Buch lesen: «Liebesengel küssen nicht», Seite 2

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KAPITEL 3

DAS CHAOTISCHE BÜCHERREGAL

Die junge Frau liegt immer noch schlummernd in ihren Kissen. Vor ihrem Bett türmen sich Klamotten. Nach dem Turm zu urteilen, der aus ihrer Jeans, in der ihre Höschen und Socken stecken, ihrem Oberteil und dem BH besteht, muss sie aus dem Zeug herausgestiegen und geradewegs ins Bett gefallen sein.

Ich stalke gerade die letzte der drei Bewerberinnen, die Jonas heute Mittag zum Vorstellungsgespräch als Tagesmutter eingeladen hat. Obwohl diese hier riecht wie eine Schnapsleiche, was sicherlich von den tausend Cocktails der vergangenen durchgefeierten Nacht herrührt, ist sie womöglich meine größte Konkurrenz. Momentan sieht sie zwar mit der grausigen Fünfzehn-Stunden-Schlaf-Frisur, dem verschmierten Kajal und Lippenstift nicht danach aus, aber im Normalzustand ist sie bestimmt ein heißer Feger.

Vater und Sohn würden sich womöglich für sie entscheiden, was ich verhindern muss, um selbst die Stelle zu bekommen. Damit ich freie Bahn habe und Jonas mit Susan zusammenbringen kann.

Die anderen zwei Bewerberinnen stellen keine Gefahr für mich dar. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, werde ich bei ihnen ebenso eingreifen müssen. Abgesehen davon, dass ich den Job will, wären die zwei Kröten das Schlimmste, was Jonas‘ Sohn Max zustoßen könnte. Die verkörpern das typische Klischee einer Schreckschraube, wie man sie aus Kinderfilmen kennt.

Die Kundschafter haben, auf die Anweisung meines Operators Bellamy, herausgefunden, dass eben jene drei Frauen ein Gespräch mit Jonas haben würden. Dieser hat die Termine mit ihren Namen in seinem Kalender vermerkt, weswegen ich die Damen aufsuchen und inspizieren konnte.

Eine hat sich als ausgezehrte, verbitterte Ziege herausgestellt, die irgendwann einmal einen Stock verschluckt haben musste. Zu meinem Verdruss durfte ich ihr durch den Stadtpark hinterherjagen, weil sie wohl für einen Marathon trainierte. Ihre Wohnung war spartanisch eingerichtet und erinnerte eher an eine Gefängniszelle. Nichts Farbiges, nichts, was auch nur den Hauch von gute Laune oder Freude verbreiten konnte, war darin zu finden. Ein strenger Trainingsplan, der an ihrem Kühlschrank hing, sagte mir, dass diese unerbittliche Selbstdisziplin ein wesentlicher Bestandteil ihres Charakters sein musste.

Die andere Bewerberin war eine ältere korpulente Frau, die an Kurzatmigkeit litt. Dass sie Max nicht hinterherjoggen konnte, sondern stattdessen aus dem letzten Loch pfeifen würde, war nur eins ihrer Probleme. In ihrem Haus habe ich nämlich alles penibel sortiert vorgefunden. Einfach alles war nach Farben, Alphabet oder Größe geordnet – von den Tassen bis hin zu den Stecknadeln. Dem Anschein nach hat die Dame eine Zwangsneurose.

Entscheidet sich Jonas für eine von den Zweien, wird Max das Lachen vergehen. Denn diese Damen können einen Jungen in seinem Alter weder verstehen noch fördern oder bändigen, davon bin ich überzeugt. Sohn und Vater können froh sein, dass ich ihnen die Entscheidung abnehmen werde.

Per Telefon habe ich mich bei Jonas um die Stelle als Tagesmutter beworben und angegeben, sein Zeitungsinserat gelesen zu haben. Wir unterhielten uns kurz und vereinbarten für heute Nachmittag einen Termin. Das Zuckerschnittchen hat eine unglaublich männliche Stimme, bei der einem die Knie weich werden, und eine ausgesprochen zuvorkommende Art.

Wenn Susan also nicht lesbisch oder halbtot ist, wird sie den Kerl sofort bespringen, sobald er eindeutige Signale aussendet. Also – ich würde es so machen … wenn ich diejenige wäre, welche … Aber – die bin ich ja nicht.

