wasser abzuspülen.

Er hatte sich in der Tat ein deutlicheres Echo auf die ausführliche Schilderung seiner Zukunftsvisionen versprochen. Vielleicht hatte er sogar erwartet, Justina ein bisschen mit seiner Begeisterung anzustecken. Ihre gesamte Haltung drückte jetzt aber wieder das übliche „Lassen Sie mich in Ruhe“ aus. Intuitiv begriff er, dass Justina nicht preisgeben wollte, was sie dachte und welches Bild sie sich von ihm machte. Er begriff allerdings nicht wirklich, welches Bild sie von sich selbst hatte. Und dass sie auf keinen Fall zulassen wollte, irgendjemanden einen Blick darauf werfen zu lassen. Ihre Augen schienen nur für ganz kurze Momente den Schleier zu durchdringen, hinter den sie sich selbst gestellt hatte. Nichts sollte irgendwelche Hinweise auf ihr eigentliches Ich geben.

Arthurs Vater holte tief Atem, sein Instinkt sagte, dass er sie nicht mehr ansehen sollte. Also drehte er sich um, sagte nur kurz und trocken „auf Wiedersehen“ und winkte ihr über die Schulter hinweg zu. Eigentlich hätte er ihr gerne wenigstens die Hand geschüttelt, weil er schlieβlich auf unbestimmte Zeit verreisen würde. Beim Weggehen glaubte er zu spüren, dass sie den Blick von dem schmutzigen Geschirr gehoben hatte und ihm nachsah.

Er machte sich auf die Suche nach Luisa, denn er sollte sich auch von ihr in aller Form verabschieden, fand er. Und sich endlich einmal für ihre Aufmerksamkeit und Bemühungen in Bezug auf seinen Sohn bedanken.

Sie war mit ihrem Jüngsten zwischen den Büschen beim Brunnen. Herumalbernd wusch sie dem Baby gerade das kleine, verschmutzte Hinterteil. Dann hob sie Manuel aus der Wanne, legte mit der freien Hand eine frische Windel aus Baumwollstoff im Gras zurecht und wickelte ihn geschickt darin ein. Darüber zog nur ein kleines Höschen und lieβ den Kleinen mit einem Holzspielzeug im Gras sitzen. Tief durchatmend drehte sie sich zu Arthurs Vater um.

Sie lächelte nicht. Seit vorgestern Abend hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt.

Er schluckte. Sein spanischer Wortschatz war zwar in den vergangenen drei Wochen dank Luisa so weit angewachsen, dass er einige elementare Ausdrucksformen beherrschte, jetzt wollte ihm jedoch nichts Passendes einfallen. Plötzlich schienen alle unausgesprochenen Dinge zwischen ihnen zu stehen. Beide wussten, dass es Unausgesprochenes gab. Sekundenlang schauten sie sich in die Augen.

„Verflixt bist du schön!“, sagte er schlieβlich auf Deutsch und musste lachen. Sie stimmte erleichtert ein.

Wozu über Dinge reden, die nur in meinem Kopf existiert haben, sagte er sich und reichte Luisa die Hand.

„Danke für alles, und bitte kümmere dich weiter so nett um meinen Kleinen.“

„Mach dir keine Sorgen. Maria Celeste wird ihn sowieso keinen Augenblick aus den Augen lassen“, sagte sie lachend. Dann umarmte sie ihn, küsste seine Wangen und flüsterte: „Adiós“.

Arthurs Vater hatte sehr wohl bemerkt, dass sie dabei einen Seitenblick auf das Küchenfenster warf. Und ihm war sehr wohl bewusst, dass Justina beim Abwaschen einen freien Blick in den Garten hatte.

Luisa begleitete ihn an das Tor. Dort waren Christa und Julius Deisenhofer sowie Miguel und Adalberto bereits dabei, ihr Gepäck auf der relativ kleinen Ladepritsche der „Camioneta“ zu verstauen. Dicht daneben auf der Mauer hockten Arthur und Maria Celeste und alberten fröhlich herum.

Er küsste beide Kinder auf die Wangen, dann hob er seine Reisetasche mit Schwung auf den Wagen. Die Unternehmungslust stand ihm deutlich im Gesicht, als er in Deisenhofers staubigen Ford Pick-up stieg.

