Buch lesen: «Liebesengel küssen nicht», Seite 5

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»Danke. Ich finde Ihre Jeans total gut. So eine suche ich schon eine Weile. Vielleicht sollten wir mal gemeinsam shoppen gehen.«

Jetzt lache ich und strecke ihr meine Hand entgegen. »Hi, ich bin Evodie. Ich warte auf Max Kinz, den ich hier abholen soll, allerdings muss ich so tun, als würde ich ihn nicht kennen.«

»Was?«, kichert Susan verblüfft und reicht mir die Hand. »Ich bin Susan Hunz, die Mutter von Leon. Sie sind die Mutter von dem Max, der neu in Leons Klasse ist?«

Ich entschließe mich, so viel Info wie möglich in die Antwort zu packen, die Susan gleich den richtigen Eindruck vermitteln soll. »Ja, Max ist mit seinem Vater vor Kurzem hierhergezogen. Herr Kinz ist seit drei Jahren Witwer. Ich bin lediglich die Tagesmutter von Max, und heute ist mein erster Arbeitstag.«

Wie zu erwarten, taucht in Susans Augen Mitgefühl auf, und ich lobe mich im Geiste, die Begriffe Tagesmutter und Witwer verwendet zu haben.

»Oh!«, haucht sie betroffen. »Das ist traurig, also das mit Max‘ Mutter, nicht dass Sie seine Tagesmutter sind. Also doch schon irgendwie, aber …« Zerknirscht winkt sie ab. »Ach, entschuldigen Sie, ich halt jetzt einfach den Mund, sonst mache ich es mit meinem Geplapper nur noch schlimmer.«

Um sie zu beruhigen, grinse ich sie freundlich an. Sie ist mir wirklich sympathisch.

»Nein, ist doch ok. Ich hätte vielleicht nicht auf einmal so viel offenbaren sollen.«

»Ach was, ich bin etwas durch den Wind. Ich hatte gerade ein Gespräch mit dem Schulleiter, wegen Leon. Zum zweiten Mal schon.« Sie seufzt enttäuscht und wirkt dabei peinlich berührt, weil sie die Geschichte erzählt hat.

Der Morgen war, wie ich weiß, ganz schön hart für Susan, weswegen ich versuche, sie aufzumuntern.

»Mmh – und? Sieht der Rektor wenigstens gut aus, sodass es sich gelohnt hat?«

Im ersten Moment starrt sie mich verdattert an, doch dann lächelt sie. »Nur, wenn Sie auf ältere Herren mit Schnauzer und Hosenträgern stehen.«

Wir kichern beide, und ich japse: »Nein, nicht wirklich.«

Darauf stöhnt sie befreit auf. »Dachte ich mir. Danke, das hat mir gerade den Tag gerettet. Ich war kurz vorm Verzweifeln.«

Sie schluckt, und schon purzeln ihr die Worte aus dem Mund. »Ich meine, Leon ist wirklich ein lieber Junge, aber manchmal ist er so … voller Wut. Ich weiß nicht, was ihm durch den Kopf geht. Heute hat er sich mit einem Viertklässler angelegt.«

Ich will etwas erwidern, aber in dem Moment ertönt der Schulgong, und keine Sekunde später öffnet sich die Tür. Es quillt eine Flut bunter Schulranzen heraus. Unter den wild durcheinander rennenden Kindern versuche ich, mir einen Überblick zu verschaffen – wie auch Susan.

Sie schwingt sich zielstrebig auf die andere Straßenseite und schnappt sich einen rothaarigen Lockenkopf. Mit einem kurzen Winken verabschiedet sie sich und trottet mit dem Jungen in die gleiche Richtung davon, die Max und ich ebenfalls nehmen müssen. Falls der mal auftauchen sollte.

Ich warte und bekomme schon langsam Panik, als ich endlich einen Nachzügler erspähe, der Max‘ braunen Haarschopf hat. Er ist einer der Letzten, die das Schulgebäude verlassen. Mit hängendem Kopf schlurft er die Treppe hinunter und gelangt auf den Gehweg. Urplötzlich bleibt er stehen und schaut sich um. Schließlich fällt sein Blick auf mich, und von Weitem kann ich sein fröhliches Zahnlückengrinsen erkennen.

Auffällig zwinkere ich ihm zu, und er überquert lächelnd die Straße, um den Heimweg anzutreten. Immer fünf Schritte hinter ihm, folge ich seinem Spiderman-Schulranzen, der ziemlich schnell davonwackelt – für so kurze Beine.