Irgendwie muss ich bis mittags die Zeit totschlagen, denn jetzt würde ich noch nichts gegen die drei Frauen unternehmen, sondern erst, wenn ich die größte Wirkung erzielen konnte.

Ich entschließe mich dazu, die schlafende Schönheit zu verlassen und einigen meiner langjährigen Klienten einen Besuch abzustatten.

Dem Himmel sei Dank, ist bei denen noch alles in Butter. Auf den ersten Blick kann ich kein Eristen-Eingreifen erkennen. Etwas beruhigter als zuvor hinterlasse ich bei den Paaren kleine Stupser, damit sie sich ihrer Liebe zueinander wieder bewusst werden.

Leider halten die Menschen vieles für selbstverständlich, ihre Partner, Freunde oder Familien, deren Zuneigung, sogar das unfassbare Glück, ihre Liebe überhaupt gefunden zu haben. Oft begreifen die Leute erst, dass sie das Beste ihres Lebens in Händen hielten, wenn es unwiederbringlich verloren ist.

Deswegen lasse ich bei der einen Ehefrau das Lied im Radio spielen, bei dem sie zum ersten Mal mit ihrem Mann tanzte und er ihr dabei auf die Füße trat, weswegen sie ihn nicht vergessen konnte. An ihrem Schmunzeln sehe ich, dass sie sich daran erinnert.

Einem der Männer schmuggele ich zwischen die Aufgaben seiner elektronischen To-do-Liste, die seine Frau ihm immer per Handy schickt, ein »Mich heute Nacht verwöhnen«. Nachdem er es gesehen hat, lösche ich es wieder. Selbst wenn er sie darauf später ansprechen und sie es kichernd abstreiten sollte, so etwas geschrieben zu haben, um die beiden wird es schon geschehen sein.

Ja, manchmal braucht man ganz wenig, um viel zu erreichen. Manchmal bedeutet nur ein kurzer Satz, nur eine kleine Geste dem Gegenüber die ganze Welt.

Im Unsichtbarkeits-Modus mache ich mich erneut zur Marathon-Ziege auf, die sich in ihrer Küche gerade ein Vitamin-Drink mixt, was mir eine günstige Gelegenheit bietet, ihr die Tropfen zu verabreichen, die mir Bellamy speziell für diesen Fall besorgt hat.

Natürlich könnte ich ihr den gesamten Inhalt des Fläschchens per Willen in das Getränk mischen, aber das wäre vielleicht schädlich für ihre Gesundheit und ein katastrophaler Fehler, der einem Cupida und auch einem Eristen nie unterlaufen darf.

Es ist das Erste und Wichtigste, was wir alle in unserer Ausbildung lernen: Unser Handeln darf niemals einen Menschen körperlich verletzen. Wenn das passiert, prüft der Legionsleiter, das ist bei den Cupidas Phileas und bei den Eristen Nyra, inwieweit es fahrlässig oder willentlich geschah. Ist Letzteres der Fall … verschwindet man. Wortwörtlich. Wir lösen uns auf. Dieses Vergehen ist das Einzige, was unserer Existenz ein Ende setzen kann. Und ja, das kommt öfter vor, als man denkt. Entweder geschieht es in aller Öffentlichkeit oder heimlich, still und leise. Plötzlich ist ein altbekannter Cupida weg. Zack!

Woher Phileas und Nyra die Gewissheit haben, ob der Mensch absichtlich von einem verletzt wurde oder nicht, kann ich nur vermuten. Auch darüber, woher die Aufträge und Berichte stammen, die zum Teil Zukunftsvoraussagen beinhalten, welche wir Engel nicht treffen können, kann ich lediglich spekulieren.

Ebenfalls vermag niemand von uns in das Herz eines Eristen, Cupidas oder Menschen zu sehen, wie auch keiner von uns die Gedanken eines anderen manipulieren kann. Was ja logisch ist, denn sonst bräuchten wir den ganzen Zinnober gar nicht veranstalten. Genauso wenig können wir in die Zukunft oder die Vergangenheit reisen. Das ist einerseits echt schade, aber andererseits würde vermutlich das totale Chaos ausbrechen.

