Buch lesen: «Lord of the Lies - Ein schaurig schöner Liebesroman», Seite 4

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Kapitel 6

Er wartete regungslos in seinem Versteck und horchte in die Nacht hinein. Sein schneller Herzschlag übertönte in seinen Ohren beinahe die lauten Männerstimmen, die zu ihm in das Gebüsch hallten. Er spürte, wie einzelne Schweißtropfen aus seinem Nacken den Rücken entlang rannen. Obwohl seine Muskeln und Sehnen langsam gegen die starre, zusammengekauerte Haltung rebellierten, zwang er sich so lange ton- und bewegungslos auszuharren, bis sich die Stimmen und damit die Männer entfernen würden. Da ihr Lärm nicht leiser wurde, vermutete er, dass die Gruppe auf der Wiese, nahe der Gondel, angehalten hatte. Die Angst, dass die Männer womöglich die Frau in dem gestrandeten Boot entdecken könnten, ließ ihn nervös schlucken. Erst nach einer Weile vernahm er, wie die Stimmen in die Ferne wanderten und schließlich nur noch die nächtlichen Geräusche des Waldes zu hören waren, die von den weit entfernten Rufen des Suchtrupps begleitet wurden. Er musste sich sputen, denn bald würden sie auch hier nach der Vermissten suchen.

Schließlich wagte sich der Entführer aus dem Gebüsch und hastete auf Zehenspitzen, vorsichtig um sich schauend, über die Wiese, um an das Ufer des Sees zu gelangen. Doch als er dort ankam, war von einer Gondel nichts mehr zu sehen. Sie war verschwunden, samt seinem Opfer, welches er darin abgelegt hatte. Verwirrt drehte er sich um die eigene Achse.

Er war sich sicher, dass das Boot hier gelegen hatte. Der Fels dort drüben und die Eiche daneben, sagten ihm, dass er sich nicht täuschte. Aber dennoch war weit und breit keine Gondel, keine betäubte Jungfrau auszumachen. Eine ungemütliche Hitze durchfuhr den Entführer, der von Panik erfasst wurde. Währenddessen tauchten immer mehr Fackeln in der Finsternis auf, die sich zügig in seine Richtung bewegten. Die Gefahr, von dem Suchtrupp aufgegriffen und der Entführung verdächtigt zu werden, wuchs mit jeder Sekunde. Eine Befragung oder Untersuchung seiner Person sowie seines Anwesens konnte er sich nicht leisten, denn zu viele Beweise würden zu Tage treten, die ihn mit den Kinder- und Jungfrauenmorden in Verbindung brachten. Das konnte er nicht zulassen, wie er ebenso nicht länger nach dem Mädchen suchen konnte, auch wenn der Meister darüber nicht sehr erfreut sein würde. Samael selbst hatte immer wieder betont, dass die Sicherheit des Zirkels vorginge. Jedes Mitglied, das entlarvt werden würde, könnte den gesamten Zirkel gefährden.

Deshalb kannte keiner von ihnen die Identität des anderen. Sie sprachen sich nur mit ihren Decknamen an und waren von dem Meister angehalten worden, unbedingt bei jedem Treffen ihre Masken und Kutten anzulegen. Obwohl vieles von ihnen verlangt wurde, jeder seinen Beitrag leisten musste, war der rote Zirkel das Beste, was ihm je passiert war. Die Zeremonien und die Ideologie, die dahintersteckte und welche Samael verkündete, war genau das, wonach er schon immer gesucht hatte. Seine sexuelle Vorliebe für Kinder und sein Verlangen, ihnen Qualen zuzufügen, hatte er immer geheim halten müssen. Doch im Zirkel konnte er seine Wünsche ohne Hemmungen ausleben. Denn der Meister predigte, dass sie als Menschen das vollkommene Geschöpf seien und es ihre Pflicht als Stärkere wäre, ihr Begehren auf Kosten der Schwachen auszuleben. Für sie, die auserwählten Starken, die gottgleich wären, gäbe es keine gesellschaftlichen Zwänge und keine Konventionen, an die sie sich halten müssten, absolute Freiheit sei die oberste Maxime. Niemals würde er seine Brüder verraten. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft.

In Bedrängnis geraten überlegte der Teufelsanbeter nicht länger, sondern stahl sich in der Dunkelheit davon, ohne einen weiteren Gedanken an sein Opfer zu verschwenden.