KAPITEL 8

EIN NACHMITTAG VOLLER

GEFÜHLE

Vor der Eingangstür seines Zuhauses zieht Max seinen Schulranzen aus und fängt an, darin nach dem Türschlüssel zu suchen. Ich steige die Treppe hoch und bleibe hinter ihm stehen. »Hallo, Max, alles klar?«

Er hebt seinen Kopf, und ein freundliches Strahlen erscheint auf seinem runden Jungengesicht.

»Hallo, Evodie. Ja, ich muss nur noch den blöden Schlüssel finden.« Abermals versenkt er den Kopf in seinem Ranzen, bis ich ihn mit kratziger Jungenstimme rufen höre: »Ah … da ist er.« Stolz zieht er den Schlüssel heraus und lässt ihn vor seiner Nase baumeln.

»Super. Dann brauch ich doch nicht durchs Fenster zu krabbeln«, erwidere ich trocken.

Max kichert. »Nein. Das geht doch gar nicht, die sind alle verschlossen. Da wärst du nie reingekommen.«

Ich kann es nicht lassen, vor dem kleinen Kerl anzugeben. »Hast du eine Ahnung! Ich komme überall rein, wenn ich will.«

Max schließt umständlich die Tür auf, und ich folge ihm in den kühlen Flur. Jonas‘ Aftershave liegt in der Luft, was meinen Magen in Schwingungen versetzt.

»Papa, wird gleich mit der Pizza kommen«, sagt Max und geht die Diele entlang bis zu der Treppe, die ins Obergeschoss führt.

Auf der untersten Stufe stellt er seinen Schulranzen ab und öffnet auf der linken Seite des Flures die Tür, die uns direkt ins Esszimmer führt. Ein langer, moderner Holztisch mit acht hellen Lederstühlen steht vor einer Glasfront, hinter der man den wunderschön grünen Garten ausmachen kann. Die Küche schließt direkt an den Essbereich an, und nur eine Theke mit drei Hockern grenzt den dahinterliegenden Kochbereich ab. Der große Raum wirkt durch die hellen Farben und die großen Fenster freundlich. Max öffnet den Riegel einer breiten Terrassentür und schiebt sie lautlos zur Seite. Vogelgezwitscher und eine laue Sommerbrise dringen zu uns herein.

»Wo sollen wir essen, Evodie? An der Theke oder am Tisch?«, fragt mich Max und wuselt geschäftig in die Küche. Seine braunen Haare flattern bei jeder Bewegung, und auf seinen Wangen liegt ein erfrischendes Rosa. Man sieht ihm an, dass er aufgeregt ist, einen Gast zu haben. Ich parke meine Handtasche auf einem der Stühle und schlendere zu ihm in die Küche, wo er sich bereits einen Hocker besorgt hat, um an die höher gelegenen Schränke zu kommen.

»Wo würdest du denn am liebsten essen?«, antworte ich mit einer Gegenfrage.

Max schaut zur Theke und leise überlegt er: »Normalerweise essen Papa und ich immer dort drüben, an der Theke, aber heute Mittag würde ich gern am Tisch sitzen.«

Seine Augen schillern blau, und ich schlucke den Kloß im Hals hinunter. Natürlich will Max am Tisch essen, so wie es jede Familie, mit Vater Mutter und Kind, tun würde.

»Gute Idee, Max, da können wir uns besser unterhalten«, lächle ich zustimmend und helfe ihm, drei Teller aus dem Schrank zu holen. Max sagt mir, wo die Gläser zu finden sind, während er das Besteck hinlegt. Er platziert gerade das letzte Messer, als wir Jonas rufen hören.

»Hallo, jemand zu Hause?«

»Ja. Papa!«, schreit Max und saust zur Tür, die in den Flur geht.

Jonas spickt zu uns herein. In einer Hand hält er drei Pizza-Schachteln, und mit der anderen verstrubbelt er fröhlich lachend seinem Sohn die Haare. Dieser stößt schließlich die Tür ganz auf, damit sein Vater eintreten kann.

»Hey, Großer, hat alles gut geklappt?« Mit einem fragenden Ausdruck sucht Jonas meinen Blick, und ich nicke unmerklich, weil ich Max nicht ins Wort fallen will, der liebevoll seinen Vater umklammert.

»Kein Problem, Papa. Evodie hat vor der Schule auf mich gewartet. Und wie versprochen, hat sie mich nach Hause begleitet, ohne mit mir zu reden.«

»Cool«, meint Jonas dazu, und seine Lippen formen ein lautloses »Danke« in meine Richtung.