Naja, egal, ich muss jetzt bloß irgendwie den Deckel des Mixers anheben, um die Droge wohldosiert in das Getränk zu bekommen. Deshalb warte ich den geeigneten Moment ab, bis die angehende Iron-Man-Gewinnerin sich wegdreht. Den Deckel, wie von Geisterhand, vor ihrer Nase schweben zu lassen, wäre wahrscheinlich der Auslöser für einen fürchterlichen Schreikrampf, der jetzt völlig kontraproduktiv wäre. Abgesehen davon, soll unsere Existenz den Menschen verborgen bleiben. Nicht auszudenken, auf was für Ideen die kommen würden, wenn sie von uns wüssten.

Während die Gewitter-Ziege ihren Kühlschrank durchwühlt, dessen Inhalt auf vegane Ernährung schließen lässt, öffne ich den Mixerdeckel für einen Spalt. Ich tropfe das Zeug in die rotierende grüne Pampe. Mein lieber Scholli, es sieht nicht bloß aus wie ein pürierter Frosch, es riecht auch danach. Igitt, wie lecker!

In einer knappen Stunde würde die Gute ihren Termin bei Jonas haben, und bis dahin würde das Zeug seine Wirkung voll entfalten.

Ich gebe zu, eine heimliche Vorfreude erfasst mich, auf das, was die klapprige Ziege anstellen wird. Mit einem Schmunzeln denke ich, dass ich jetzt zu Jonas sollte, und eine Sekunde später stehe ich Mister Zuckerschnittchen höchstpersönlich gegenüber.

Oh nein! Nein, bitte nicht. Tut mir das nicht an. Warum ich? Der Kerl ist eine Wucht. Verflucht. Warum bin ich kein Mensch? Warum heißt es in dem bescheuerten Bericht nicht, dass ich die optimale Partnerin bin? Kann ich das vielleicht ändern? Scheiße, was denke ich da? Ich bin ein Profi. Ich bin eine der besten Cupidas. Ich ziehe das hier durch wie bei jedem anderen Auftrag auch. Selbst wenn der Anblick dieses Sahnetörtchens mir den Atem raubt. Stopp! Jetzt, krieg dich wieder ein, Evodie. Aus!

Ich bin in Jonas‘ Büro gelandet, das eindeutig in seinem Zuhause ist, denn die Zimmertür steht offen, und ich kann einen kleinen Jungen beobachten, der vor dem Fernseher herumturnt. Er zappelt auf der Ledercouch hin und her, ohne sein Blick vom Flimmerkasten abzuwenden. Ich muss grinsen, weil mir der Gedanke kommt, dass der Kleine sehr wahrscheinlich dringend aufs Klo muss, aber Angst hat, etwas zu verpassen.

Jonas schafft in der Zeit Ordnung auf seinem Schreibtisch und schaut auf seine teure Armbanduhr. Es ist ein warmer Frühsommertag, weswegen er die langen Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt hat. Die Bräune seiner kräftigen Unterarme hebt sich kontrastreich von dem hellen Baumwollstoff ab. Der gut aussehende Kerl ist ein überdurchschnittlich großes Exemplar seiner Spezies. Das schmal geschnittene Hemd betont seine breiten Schultern, und die obersten drei Knöpfe sind nicht geschlossen. Ja, das alles sehe ich und noch viel mehr. Selbstverständlich lässt mich das kalt. Eiskalt.

Mmmh, ein gepflegter Geschäftsmann, der offensichtlich seine Brust nicht rasiert, denn einige schwarze Haare blitzen hervor, was ich ganz appetitlich finde. Äh, was Susan ganz appetitlich finden wird. Seine langen Beine sind von einer schwarzen Bundfaltenhose verhüllt, die seinen Hintern nicht das geringste bisschen altbacken wirken lässt.

Für diesen Ausbund an Männlichkeit bin ich nicht sichtbar, und er läuft durch mich hindurch, was meinem Magen einen Schluckauf beschert. Leicht schnüffle ich hinter Jonas her. Sein Aftershave liegt in der Luft, das eine feine Moschus-Note hat. Soo guuut, … wie jeder andere Klient, die ich alle mit ihrer vorherbestimmten Partnerin zusammengebracht habe.

»Max, geh bitte in den Garten zum Spielen oder hoch in dein Zimmer. Ich bekomme gleich Besuch.« Jonas‘ ernster Blick und Ton, die seinem Sohn gelten, lassen keinen Widerspruch zu.