*

Es war ein herrlicher Morgen. Der Himmel trug sein wolkenfreies azurblaues Sommerkleid, auf dem sich die Sonne in ihrer ganzen Pracht entfaltete. Die Vögel im Beaumont Park zwitscherten vergnügt ihr Morgenlied. Die Tautropfen, die auf den saftig grünen Grashalmen glitzerten, würden bald verdunstet sein, doch noch verliehen sie der Luft die kühle Frische eines neu anbrechenden Tages.

Der Frühstückspavillon im Beaumont Park, der mitten im See lag und über einen langen Steg zu erreichen war, erfreute sich an diesem Morgen besonderer Beliebtheit bei den adligen Herrschaften. Denn es gab, weiß Gott, nach dem gestrigen Ball, den der Marquess Shutterfield veranstaltet hatte, genügend Neuigkeiten, die weitererzählt werden mussten. Die erhitzten Gemüter ließen die Gerüchteküche hochkochen.

Auch Marquess Shutterfield war im Pavillon anwesend und nahm sein karges Frühstück ein, an einem Tisch mit direktem Blick auf den See. Er war noch immer entsetzt über den fürchterlichen Ausklang des Balls. Ihm gegenüber saß die beleibte Matrone Longbottom, die Pearlene am Abend zuvor belauscht hatte und nun voller Appetit ihren Porridge verspeiste.

»Findet Ihr nicht auch, mein lieber Marquess, dass der Onkel der Baroness Clifford völlig die Fassung verloren hat gestern Nacht? Man konnte sein Brüllen bis in das Musikzelt hören. Es war fürchterlich.«

Shutterfield schüttelte unmerklich den Kopf. »Angesichts der Jungfrauenmorde ist es vollkommen verständlich, dass der Bruder des Duke außer sich war und auf eine sofortige Suchaktion in der Nacht bestand. Der arme Mann trug schließlich die Verantwortung für seine Nichte, die ihm abhandengekommen ist. Es bleibt bloß zu hoffen, dass sie dem Jungfrauenmörder nicht zum Opfer fiel.«

Die Matrone Longbottom schnalzte mit der Zunge. »Nun, könnte es nicht sein, dass die Baroness aus ganz anderen Gründen spurlos verschwunden ist? Schließlich hatte der berüchtigte Schwerenöter Duke Bradford Lyndon offenkundig Interesse an der unscheinbaren Baroness Clifford.«

Der Marquess holte entrüstet Luft. »Madame, was Ihr andeutet, sind bloße Vermutungen. Es gab mehrere Zeugen, die bestätigten, dass die Baroness dem jüngeren Lyndon einen Korb gab und dieser letztendlich mit seinen Freunden in die entgegengesetzte Richtung den Ball verließ.«

»Aber nichtsdestotrotz wäre es eine Möglichkeit. Und dazu eine weitaus gesündere für sie als die andere, wo sie als kopflose, geschändete Jungfrau enden würde«, erwiderte die Matrone mit einem einseitigen Schulterzucken.

Ein plötzliches Getuschel an den benachbarten Tischen ließ den Marquess aufmerksam werden. »Was erregt die Leute denn so?«

Neugierig sahen sich Shutterfield und die Matrone um und entdeckten die Ursache: eine einsame Gondel, die auf dem See trieb.

Shutterfields Augen verengten sich. »Sitzt da ein Mann in dem Boot?«

»Ja! Grundgütiger! Und er ist … nackt!«, staunte Lady Longbottom mit großen Augen.

Indessen starrte der Marquess immer noch angestrengt auf den See. »Er ist nicht allein, da ist doch ...« Er verstummte, denn, was er sah, war skandalös.

»Eine Frau!«, schrie Lady Longbottom aufgeregt. »In Unterwäsche?!« Sie stutzte. »Der Mann, die Statur, die Haarfarbe, das ist unverkennbar einer der Lyndon-Zwillinge. Sehr wahrscheinlich dieser Bradford. Aber die Frau? Dieses blonde Haar…?« Die Augen der Matrone weiteten sich noch mehr.»Shutterfield, ist das womöglich die vermisste Baroness Clifford?«

Die beiden tauschten einen Blick miteinander, um im nächsten Moment wieder zur Gondel zurückzuschauen, in der sich die junge Frau endlich zu ihnen herumdrehte und ihr Antlitz offenbarte, welches dasselbe verwunderte Entsetzen zeigte wie ihres.