Ich zucke vielsagend mit den Achseln und nehme meinem Chef die Pizzas ab, die ich auf den Esstisch stelle. Zügig zieht Jonas sein Jackett aus und hängt es über einen der Barhocker.

Die Herren stellen sich rechts und links neben mich, und zu dritt begutachten wir unsere Mahlzeit in den Kartons, die ihren köstlichen Duft nach gebackenem Brot, Käse und Tomaten verbreitet.

»Mmmh, lecker«, wispert Max, während ich genau das Gleiche denke und Jonas‘ Anwesenheit überdeutlich an meiner rechten Seite wahrnehme.

Er hat seine Hemdsärmel hochgekrempelt und hilft mir mit den Verpackungen, wobei sich unsere Unterarme immer wieder berühren. Zart kitzelnde Blitze schlagen dort auf meiner Haut ein, wo ich seine Wärme spüre.

Um meine durcheinandergeratenen Gefühle auf den Teppich zurückzuholen, wende ich mich an Max. »Genau das wollte ich auch gerade sagen.«

Gemeinsam verteilen wir die verschiedenen Pizzen auf unseren Tellern, und ich nehme gegenüber von Jonas Platz, der mir mit einem herrlichen Lächeln die Gehirnwindungen leerfegt. Dümmlich blinzelnd erwidere ich seinen Blick und könnte insgeheim schwören, dass er mit seinem Grinsen noch einen Zahn zugelegt hat, damit ich noch verlegener werde. Zu meiner Rettung reißt Max das Gespräch an sich.

»Heute gab es mal wieder Ärger«, schmatzt er und genießt es sichtlich, zwei Zuhörer zu haben. »Der rothaarige Junge, ich glaube, Leon heißt er, wurde zum Rektor gebracht.«

Wachsam beobachte ich Jonas, denn das war gar kein guter Einstieg für Leon, der Susans Sohn sein musste.

»Nanu, warum das denn?«, fragt Jonas mit zusammengezogenen Brauen.

Max genehmigt sich erstmal einen ausgiebigen Schluck von seinem Mineralwasser, bevor er spricht. Er kämpft gegen die Kohlensäure an, die in seiner Speiseröhre aufsteigt, was man ihm auch ansieht und mich schmunzeln lässt.

»Ein Viertklässler hat Leon geärgert, weswegen er dann auf ihn losgegangen ist.«

»Ganz schön mutig, der war doch bestimmt zwei Köpfe größer als dieser Leon, oder?«, wage ich einzuwerfen, um etwas Positives über Leon anzubringen.

»Ja, aber das stört den Leon nicht, ich glaub, wenn der sauer ist, würd er auch gegen ‘ne Wand rennen«, sagt Max, ohne zu zögern.

Jonas‘ kritischer Blick wird noch ernster. »Das ist nicht mutig, sondern … jähzornig, würde ich sagen.«

Meine Augen werden schmal, als ich Jonas ins Visier nehme. »Wer weiß, was der Junge durchgemacht hat. Ich habe heute Morgen vor der Schule seine Mutter kennengelernt, und sie macht einen ganz netten Eindruck. Ich glaube, sie ist ebenfalls alleinerziehend.«

Unverhohlen stiert Jonas mich an. »Wollen Sie mir damit sagen, dass Leon lediglich eine männliche Bezugsperson fehlen könnte und er kein verzogener Bengel ist?«

»Möglicherweise«, flöte ich leger, mit dem Glas Sprudel in meiner Hand, und trotze seiner herrischen Art.

»Oh, das wusste ich nicht, dass Leon keinen Papa hat«, kommentiert Max unser Blickduell.

Zutraulich beuge ich mich meinem Schützling entgegen. »Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob Leon nur mit seiner Mutter zusammenwohnt, aber ich vermute schon.«

Max nickt und spielt plötzlich nachdenklich an den Rillen seines Trinkglases herum. Auch wenn ich für Leon keinen Blumentopf bei Jonas gewinnen konnte, so habe ich wenigstens Max einen Denkanstoß verpasst. Ja, Leon hat mit ihm doch mehr gemein, als er vermutet hat, und das wird dem braunhaarigen Jungen gerade bewusst.

Jonas schiebt den Teller von sich. »So, ich sollte mich wieder auf ins Büro machen, vielleicht schaue ich heute Nachmittag nochmal rein. Ansonsten bin ich kurz nach siebzehn Uhr wieder hier.«

Mein Chef steht auf und zieht sein Jackett an, während ich die Teller einsammle und zum Geschirrspüler bringe.