Nach kurzem Zögern greift Max mit seinen kleinen Händen nach der Fernbedienung, die vor ihm auf dem Tisch liegt. »Okay, ich geh nach oben, muss sowieso aufs Klo«, sagt der braunhaarige Junge und schaltet das Fernsehgerät aus.

Irgendwie meine ich, Enttäuschung in Max‘ Stimme herauszuhören. Langsam schleicht der Kleine davon. Jonas‘ Brust hebt und senkt sich mit einem lauten Atemzug. Im nächsten Moment klingelt es an der Tür.

Aha, meine erste Konkurrentin ist da, die es gilt, aus dem Rennen zu werfen.

Ich folge Jonas zur Haustür, wo er die ältere Frau empfängt, die ihre Socken nicht nur nach Farben, sondern zusätzlich nach Textilarten ordnet. Ein wenig außer Puste geraten, stellt sich die füllige Dame vor und streckt Jonas ihre Hand entgegen.

»Guten Tag, ich habe ein Vorstellungsgespräch bei Ihnen, wegen der Stelle als Tagesmutter.«

»Hallo, dann müssen Sie Frau Hempel sein. Kommen Sie doch bitte herein.«

Jonas tritt zur Seite, und Frau Hempel zwängt sich an ihm vorbei in den Flur. Zu dritt tigern wir zurück in Jonas‘ Büro.

Mit einer Handbewegung bietet der Hausherr der Bewerberin den Platz vor dem Schreibtisch an. »Bitte setzen Sie sich, Frau Hempel.«

Während die Ältere sich zwischen die Armlehnen des Stuhles quetscht, schließt Jonas die Tür und lässt sich anschließend auf seinem Chefsessel nieder. Ich beziehe derweil seitlich von ihnen Position, um den Ort des Geschehens besser überblicken zu können.

Aufmerksam mustert Jonas die Dame, die sich unverhohlen in seinem Büro umsieht. Krampfhaft drückt sie ihre Tasche im Schoß zusammen, und ich bemerke, wie ihren Augen ganz schmal werden, als sie das Bücherregal betrachtet. Die Knöchel ihrer Finger treten weiß hervor, und ein leises Knautschen der Lederhandtasche zeigt mir, dass sie ihren Zwang fast nicht mehr beherrschen kann. Ich wette, sie sortiert die Bücher bereits in Gedanken nach Größe und Alphabet.

»Nun, Frau Hempel, wie am Telefon besprochen, geht es um meinen achtjährigen Sohn Max, für den ich eine Tagesmutter suche.«

Jonas greift nach einem Stift, und ich bin so gemein, dass ich die Stiftebox umfallen lasse. Warum? Ich will nur mal was testen.

»Hoppla, wie ungeschickt von mir.« Zuckerschnittchen lächelt verlegen, kann aber nicht mehr verhindern, dass die ganzen Schreibutensilien quer über den Tisch springen und durch die Gegend kullern. Fahrig will er sie einsammeln, doch Frau Ich-sortier-alles krallt sich rigoros die gesamten Stifte im Eiltempo. Bingo! Dachte ich mir doch, dass sie dem Drunter und Drüber nicht widerstehen kann.

»Ach, lassen Sie mich das machen.« Selig lächelnd beginnt die Alte, die Kugelschreiber, Bleistifte und Textmarker in den Schreibtischbutler einzusortieren.

Jonas‘ Brauen heben sich leicht, als er ihr dabei zuschaut, wie sie die Stifte immer wieder herausnimmt und in ein anderes Fach steckt.

»Danke, das ist nett«, grinst er nervös, denn Frau Hempel teilt nicht bloß nach Art des Stiftes ein. Nein, sie ist doch keine Anfängerin. Ordnung muss sein, und so werden die Stifte außerdem nach Länge, Farbe und Hersteller getrennt. Immer wieder wandern die Dinger hin und her durch die Fächer der Box. Über fünf Minuten dauert es, bis Frau Hempel mit ihrer Anordnung endlich zufrieden ist.

Nach getaner Arbeit lehnt sich die beleibte Dame mit einem Seufzer zurück und blickt entspannt in Jonas‘ Gesicht, der eine Sekunde braucht, um sich zu besinnen, warum er ausgerechnet sie eingeladen hat.