Wie aus einem Mund entfuhr es dem Marquess und der Matrone: »Sie ist es!«

*

Noch bevor Pearlene richtig wach wurde, bemerkte sie, dass ihr alles wehtat. Jeder einzelne Knochen schmerzte. Angefangen bei der Schädeldecke bis zu ihren Zehenspitzen. Ihr war speiübel. Sie hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund. Vorsichtig wollte sie sich bewegen, aber es ging nicht. So wie es sich anfühlte, hielt ein schwerer Fels sie an Ort und Stelle fest, erdrückte sie beinahe. Das erklärte auch ihre Schmerzen. Konnte sie ihre Arme heben, um den Stein von sich herunterzurollen? Ja, das ging. Aber … der Fels fühlte sich unter ihren Fingern nicht wie ein Fels an … Er war warm und weich … Warum lag überhaupt ein Fels auf ihr, in ihrem Bett?!

Jäh öffnete Pearlene ihre Lider. Grelles Tageslicht blendete sie, weshalb sie gleich wieder ihre Augen schloss. Aber mit der Erkenntnis, dass sie nicht in ihrem Bett lag, sondern unter freiem Himmel, nahm sie auch das Vogelgezwitscher wahr und das Schwanken der Gondel. Erneut öffnete sie ihre Lider, diesmal jedoch langsamer.

Wo war sie? In einem Boot? Wie war sie hier gelandet?

Sie drehte langsam ihren Kopf und glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Denn der Fels, der sie auf den Boden presste, war ein Mann. Ein Mann aus Fleisch und Blut. Und Pearlene tat das, was jede unerfahrene Jungfrau getan hätte, in so einer Lage: Sie kreischte wie eine Irre und schlug auf den Mann ein, der seelenruhig auf ihrem Busen schlief und dabei leise schnarchte. Panisch schob sie den Fremden an den Schultern von sich und stellte dabei fest, dass er unbekleidet war. Diese Feststellung löste einen erneuten Schreikrampf bei der Baroness aus, der zur Folge hatte, dass der nackte Mann stöhnend zu sich kam.

»Großer Gott! Schrei doch nicht so!« Bradford kniff die Augen zusammen, denn er hatte unsägliche Kopfschmerzen. Benommen richtete er sich auf und hielt sich mit beiden Händen den Kopf, der von einem wummernden Stechen gemartert und demnächst vermutlich zerspringen würde. Er ächzte gepeinigt auf.

Zum Teufel, was war denn los? Der Boden schwankte und wer zur Hölle war die Frau, die wie eine Furie kreischte? Zu allem Übel schrie auch sein Körper vor Schmerzen auf. Er hatte offenbar in einer ziemlich unbequemen Stellung auf der Holden geschlafen, die sich anscheinend nicht mehr an ihn erinnerte. Wobei er sich an sie ebenso wenig erinnern konnte wie an die vergangene Nacht. Da waren nur noch bruchstückhafte Bilder von dem Ball, die durch seinen schweren Kopf schlingerten.

Pearlene war schlagartig die Luft ausgegangen, als sie erkannte, wer der Mann war, der sich allmählich von ihr und auf seine Knie erhob. Fassungslos hechelte sie nach Luft. Es war ein Lyndon-Zwilling und nach allem, was sie von Reeva über die beiden wusste, konnte es nur Bradford sein, der nackt auf ihr gelegen hatte.

Ihr Magen drehte sich und die Übelkeit wurde unerträglich. Sie schaffte es noch gerade rechtzeitig, sich aufzurappeln und den Kopf über Bord zu halten, um sich in den See zu übergeben.

»Oh – nein! Nicht auch das noch!«, jammerte Bradford, als er das Würgen hörte und langsam seine Augen aufschlug. Er sah nur den weißblonden Haarschopf der Frau, die lediglich mit Unterhosen und Mieder bekleidet vor ihm in einer der Gondeln vom Beaumont Park lag und sich in den See erbrach. Doch er wusste sofort, wer die Frau war, denn dieses Blond hatte er bisher nur einmal in seinem Leben gesehen und das war vor ein paar Stunden gewesen. Er hatte die Nacht mit der hübschen Baroness Clifford verbracht und hatte nicht die geringste Ahnung, wie es dazu gekommen war.