»Vielen Dank für das Essen, Jonas«, bemerke ich nebenbei.

Ächzend zerrt er an dem Hemdkragen unter seinem Jackett herum. »Keine Ursache. Falls irgendein Problem auftaucht, haben Sie ja meine Handynummer, unter der können Sie mich jederzeit erreichen.«

Ich stelle das Geschirr weg und reibe fix meine Hände an meiner Jeans ab, um ihm zur Hilfe zu eilen. Mit nervösen Fingern nestle ich an seinem Hals herum und versuche, mich bloß auf seinen Hemdkragen zu konzentrieren. Schwer atmend bemerke ich, wie Jonas still hält und wie seine Finger immer wieder sanft den meinen in die Quere kommen.

Nein, das Kratzen seiner Bartstoppeln über meine Fingerknöchel finde ich überhaupt nicht erregend. Auch sein Adamsapfel, der merklich unter meinen Augen hüpft, bringt mich nicht um den Verstand.

Sein wundervolles Grübchen, im Kinn, schwebt vor meiner Nase, und ehe ich mich versehe, hängt mein Blick an seinen Lippen fest. Es gelingt mir tatsächlich, mich davon zu lösen. Doch zu früh gefreut, denn prompt bleibe ich wieder an seinen blauen Augen kleben, die völlig irritiert über mein Gesicht gleiten. Mein Herz nimmt sich vor, zur Feier des Tages doppelt so laut zu schlagen, während meine Knie die Koffer packen und mehrere Tage Urlaub beantragen.

Ich räuspere mich, um meinen Körper zur Vernunft zu bringen, und nehme mit einem Schritt Abstand von meinem Chef. »Morgen kümmere ich mich um das Mittagessen, wenn das okay ist?« Jonas nickt stumm, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Gut. Wunderbar«, nuschle ich. Fahrig reibe ich mir den Hals und flüchte zurück an den Esstisch, um die Pizzakartons zu entsorgen.

Max ist zwischenzeitlich aufgestanden und hat ebenfalls seinen Teller weggeräumt.

»Evodie, machen wir gleich die Hausaufgaben, damit wir dann noch Fußballspielen können?«, kräht er aus der Küche, während ich ein paar Meter weiter um meine Fassung ringe.

Mein Zuckerschnittchen von Chef herzt seinen Sohn, bevor er geht und meint: »Braver Junge. Also bis später, ihr zwei.«

Lässig nicke ich ihm zu und gönne ihm keinen weiteren Blick mehr. Ich atme befreit auf, als ich höre, wie die Haustür ins Schloss fällt.

Der Nachmittag vergeht wie im Flug mit Mathe- und Deutschhausaufgaben und dem Elfmeterschießen, bei dem ich nicht mal schummeln muss, um zu verlieren. Mit hochroten Köpfen kommen Max und ich wieder ins Haus. Der kleine Junge überredet mich, in dem Gefrierschrank nach einem Eis zu suchen.

Nachdem wir uns im Schatten jeder einen Becher Eisschokolade reingezogen haben, fragt Max, ob er an den Computer darf. Ich gewähre ihm ein Stunde und gehe mit ihm auf sein Zimmer, um mir das Computerspiel genauer anzuschauen. Nachdem ich geprüft habe, dass es seinem Alter angemessen ist, mache ich mich vom Acker und beschließe, den Kühlschrank für das morgige Mittagessen zu durchstöbern.

Mein Kopf hängt gerade im Gemüsefach, als sich plötzlich zwei starke Hände um meine Taille legen. Erschrocken drehe ich mich um und finde mich Jonas gegenüber.

Gierig leuchten seine Augen, und er zieht mich voller Wucht an seinen Körper. Er wirft die Kühlschranktür hinter mir zu, um mich dagegenzupressen.

Ich glotze ihn lediglich an, denn mir hat es die Sprache verschlagen. Meine Hände legen sich auf seine kräftigen Oberarme, und halbherzig versuche ich, ihn wegzudrücken, weil das letzte Bisschen Verstand, das in meinem Hirn übrig ist, mir sagt, dass das verkehrt ist. Meine Atmung ist ein einziges Geholpere und fällt total flach aus, als ich bemerke, wie Jonas‘ Lippen immer näher an meine rücken. Ich bemühe mich, ihnen auszuweichen, doch er verfolgt mich erbarmungslos. Ergeben verharre ich an der kalten Kühlschranktür.