»Äh, ja. Mein Sohn Max ist ein …« Er zögert, denn er registriert, wie Frau Hempel an ihm vorbeistarrt, auf die Bücherwand hinter ihm. »… aufgeweckter Junge, der sehr gerne mit … Lego spielt.« Unverständnis macht sich auf Jonas‘ Miene breit, und er folgt dem Blick von Frau Ordnung-muss-her. Er dreht sich zu der Bewerberin zurück. »Gibt es da ein Problem, Frau Hempel?«

Zu sich kommend schüttelt Frau Hempel kritisch den Kopf. »Nein, nur Ihre Bücher.«

»Ja, eine interessante Sammlung nicht wahr?«, erwidert Jonas freundlich.

Ganz sachte lasse ich einzelne Bücher aus dem Regal hervorrücken. Die Augen der älteren Dame werden groß, und ihre Finger lösen sich von der Tasche. Allmählich hebt sie ihre Hand dem Buchregal entgegen und sie keucht gequält: »Nein, sie … stehen vollkommen durcheinander. Vorne eins mit Z und dort mittendrin eins mit A.« Angewidert fasst sie sich an den Mund. »Großer Gott, das ist ja das reinste Sodom und Gomorrha«. Entsetzt schaut sie Jonas an. »Wie können Sie in diesem schrecklichen Chaos nur leben?«, staucht sie den armen Kerl vorwurfsvoll zusammen.

Diesem dämmert, dass die Alte es ernst meint und ihre Latten viel ordentlicher am Zaun hängen als die aller anderen. Verunsichert höre ich ihn sagen: »Ich bitte Sie, das sind nur Bücher, die in einem Regal stehen.«

»Nein. Das ist viel mehr«, röchelt sie entsetzt.

Ich bringe die herausstehenden Bücher hinter Jonas zu einem leichten andauernden Kippeln. Daraufhin zeigt sie auf das Regal und schreit: »Das da, ist der Beginn von Anomie.«

»Quatsch!«, entschlüpft es Jonas. »Das ist ein Bücherregal. Und sicherlich kein staatsfeindlicher Akt.« Er räuspert sich und man sieht ihm an, dass er sich Sorgen macht.

Plötzlich steht Frau Hempel auf und streckt sehnsüchtig ihre Finger nach dem Regal aus. »Lassen Sie mich die Bücher sortieren. Es geht auch ganz fix.«

Zielstrebig nimmt sie Kurs auf das Chaos, das sie unbedingt beseitigen muss. Jonas erhebt sich eilig und stellt sich ihr entgegen.

»Nein, auf gar keinen Fall werden Sie meine Bücher anfassen. Die bleiben genau da, wo sie sind.«

Erschrocken hält die Frau vor ihm inne. »Aber, ich muss …«

Grimmiger kann Jonas nicht mehr schauen. »Nein, das Einzige, was Sie müssen, ist gehen. Und zwar jetzt. Ich denke, Sie sollten über diesen Sortierzwang mit einem Arzt reden.«

»Aber …«, stammelt Frau Hempel zahm.

Jonas bugsiert sie vorsichtig zu seinem Büro hinaus in den Flur. »Nein, kein Aber, Frau Hempel. Wenn Ihnen die Lego-Kiste meines Sohnes in die Quere kommt, kollabieren Sie und glauben, das Ende der Welt stünde bevor.« Er öffnet die Tür und schiebt sie hinaus. »Es tut mir leid, aber Sie entsprechen nicht ganz meinen Erwartungen. Ich kann Ihnen die Stelle nicht geben. Es ist die beste Entscheidung, zum Wohle aller Beteiligten, denke ich.«

Frau Hempel steht noch überrumpelt auf der obersten Stufe, als Miss Marathonlauf am Fuß der Treppe eintrifft. Mit hochroten Wangen macht sie einen überhitzten Eindruck. Ein intensiver Blick auf Jonas lässt sie tief durchatmen, und sie stürmt die Treppe hinauf. Ohne Skrupel schubst sie die verdatterte Frau Hempel zur Seite und baute sich dicht vor Jonas‘ Nase auf. Zu dicht offenbar, denn dieser zieht seinen Kopf zurück, wie eine verschreckte Schildkröte.