Mürrisch hoben sich Bradfords Augenbrauen. »Das ist mir noch nie passiert, dass eine Frau sich übergeben muss, wenn sie mich in ihren Armen vorfindet!«

Schwer atmend wischte sich Pearlene den Mund ab und fragte: »Wer seid Ihr? Der Grand Duke Arden oder sein Bruder Bradford?«

Böse stierte sie zu dem jungen Mann hinüber, um sich eine Sekunde später die Hände vors Gesicht zu schlagen und die Augen zuzukneifen. »Himmel, Ihr tragt ja nicht mal eine Hose! So bedeckt doch endlich Eure Blöße mit irgendetwas!«

Hitze stieg in Pearlenes Wangen, denn noch immer konnte sie den herrlich kräftigen Körper des Duke im Geiste vor sich sehen. Dieser eine Augenblick hatte gereicht, um sich jede Einzelheit seiner bemerkenswerten Erscheinung in ihr Gedächtnis einzubrennen. Seine braune Mähne war noch in einem lockeren Zopf gefangen. Während das Blau seiner Augen mit dem des Himmels um die Wette strahlte, schimmerte seine Haut am gesamten Körper in einem goldenen Braun. Arme, Brust, Bauch und selbst seine Oberschenkel schienen nur aus Muskeln zu bestehen. Sogar sein Geschlecht, das vor einem Nest aus schwarzen Schamhaaren baumelte, kam ihr riesig vor. Sie hatte zwar noch nie einen erwachsenen Mann nackt gesehen, aber sein Glied, das er so offenherzig zur Schau stellte, war erschreckend größer, als sie es jemals bei einem der Jünglinge gesehen hatte, mit denen sie als Kind gebadet hatte.

Bradford schwankte. Obwohl sein Schädel gleich in Einzelteile zerfallen wollte, schmunzelte er über das Gebaren der Baroness. »Wenn Ihr darauf besteht, lege ich mir die Decke über. Und wenn es schon nach Euren Wünschen geht, wer sollte ich denn Eurer Meinung nach sein?«

Pearlene schnaubte zornig in ihre Hände. »Eigentlich wünsche ich mir, dass Ihr Euch in Luft auflöst, aber da das wahrscheinlich nicht passieren wird, bestehe ich unbedingt darauf, dass Ihr Euch bedeckt. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihr Bradford seid, denn Euer Bruder Arden würde einer Frau so etwas gewiss nie antun!«

»Ihr könnt jetzt ohne Gefahr wieder zu mir sehen, Baroness. Aber ich muss Euch widersprechen: Was meinen Bruder angeht, habt Ihr keine Ahnung, zu was er fähig ist, und ich habe Euch gar nichts angetan.« Grübelnd zog sich Bradfords Stirn in Falten. »Denke ich zumindest … Andernfalls kann ich mich nicht mehr daran erinnern?«

Pearlene nahm die Hände herunter. Sie wollte ihre Augen in einer missbilligenden Geste über die Gestalt des Dukes wandern lassen, um ihm deutlich vorzuführen, für was für einen verkommenen Schuft sie ihn hielt. Allerdings hatte er die Decke nur um seine Hüften geschlungen und bot ihr noch immer seinen muskulösen Oberkörper dar, der ihr den Atem nahm und sie vergessen ließ, was sie beabsichtigt hatte. Die Baroness schüttelte den Kopf, um ihre Sinne zur Ordnung zu rufen.

»Ich liege also richtig mit meiner Vermutung, dass Ihr Bradford seid. Aber wenn Ihr mir nichts angetan habt, warum liege ich dann mit Euch in dieser Gondel?«, keifte sie ihn an.

Bradfords Züge wurden ernst. »Das Gleiche könnte ich Euch fragen? Ich habe mich nämlich nicht ausgezogen und zu Euch ins Boot gelegt. Vielleicht wart Ihr das?«

Empört riss Pearlene die Augen auf, doch Bradford war nicht zu stoppen.

» Vielleicht wolltet Ihr mich auf diese Weise zu einer Heirat zwingen?«

Die Baroness hievte sich hoch auf die Füße und rang nach Luft. »Das ist ungeheuerlich, was Ihr da behauptet!«

Bradford erhob sich ebenfalls. »Vielleicht ist das alles eine ausgeklügelte Intrige gegen mich? Gebt zu, dass Ihr Euch selbst bis auf die Unterwäsche ausgezogen und Euch zu mir gelegt habt?«

Pearlene blickte überrascht an sich herunter und schnappte wie eine Forelle auf dem Trockenen nach Wasser, als sie sah, dass sie nur noch das Mieder und ihre Unterhose trug. »Wie ist denn das ...? O Gott! Gebt mir die Decke!«

Verzweifelt versuchte sie, Bradford die Decke zu entwenden, doch dieser hielt sie fest.