Lautlos flüstert Jonas an meinem Mund: »Ich weiß, dass du mich willst. Streite es nicht ab, Evodie.«

Er reibt seinen harten Körper an meinem, und mir wird ganz schwindlig. Frech wandern seine Hände an meinen Rundungen auf und ab. »Du schmeckst bestimmt fantastisch, Herzchen«, ächzt er im Takt seiner Bewegungen, vor meinen bebenden Lippen.

Und trotz der Hitze, die meinen ganzen Leib durchdringt, bringe ich es fertig »Nein, nicht!« zu rufen. Schwer atmend winde ich mich aus seiner Umarmung heraus und verziehe mich hastig in ein einsames Eck der Küche. Ich traue ihm nicht und schon gar nicht mir, weswegen ich die Hände in eine Abwehrhaltung erhebe, um ihn fernzuhalten.

»Das ist nicht gut«, hauche ich.

Jonas kommt langsam auf mich zu. Bedrohlich. Dunkel. Ein charismatisches Schmunzeln legt sich auf seinen Mund, der mir ganze Regenschauer über den Rücken jagt. Bis in jede meiner Poren vibriert seine tiefe Stimme.

»Das würde mehr als gut werden, Evodie, und du weißt das.«

Widerspenstig schüttle ich den Kopf. Ich will nicht so empfinden, ich darf nicht so empfinden. Und dennoch tobt das Begehren in mir, mich ihm an den Hals zu werfen, endlich von seinen Lippen zu kosten. Er sieht es mir an, denn sein Grinsen wird breiter und düsterer. Und dann ist es da, das untrügliche Gefühl, dass etwas nicht stimmt.

Missbilligend schnalzt Jonas mit der Zunge. »Du kannst es nicht vor mir verbergen.«

Und mit jedem Schritt, den er auf mich zukommt, verändert sich sein Gesicht, das mir mit einem Mal finster erscheint. Sein Hautton wird dunkler, seine strahlend blauen Augen werden auf einmal tief grün und seine Haare schwarz. Pechschwarz, wie seine markanten Brauen und seine Barthaare, die allmählich auftauchen.

Mein Hals wird enger und enger. Die Luft scheint immer dicker zu werden, sodass ich sie förmlich auf meiner Haut spüren kann. Nein, falsch, ich spüre einen Druck, den mächtigen Gegendruck des Eristen, der nun ganz nah vor mir steht. Es ist der Erist aus Jonas‘ Büro. Wie gebannt starre ich auf den beunruhigenden Mund, der von dem dunklen Bart umgeben ist, den ich beinahe geküsst hätte. Der mir die Sinne geraubt hat, mit Taten und mit Worten.

KAPITEL 9

KIRSCHSAFT, MEHR ODER WENIGER

»Du?«, stoße ich atemlos hervor, und zu meiner Schande fällt mir nichts Besseres ein als »Du … Ohhw!« ein zweites Mal zu röcheln.

Ich hebe meine Hände, um den Kerl wegzuschubsen, doch zu meinem Schrecken komme ich nicht gegen seinen Eristen-Druck an und kämpfe in der Luft gegen eine unsichtbare Wand. Immer wieder probiere ich, an seinen Körper zu gelangen, doch vergebens. Je mehr ich mich bemühe, desto weiter wirft es meine Hände zurück.

Verdattert blicke ich auf, in das teuflische Grinsen meines Gegners, der mich regelrecht verhöhnt.

»Ist wohl nicht so einfach, den Widerstand eines mächtigen Eristen zu überwinden, wenn er das nicht will, was, Schätzchen?«

Langsam kommt er näher an mein Gesicht heran, und fassungslos bemerke ich, wie es ihm keine Mühe bereitet, diesen Widerstand zu überwinden, der uns trennt, und zugleich meinen Hinterkopf an den Küchenschrank zu pressen.

Die kräftigen Nasenflügel des Eristen beben, und seine Augen blitzen vor Überheblichkeit. »Man muss es nur genug wollen? Aber vielleicht bist du einfach bloß zu schwach, Cupida.«

Das letzte Wort spuckt er regelrecht aus, wie ein Schimpfwort. Jede Freundlichkeit ist aus seinen Zügen verschwunden, und er neigt schwach sein Haupt, was seine Augen noch unheilvoller, seine Miene noch bedrohlicher wirken lässt.

Meine Wut über seine Arroganz explodiert in einer gleißend roten Fontäne, und eh ich mich versehe, geht eine Schublade auf.