Die geschlossene Kabine des wuchtigen Wagens bot Platz für vier oder fünf Leute, jedoch würden nur die Deisenhofers und Arthurs Vater vorn sitzen. Die beiden Arbeiter Miguel und Adalberto kletterten auf die offene Pritsche.

Die Kinder winkten noch, als das Auto längst um die Straβenecke gebogen war. Und auch Luisa stand noch lange gedankenversunken an der Straβe. Sie dachte über Arthurs Vater nach. Sie wurde einfach nicht schlau aus ihm. Obwohl sie die Nacht vor Deisenhofers Ankunft mit einem der Arbeiter verbracht hatte, zeigte er kein bisschen Eifersucht. Er schien allenfalls peinlich berührt gewesen zu sein. Die Gleichgültigkeit, die er in den vergangenen Wochen vor ihr an den Tag gelegt hatte, war vielleicht doch echt gewesen. Selbst wenn sie abends im luftigen Nachthemd an ihm vorübergegangen war, hatte er nie Anstalten gemacht, sich ihr zu nähern. Natürlich hatte sie bemerkt, dass es ihn nicht völlig kalt gelassen hatte, wenn sie in seiner Nähe war, dennoch hatte er nie einen Finger gerührt, um sie zu erobern. Auf der einen Seite schien sie ihm zu gefallen, auf der anderen Seite zeigte er kein Interesse für sie.

Es kam ihr nicht in den Sinn, dass es Männer geben könnte, die sich von einer Frau etwas anderes wünschen, als ein wenig Koketterie, Erotik und blanken Sex.

Hiermit gelange ich an den Punkt, wo ich versuchen will, Luisas Einstellung zu Männern begreifbar zu machen.

Vorweg sei erwähnt, dass das Leben in der ländlichen Gegend, der „Campaña“, wo Luisa ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, kaum etwas mit der Lebensweise in der Hauptstadt gemeinsam hatte. Dort im Landesinneren schien die Zeit still zu stehen. Was heute nicht erledigt werden konnte, wurde mit einem Achselzucken auf morgen verschoben. „Mañana“, morgen, ist wohl deshalb noch heute eine äuβerst wichtige Vokabel im Wortschatz der Leute vom Land. Es ist aber, meiner Meinung nach, falsch, diese Einstellung bei allen mit Trägheit gleichzusetzen. Schicksalsergebene Gelassenheit trifft wohl eher den Sinn des Wortes.

Auch hatten sich die Lebensgewohnheiten über Jahrzehnte hinweg kaum verändert. Die Schulbildung der Landbevölkerung war, wenn sie denn überhaupt stattfand, meist abgeschlossen, sobald ein Kind leidlich lesen und schreiben, Zahlen zu addieren und subtrahieren verstand und sämtliche Helden der paraguayischen Geschichte aufzählen konnte.

Ebenso erstarrt schienen die Familienstrukturen, insbesondere das Verhalten der Männer. In der Welt, in der Luisa aufgewachsen war, gab es Frauen, Kinder und Machos. Der Ausdruck Macho ist hier in all seiner Härte und Klischeehaftigkeit zu verstehen.

Für die Frauen in ihrem Umfeld hatte stets gegolten: setzte deine weiblichen Reize ein, dann schaffst du es vielleicht, wenigstens zeitweise von einem Mann versorgt zu werden! Danach sollten genügend Kinder da sein, die für dich sorgen können. Die eheliche, lebenslange Bindung zweier Menschen wurde zwar als hehres Ziel angestrebt und manchmal vorgetäuscht, jedoch sei jede Frau, die darauf baue, ihr Leben lang für ein und denselben Mann an erster Stelle zu stehen, letzten Endes eine arme Verliererin. Natürlich war Luisas Vater bis zu seinem Tod immer wieder bei seiner Frau und Familie gewesen, jedoch war sich Luisas Mutter durchaus bewusst, dass sie zwar seine rechtmäβige Gattin, keineswegs aber seine einzige Frau war. Genauso wenig wie ihre Kinder seine einzigen Nachkommen waren.

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