»Nein, das ist Eure Strafe dafür, dass Ihr mich entführt habt, und außerdem finde ich Euren Anblick so ganz entzückend.«

»Ihr seid vollkommen verrückt. Das ist doch alles völlig absurd.« Außer Puste von dem sinnlosen Unterfangen, die Decke zu ergattern, gab Pearlene schließlich auf und heulte resigniert: »Denkt doch mal nach! Wie sollte ich Euch ausziehen und in das Boot schleppen können? Ihr seid ein Koloss von einem Mann, ich könnte Euch niemals allein …«

»Vielleicht hattet Ihr Gehilfen?«, unterbrach Bradford sie ungestüm.

Pearlene warf fassungslos die Hände in die Luft. »Wer würde mir denn bei so etwas helfen? Das ist ja lächerlich.«

»Aha! Und genauso lächerlich ist auch Eure Behauptung, dass dieses ganze Fiasko in meiner Absicht liegen würde. Glaubt Ihr, ich lege es darauf an, zu einer Ehe mit Euch genötigt zu werden? Bei Gott, wenn ich mich mit einer Jungfrau vergnügen wollte, würde ich das bestimmt nicht im Beaumont Park machen, wo mich halb London dabei ertappen würde. Anscheinend sind wir beide, ohne unser Wissen, betäubt worden und mir fällt dazu nur eine Möglichkeit ein, wie das passieren konnte: Euer Glas mit dem Punsch, aus welchem wir beide getrunken haben!«. Erwartungsvoll schaute Bradford sie an.

Und die Baroness erstarrte. Entgeistert flüsterte sie: »Ihr habt Recht! Das ist die einzige Erklärung dafür, dass wir beide ohnmächtig waren. Aber wer brachte uns gemeinsam in die Gondel?«

Plötzlich wurde Bradford bleich und seine Augen kugelrund. »Verdammte Scheiße!« Zögernd wisperte er: »Dreht Euch jetzt besser nicht um, Baroness, und fangt bitte nicht wieder an, zu kreischen oder in den See zu reihern.«

Doch mit diesem Satz erreichte der Duke so ziemlich genau das Gegenteil und Pearlene wandte sofort ihren Kopf.

Während ihres Gesprächs war die Gondel, von ihnen unbemerkt, weiter über den See vor den Pavillon getrieben, in dem unzählige Leute saßen und interessiert ihren Streit beobachteten. In deren Gesichtern spiegelte sich von Schadenfreude über Missbilligung bis hin zu Überraschung und Schock alles wider.

»Um Gottes willen!«, hauchte die Baroness.

Obwohl sie die Menschen nur verschwommen wahrnahm, hörte sie nun getuschelte Gesprächsfetzen und Wörter, die über das Wasser zu ihnen schallten. Überrumpelt von der Lage, in der sie sich auf einmal wiederfand, stolperte sie neben Bradford, ihren Leidensgenossen, der bitter den Mund verzog.

»Hervorragend gemacht, Baroness, jetzt hat auch wirklich jeder Euer Gesicht gesehen!«

In ihrer Panik versuchte Pearlene, ihm erneut die Decke wegzunehmen. Abermals gab es ein Gerangel um das Stück Stoff zwischen ihnen. Beide zogen und zerrten verbissen an der Decke herum, während sie mit ungläubigen Mienen den Frühstückspavillon nicht aus den Augen verloren.

»Lasst los, ich bin nur in Unterwäsche!«, zischte Pearlene verärgert, woraufhin der Duke leise knurrte.

»Vergesst es! Schließlich bin ich derjenige, der nackt ist.«

»Das war leider nicht zu übersehen, aber ich bin schließlich eine Dame.«

Mit einem beherzten Ruck gelang es Pearlene, Bradford die Decke abzunehmen und sich in diese einzuhüllen. Der verbarg daraufhin sein Geschlecht notdürftig unter der rechten Hand und fügte sich mit einem lauten Seufzer seinem Schicksal.

»Und ich bin anscheinend ein Gentleman!«

Mit dem linken Arm vollführte der Duke eine elegante Bewegung, als grüße er jemanden auf der Straße unter ganz gewöhnlichen Umständen. In einer vornehmen Verbeugung rief er laut und deutlich, in Richtung der gaffenden Menge: »Marquess Shutterfield, seid gegrüßt, was für eine Freude Euch zu sehen! Ein wunderbarer Morgen, nicht wahr? Mein Lieber, wärt Ihr wohl so gut, mir Euer Tischtuch zu reichen?«

Kapitel 7

Londoner Stadthaus der Familie Stuart Clifford

»Ich wünschte, ich hätte deinen Punsch getrunken.« Reeva ließ sich mit unverhohlener Enttäuschung über diesen Umstand auf Pearlenes Bett fallen, sodass ihre Locken wippten. Traurig beobachtete sie ihre Cousine dabei, wie diese ihre Kleider und übrigen Utensilien wieder in Koffer und Truhen verstaute, die sie erst gestern ausgepackt hatte.