»Vielleicht kann ich dich nicht mit meinen Händen berühren, aber das brauche ich auch gar nicht«, presse ich wütend hervor und lasse ein großes Fleischermesser auf ihn zufliegen. Mehrmals sticht es auf ihn ein, und gibt mir damit Genugtuung. Zumindest ein kleines bisschen, da ich weiß, dass ich ihm nichts anhaben kann.

Schon vergessen? Ein Engel stirbt oder löst sich vielmehr bloß auf, wenn er gegen die Regel verstößt und einen Menschen vorsätzlich verletzt.

Überrascht schaut der Erist mit qualvoller Mimik an sich herunter. Da, wo ihn das Messer sticht, färbt sich plötzlich sein Hemd in rasanter Geschwindigkeit blutrot. Er fasst sich Drama-Queen-mäßig an den Oberkörper und stöhnt, als hätte er die größten Schmerzen. Der Idiot! Dabei empfinden wir Engel nur einen winzigen Bruchteil der Schmerzen, die ein Mensch wahrnehmen würde. Diese Pseudoschmerzen dienen uns lediglich als Gedächtnisstütze, um entsprechend reagieren zu können, wenn wir im Sichtbarkeits-Modus im Beisein von Menschen verletzt werden.

Das Blut quillt, weil er das so aussehen lassen will, zwischen seinen Fingern hervor und leuchtet hellrot in der Nachmittagssonne. Der elende Schauspieler lässt es sogar auf die Bodenfliesen tropfen.

»Jetzt hör aber auf!«, schnaube ich angewidert und entlasse das Messer wieder an seinen Platz in der Schublade, allerdings im sauberen Zustand. Zornig, weil er sich mit diesem stümperhaften Theater über meine Wut lustig macht und den sterbenden Schwan markiert, kehre ich ihm den Rücken zu, um ihn mit Nichtachtung zu strafen. So ein aufgeblasener Affe!

Doch das passt dem Herrn nicht, und er reißt mich am Arm herum, um mich erneut gegen den Schrank zu donnern.

Himmel nochmal, der Typ macht mit mir, was er will, und ich kann ihm nicht mal eine scheuern. Das ist mehr als frustrierend.

Zu allem Übel legt er seine Hand auf meine Kehle, drückt zu und nagelt mich damit an Ort und Stelle fest. Könnte ich sterben, würde er mich jetzt erwürgen, aber weder kann ich das eine noch tut er das andere. Da ich so nicht das Zeitliche segnen kann, ist es einfach nur unangenehm.

»Ich soll aufhören? Oh nein, meine Süße, jetzt fängt der Spaß erst richtig an. Soll ich Nyra oder lieber doch gleich Phileas sagen, dass du auf deinen Klienten scharf bist? Du sollst die Beste deiner Legion sein? Das ich nicht lache. Diesen Auftrag habe ich so sicher in der Tasche wie keinen anderen – und das, weil du, mein Schatz, eine lüsterne Cupida-Schlampe bist.«

Heißer Zorn steigt in mir hoch, und mein Unvermögen, mich gegen ihn zu wehren, bringt mich fast um den Verstand. Der Pisser hält meinen ganzen Körper mit seinem Willen unbeweglich, und ich kann mich vor lauter Rage nicht konzentrieren, um etwas gegen ihn zu unternehmen. Meine Zähne beißen fest aufeinander, und ich spüre, wie ich meine Lippen zusammenverkneife. Ich bin bis zum Rand geladen und weiß mir nicht anders zu helfen, als die Stühle anzuheben, um sie auf seinem Körper zu zerschmettern. Aber … ich könnte heulen, denn soweit lässt der Blödmann es gar nicht kommen. Er hat die Bewegung der Möbelstücke rechtzeitig bemerkt und bekämpft mich mit seinem Willen, indem er sie wieder zu Boden drückt. Tapfer halte ich dagegen, leider erfolglos. So schweben die Stühle wenige Zentimeter über dem Parkett in einem andauernden Auf und Ab.

Ich weiß nicht, woher der Kerl die Kraft nimmt, mich unbeweglich zu halten und gleichzeitig gegen meinen Schutzwall und mein Bestreben anzukämpfen, ihn abzumurksen. Schweiß tritt mir vor Konzentration auf die gerunzelte Stirn, und auch bei ihm sehe ich einzelne Tropfen über die Schläfen rollen.

»Hör auf und sieh einfach ein, dass du verloren hast – dass du zu schwach bist«, raunt er mit heißem Atem an meiner Wange.

Ein Rumpeln auf der Treppe alarmiert uns, und sofort geben wir beide die Stühle frei, die auf den Boden donnern. Max‘ Stimme ertönt unweit im Flur.