Pearlene schüttelte aufgebracht den Kopf. »O nein, glaub mir, wenn du so wie ich heute Morgen nur in Unterwäsche, vor den Augen des gesamten Hochadels, im Park aufgewacht wärst, würdest du dir das nicht wünschen.«

»Aber Bradford war bei dir, die ganze Nacht. Und …« Reeva zögerte einen Moment, bevor sie im Flüsterton weiterredete. »… ich habe genau gehört, wie Mama deine Sätze vor lauter Schreck wiederholte und sagte, dass er unbekleidet war.«

Mit einem Seufzer warf Reeva ihren Kopf in den Nacken, schloss kurz die Augen und stand stürmisch auf, um sich Pearlene in den Weg zu stellen. Sie packte die Hände ihrer blonden Cousine und drückte diese sacht. »Mein Gott, Pearlene, vielleicht wird er dich heiraten müssen, nach diesem Skandal. Einer der begehrtesten Junggesellen Londons wird dich möglicherweise zu seiner Ehefrau machen.«

Pearlene schoss das Blut in die Wangen, weil Reeva das aussprach, was sowohl ihre Tante als auch ihr Onkel schon angedeutet hatten. Und dieser Gedanke, Bradford Lyndon heiraten zu müssen, stürzte sie in nervenaufreibende Verwirrung. Einerseits fand sie den Duke anziehend, er war zugegebenermaßen ein blendend aussehender Mann, aber andererseits … war er der schlimmste Weiberheld, den sie kannte, und ein unmöglicher Flegel. Würde sie ihn wirklich heiraten müssen? Ihr Herz raste bei der Vorstellung, dass sie mit dem groß gewachsenen Duke womöglich bald das Ehebett teilen würde und indirekt vermutlich mit hundert anderen Frauen, mit denen er sie betrogen hatte und noch betrügen würde. Wollte sie das?

Pearlene war kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Morgens in der Gegenwart des nackten Bradford in Unterwäsche vor lauter Fremden aufzuwachen und dann auch noch von ihm und Marquess Shutterfield in dessen Kutsche nach Hause gefahren zu werden, war einfach zu viel für sie. Eine unfassbare Peinlichkeit hatte die nächste gejagt. Es war schrecklich gewesen, dem Duke, der lediglich in seinem Tischtuch dagesessen hatte, in solch engem Raum ausgeliefert zu sein. Seine Augen hatten sie bedrängt. So sehr sie auch versucht hatte, sich in der Decke zu verstecken und seine Anwesenheit zu ignorieren, hatte sie stets dieses Prickeln auf ihrer Haut verspürt. Ein Prickeln, das einem sagte, dass man mit Blicken förmlich verschlungen wurde.

Unwillkürlich schüttelte die Baroness den Kopf und entzog Reeva ihre Finger, um weiter ihre Truhe zu packen. »Ich will darüber gar nicht nachdenken, Reeva. Ich fahre mit Kolton jetzt erst einmal wieder zurück zu unseren Eltern aufs Land. Ich danke Gott, dass Dr Vance kam und es meinem Bruder wieder besser geht, sodass wir uns noch heute Mittag auf den Nachhauseweg machen können. Vater wird wissen, was in dieser prekären Situation zu tun ist.«

Reeva folgte ihrer Cousine auf den Fersen und fragte leise: »Wie sah Bradford aus, Pearlene?«

Fassungslos drehte sich Pearlene zu ihr um, sagte jedoch kein Wort.

Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Reevas Zügen. »Du weißt schon, so ohne Kleider, ist er wirklich so gut gebaut, wie es den Anschein hat?«

Verlegen strich sich Pearlene die Haare aus dem Gesicht und wandte sich wieder ihren Koffern zu.

»Ich … denke schon«, nuschelte die Baroness kurz angebunden und hoffte, damit Reevas Neugier endgültig gestillt zu haben. Munter plapperte sie daraufhin weiter, um schnell das Thema zu wechseln. »Vielleicht gehe ich zu meinen Verwandten ins Ausland für eine Weile. Ja, das sollte ich wirklich tun. Vielleicht finde ich dort einen Ehemann und komme gar nicht mehr zurück.«

Reeva verzog abweisend den Mund. »Wie kannst du jetzt nur daran denken, England zu verlassen? Ich hoffe, dass Onkel Wilburn seine Vaterpflichten wahrnimmt und darauf besteht, dass Bradford deine Ehre rettet und dich heiratet. Sicherlich wird er sich mit dem Grand Duke in Verbindung setzen.«

Pearlene verharrte in ihrer Bewegung und erbleichte. Allmächtiger, was würde Arden bloß von ihr denken? Sie schloss voller Ingrimm die Lider, da sie sich nicht erklären konnte, weshalb sie nun an Bradfords Zwillingsbruder dachte und warum es ihr so wichtig war, was dieser über sie denken würde. Dabei sollte sie sich lieber Sorgen machen, was ihre Eltern zu dem irreparablen Fauxpas sagen würden, der ihr unterlaufen war. Sie war wahrscheinlich kurz davor, verrückt zu werden, was kein Wunder war.

Mutlos öffnete Pearlene wieder die Augen und schritt niedergeschlagen zum Fenster. Sie schob gerade die Gardinen zur Seite, als unten auf der Straße, direkt vor ihrem Haus, eine Kutsche anhielt. Ein großes Wappen war an der Kutschentür angebracht, in dessen Mittelpunkt ein goldener Lindenbaum prangte. Verwundert beobachtete Pearlene, wie sich die Tür öffnete und ein großer braunhaariger Mann in dunklen Kleidern ausstieg. Er blieb auf den Pflastersteinen vor der Eingangstreppe stehen, hob den Kopf und schaute zu ihrem Fenster hinauf, direkt in ihr Gesicht. Atemlos ließ Pearlene sogleich die Vorhänge zurückfallen und machte einen Schritt nach hinten.

Sie hatte die Züge des Besuchers nicht deutlich erkennen können, aber die blauen Augen gehörten eindeutig einem Lyndon-Zwilling. War das etwa Arden, der Grand Duke? Vermutlich, nach der Wahl seiner Kleider zu urteilen schon. Herr im Himmel, was hatte das zu bedeuten?

*

In grimmiger Entschlossenheit stieg Arden aus der Kutsche. Immer wieder sagte der Grand Duke sich, dass es das einzig Richtige war, dies zu tun, auch wenn ihn das schlechte Gewissen plagte. Aber letztendlich war es die beste Entscheidung, sowohl für die Baroness und deren Familie als auch für seine. Selbst wenn es Bradford nicht gefallen würde, er konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Es stand für beide Parteien weitaus mehr als nur ihre Familienehre auf dem Spiel. Bei Gott, es war wahrlich kein Spiel, schon lange nicht mehr!

Sein Blick wanderte betrübt über die Fassade des Gebäudes, in dem die Baroness zurzeit wohnte. Es war das Stadthaus ihres Onkels, dem ebenso sein Besuch galt. Für einen kurzen Moment sah er das zarte Gesicht der Baroness hinter einem der oberen Fenster. Der Grand Duke hatte keine Zweifel daran, dass sie es war, denn ihr auffällig verlockender Mund war unverwechselbar. Leider verschwand die junge Frau jedoch aus seinem Sichtfeld. Arden schmunzelte, denn der kleine unerwartete Stich in seiner Brust, den ihr Anblick ausgelöst hatte, bestärkte ihn umso mehr in seinem Entschluss.

Beschwingt erklomm er die Stufen und benutzte den bronzenen Türklopfer, dessen tiefes Dröhnen unüberhörbar durch das Haus hallte. Ein Diener öffnete schließlich die Tür und Arden stellte sich vor.

»Ich bin Grand Duke Lyndon und habe ein dringendes Anliegen, das ich mit Lord Clifford persönlich zu klären habe.«

Der Diener verbeugte sich. »Willkommen, Grand Duke. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet. Ich unterrichte meine Lordschaft über Euren Besuch.«

Arden nickte und betrat das Haus. Der Bedienstete brachte ihn in ein Schreibzimmer, das dem Anschein nach bloß dem Herrn des Hauses vorbehalten war, und ließ ihn allein. Der Grand Duke sah sich interessiert um. Das Zimmer war mit einem massiven Schreibtisch und mehreren Regalen bestückt, in denen Bücher und Schriftrollen fein säuberlich verwahrt ruhten. Neugierig ging Arden auf die Schriftstücke zu, als sein Fuß plötzlich gegen etwas stieß, das lautlos über den Teppich rollte. Der Grand Duke bückte sich nach dem Gegenstand, der sich als Siegelring herausstellte. Er betrachtete das Schmuckstück, welches er zwar für wertvoll, aber auch für hässlich befand, und legte es auf den Schreibtisch, von dem es offensichtlich heruntergefallen war.