»Evodie, ist Papa da?«

Sofort lässt der Erist mich los, geht einen Schritt zurück und streicht sein Hemd glatt, auf dem keinerlei Blutflecken und Einstichstellen mehr zu finden sind.

»Äh, nein«, stammle ich, und den Eristen ziert schlagartig ein nettes Lächeln.

Der Idiot im schwarzen Anzug ruft freudig über seine Schulter: »Hallo, Max, ich bin es.«

Sogleich erfolgen ein Gepolter und ein Jauchzen. »Onkel Demian?!«

Meine Augen werden zu Tennisbällen. Er ist es also wirklich, Artreus‘ und Hectors Widersacher, der teuflische Erist, Onkel Demian.

Die verarschen mich doch hier. Onkel auch noch, wie soll das denn gehen?

Max springt immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe herunter. »Onkel Demian«, schreit der kleine Junge ein weiteres Mal und wirft sich gegen den Eristen.

Shit, der Typ hat bei dem Kleinen einen ziemlich dicken Stein im Brett. Das ist eine absolute Katastrophe.

Onkel Demian knufft Max an den Schultern. »Dein Vater hat eine Besprechung, weswegen er mich gebeten hat, nach euch zu schauen. Wahrscheinlich wird es ein bisschen später, bis er heimkommt.«

Klar, und du hast damit überhaupt nichts zu tun, denke ich, während Max vor Demians Füße zeigt. »Hey, ist das da Blut auf dem Boden?«

»Oh, nein«, wiegle ich sofort ab. »Das ist nur … Kirschsaft.«

»Was, wir haben Kirschsaft? Ich will auch einen. Bitte!«, quengelt Max.

Onkel Erist grinst gehässig. »Ja, ich hätte auch gern Kirschsaft.«

Ich kneife die Augen zusammen, was dem Blödmann zeigt, was ich von ihm halte, denn meine Höflichkeit verbietet es mir, es laut auszusprechen. Schnaufend gehe ich zum Kühlschrank und hole eine Flasche mit Kirschsaft heraus, die ich herbeigewünscht habe.

»Habt ihr euch gestritten? Das hat sich vorhin so angehört.« Mit kritischem Kennerblick beäugt Max seinen Pseudo-Onkel und mich im Wechsel.

»Nein«, widerspricht dieser und lügt dem Kleinen frech ins Gesicht, sodass sich die Balken biegen. »Ich würde doch nie mit einer hübschen Frau streiten.«

»Nein«, spiele ich die Entrüstete, stelle den Saft ab und hole zwei Gläser aus dem Schrank. »Das würde dein Onkel nie tun, wie er auch nie lügen würde.«

Ich schenke den Saft ein und reiche jedem ein Glas. Gemein wie ich bin, verpasse ich Demians Getränk einen heftig bitteren Geschmack.

Er genehmigt sich einen großen Schluck. Angewidert verzieht sich sein Mund, und als er sich unmerklich schüttelt, schenke ich ihm ein süßes, unschuldiges Schmunzeln. Ohne Vorwarnung kommt seine Revanche, und mir kracht hinterrücks eine Schublade in den Po.

Aua!

Diabolisch zuckt Demians Augenbraue in die Höhe. »Hoppla! Was war denn das? Ein Poltergeist?«

Glücklicherweise bekommt Max von unserem Geplänkel nichts mit, da er gerade auf Kirschsaft-Tauchgang in seinem Trinkglas ist, weswegen ich ungeniert patzig kontern kann. »Ja, wahrscheinlich ist der Poltergeist ein verbitterter alter Sack, der andere Leute nur nerven kann.«

Verdammt, das würde ein hammerharter Auftrag werden. Der Eristen-Satansbraten würde es mir nicht leicht machen.

»Evodie, dein Armreif ist ja auf einmal rot?«, meint Max, und ich überprüfe jäh seine Aussage.

Tatsache. Der Stein meines Cupida-Armreifs zeigte das Zeichen zur Rückkehr in die Zentrale. Gut, ich kann nichts daran ändern, Phileas muss einfach warten, bis Jonas zu Hause ist und ich meinen Posten verlassen kann.

Demian beobachtet mich neugierig und holt mit einen niederträchtigen Grinsen seinen Eristen-Fingerring aus seinem Jackett, den er sich gleich ansteckt. Dieser glüht weder grün noch rot. »Ich muss euch jetzt leider wieder allein lassen. Mach‘s gut, Max«, sagt er und tätschelt dem Kleinen die Wange.