Alles in dem Zimmer wie auch die Vorhalle des Hauses, die Möbel und das überaus gepflegte Personal deuteten darauf hin, dass die Familie Clifford sehr wohlhabend war. Nach den Informationen, die er über sie in Erfahrung gebracht hatte, war das keine Überraschung. Pearlene war eine wohlerzogene Lady und ihr Ruf, wie der ihrer Sippe, war bis heute Morgen untadelig gewesen. Daher stand einer Verbindung ihrer zwei Familien nichts im Wege. Nein, im Grunde war sie sogar wünschenswert. Sehr sogar, wenn er genauer darüber nachdachte.

Die Tür öffnete sich und Pearlenes Onkel trat ein. Lord Clifford ging mit forschem Schritt auf Arden zu und reichte ihm die Hand.

»Grand Duke Lyndon, es ist mir eine Ehre, Euch in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Nichtsdestotrotz bin ich mir darüber im Klaren, dass Euer Erscheinen lediglich mit den unglaublichen Geschehnissen der vergangenen Nacht zusammenhängt.«

» Ich danke Euch für die freundliche Begrüßung. Ja, die Umstände zwingen uns alle, nun schnell zu handeln, um größeren Schaden abzuwehren.«

Der Lord nickte und zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Setzen wir uns.«

Arden nahm Platz und beobachtete, wie der rothaarige Mann sich hinter den Schreibtisch setzte. Während der Lord begann, Ordnung auf dem Pult zu schaffen, und verschiedene Dinge in die Schubladen verstaute, trug der Grand Duke sein Anliegen vor.

»Wir beide wissen, dass die kompromittierende Situation im Beaumont Park, in der sich mein Bruder und Eure Nichte heute Morgen wiederfanden, uns nur einen Ausweg lässt. Die beiden müssen heiraten. Mit anderen Worten: Ich bitte im Namen meines Bruders, Bradford, um die Hand Eurer Nichte, der Baroness Pearlene Clifford.«

»Natürlich und ich denke, ich spreche für meinen Bruder Wilburn, wenn ich sage, dass wir Euer Eingreifen und Euren Antrag sehr zu schätzen wissen. Selbstverständlich werde ich Pearlene und ihrem Vater den Antrag Eures Bruders zukommen lassen. Ohne Euch Hoffnungen machen zu wollen, denke ich jedoch, dass beide zustimmen und den Antrag annehmen werden. Zugegebenermaßen ist dies die beste Alternative für meine Nichte, sie kann sich glücklich über diese Lösung ihrer misslichen Lage schätzen. Vermutlich werdet Ihr ebenso froh darüber sein, dass Euer Bruder in den Stand der Ehe eintreten wird.«

Arden holte tief Luft und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Wohl wahr, Mylord, auch wenn mein Bruder dies anders sehen wird. Aber er wird den gestellten Erwartungen nachkommen, dafür werde ich persönlich sorgen.«

Kritisch sah der Lord auf. »Wie mir scheint, können wir uns beide nicht vollkommen sicher sein, dass die zwei Betroffenen ihr Einverständnis zu einer Ehe geben werden?«

Die Augenbrauen des Grand Duke zogen sich zusammen. »Ihr solltet Eurer Nichte deutlich machen, dass sie sehr wahrscheinlich nur knapp dem Jungfrauenmörder entgangen ist. Denn sie wurde von einem Unbekannten verschleppt und nicht wie Bradford von seinen übermütigen Freunden entkleidet und in jener Gondel abgelegt. Diese wussten nicht, wie sie mir vor wenigen Stunden versicherten, dass die Baroness ebenfalls in dem Boot lag. So gern man diese jungen Männer deswegen zur Verantwortung ziehen möchte, muss man ihnen jedoch vielmehr dankbar sein, da durch ihr Auftauchen und ihr tolldreistes Handeln der Baroness das Leben gerettet wurde. Was aber auch bedeuten könnte, dass sie noch immer in Gefahr schwebt – wenn sie noch Jungfrau ist, nach gestern Nacht. Was uns zum nächsten Argument für diese Ehe führt: Was, wenn sie keine Jungfrau mehr ist und letzte Nacht möglicherweise ein Kind gezeugt wurde? Auch wenn dies nicht den Tatsachen entsprechen sollte, sich die Beteiligten an nichts dergleichen mehr erinnern, können wir es nicht ausschließen. Abgesehen davon glaubt die Öffentlichkeit bereits jetzt schon, dass der Akt vollzogen wurde.«

Der kostenlose Auszug ist beendet.