Dann kommt Demian zu mir, stellt absichtlich sein Glas hinter mich auf die Arbeitsfläche, sodass er absichtlich meine Schultern anrempeln kann und wispert: »Wir zwei sehen uns bestimmt bald wieder, Evodie. Ich kann es kaum erwarten.«

Wie immer spüre ich den Druck, sobald er in meiner Nähe ist. Es macht mich schier wahnsinnig, dass er mich jederzeit berühren kann, wie es ihm passt, aber ich ihn nicht. Ich sollte es ihm ebenso schwermachen.

Im selben Augenblick beginne ich damit und stelle mir vor, ihn von mir zu schieben. Mit aller Kraft. Doch Demian schnalzt lediglich: »Tststs, so schwach«.

Deswegen kratze ich mir mit dem Mittelfinger die Nase und schaue ihm dabei tief in die Augen, damit er ja versteht, wie sehr ich ihn verabscheue.

Max hüpft indessen bester Laune zur Tür hinaus. »Okay, Onkel Demian. Ich gehe wieder nach oben, Computer spielen, meine Stunde ist nämlich bald um.«

Auch ich entschließe mich zum Rückzug. »Ja, Tschüss, Onkel Demian«, keife ich bissig und gleite wie Königin Etepetete davon in den Garten.

Draußen im frischen Grün, zwischen den Hortensien, bleibe ich stehen, schließe die Lider und atme drei Mal tief durch. Der Duft von warmem Gras und Lavendel schwelgt um mich herum. Mühevoll konzentriere ich mich auf die Geräusche, die an meine Ohren dringen. Das sanfte Rauschen der Blätter von den Fliederbüschen, die neben mir stehen, das leise Summen der Bienen, die im Lavendel auf Nahrungssuche sind, und das entfernte Dröhnen der Autos, das man noch immer von der Schnellstraße hören kann. All das hilft mir, Ruhe zu finden und die nagende Wut in mir zu löschen, die Demian so leicht zum Lodern bringt.

Nach einer Weile traue ich mich in die Küche zurück. Ich bin heilfroh, dass von Demian nichts mehr zu sehen ist, außer den Blutflecken, die wir auf die Schnelle vergessen hatten fortzuwünschen, als Max unseren Kampf unterbrach. Um mich von dem fiesen Eristen abzulenken, vertrödele ich die Zeit, indem ich den Fliesenboden reinige und das Geschirr aus der Geschirrspülmaschine in die Schränke räume. Natürlich könnte ich das alles innerhalb eines Wimpernzuckens erledigen, aber diese körperliche Beschäftigung brauch ich jetzt einfach.

Max‘ Computerstunde ist vorbei, und ich hole ihn ins Esszimmer, wo wir ein Würfelspiel spielen. Endlich höre ich die Haustür, und bald darauf betritt Jonas den Raum. Ich blicke ihn an, und mir stockt der Atem, was Demians Schuld ist. Diese fantastischen Lippen lagen heute schon an meinem Mund, diese gepflegten braunen Hände ruhten schon auf meinen Hüften. Auch wenn es nur Demian war. Und doch auch nicht.

Verärgert ertappe ich mich dabei, wie ich mich für einen Moment frage, ob der Mann hier vor mir wirklich Jonas ist. Aber als ich sein schüchternes Lächeln wahrnehme, mit dem er mich begrüßt, und die Art, wie er Max über den Kopf streicht, bin ich mir sicher, dass er der echte Jonas ist.

»Na, wie war euer Nachmittag?«, will mein Chef wissen.

»Toll«, quiekt Max. »Onkel Demian war da, und Evodie hat Fußball mit mir gespielt, dann haben wir eine Eisschokolade getrunken und später noch Kirschsaft.«

Jonas‘ Haaransatz rutscht nach oben. »Kirschsaft?«

»Äh ja, den hatte ich besorgt«, verhasple ich mich, was vollkommen der Wahrheit entspricht.

»Gut«, nickt Jonas, stellt seine Aktentasche ab und setzt sich zu uns an den Tisch. Ohne Umschweife wendet er sich an Max. »Würdest du mich bitte mit Evodie mal kurz allein lassen?«

Max‘ Gesicht entgleist in bodenlose Traurigkeit, und ich frage mich, weswegen. Ich vermute, entweder, weil er das Zimmer verlassen muss oder weil er Angst hat, dass sein Vater mich wegschickt und ich nicht mehr kommen darf.

»Okay, ich gehe solange Fernsehschauen.« Mit hängenden Schultern schlurft Max durch die Tür.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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