»Hallo, Sie wollten mich treffen«, flötete die hagere Frau, und ihre Augen fließen gierig über Jonas‘ markante Züge.

Seinen Widerwillen über ihre Nähe nimmt sie gleich mal nicht zur Kenntnis, sondern beugt sich ihm weiter entgegen, sodass Jonas sich total verbiegen muss, um sie nicht zu berühren.

Völlig außer Atem säuselt die Bewerberin stoßweise: »Wir haben telefoniert, wegen der Stelle als Tagesmutter. Wissen Sie noch?«

Wow! Jonas, mein Lieber, schnall dich an, die Ziege geht aufs Ganze. Ich muss Bellamy unbedingt fragen, wo er das Aphrodisiakum herhat. Das Zeug wirkt ja höllisch gut.

KAPITEL 4

EIN STUHL UND EINE TASCHE, DIE ES IN SICH HABEN

»Ich bin Jessica Schnabold«, flüstert die hagere Frau dicht vor Jonas‘ Gesicht und inhaliert verzückt seinen Duft. Ihr ganzer Körper scheint zu beben.

Oh je, oh je, was hab ich mit dem Aphrodisiakum bloß angerichtet.

Mit einem erschrockenen Grinsen geht Jonas einen Schritt zurück. »Frau Schnabold …?« Allein die Frage macht deutlich, dass Jonas eine andere Frau mit diesem Namen erwartet hat, was ich ihm nicht verdenken kann. Vermutlich war sie bei ihrem ersten Telefonat nicht so aufdringlich gewesen, sondern eher kühl und leidenschaftslos, was sie nun ganz und gar nicht ist. Jonas‘ Stirn legt sich in Falten, und man kann glasklar in seiner Miene lesen, dass er überrascht ist, die falschen Schlüsse gezogen zu haben. »Natürlich, Frau Schnabold. Kommen Sie doch bitte herein.« Er geht zur Seite und macht den Eingang frei, damit die Dame ungehindert eintreten kann.

Frau Schnabold braucht er dies nicht zweimal sagen, sie folgt nämlich jeder seiner Bewegungen. Es ist mir ein Rätsel, wie Jonas einer Berührung bisher entgehen konnte. Mit einem seltsam anmutenden Lächeln entblößt Frau Schnabold ihre langen Zähne, und ihre Ähnlichkeit mit einer Ziege wird frappierend.

Obwohl sie außerordentlich schlank und die Türöffnung breit genug ist, drückt sie sich an Jonas vorbei, als wäre der Hauseingang ein schmaler Felsspalt. Diesmal gibt es für den Armen kein Entkommen, und er muss den aufgezwungenen Körperkontakt über sich ergehen lassen, den Frau Schnabold mit einem zittrigen Seufzen kommentiert.

»Liebend gern.« Abermals versucht sie, ihren Körper an seinen zu bringen.

»Hier entlang, bitte, zu meinem Büro«, meint Jonas, zeigt die Diele hinunter und schließt unglücklich dreinblickend die Haustür hinter sich.

Er traut der anhänglichen Frau wohl nicht über den Weg, denn keine Sekunde dreht er ihr den Rücken zu.

Weise Entscheidung, Zuckerschnittchen, zumal sich die Ziege bereits die Lippen bleckt. Oder solltest du ihr aufgrund dessen doch lieber die Kehrseite zu wenden?

Offensichtlich kommt er zum gleichen Entschluss und flüchtet, Frau Schnabold immer zwei Schritte voraus, den Flur lang. Sobald Jonas sein Büro betreten hat, verbarrikadiert er sich geschickt hinter der Tür. Er denkt wohl, der Dame damit keine weitere Chance zu bieten, ihm auf die Pelle zu rücken. Falsch gedacht! Die Ziege stellt sich an seine Seite und tippelt ihm schmachtend nach, als er rückwärts laufend die Tür ins Schloss drückt. An die Bürotür gepresst, findet sich Jonas der schrecklichen Wahrheit ausgeliefert: Unternimmt er nichts dagegen, würde die Gute jeden Moment genau das tun, was auch immer in ihrer Absicht liegt.

Jonas schnauft laut und sichtlich entnervt von dem penetranten Benehmen der Bewerberin. »Frau Schnabold, ich sehe mich gezwungen, Sie zu bitten, mir ein wenig Freiraum zu lassen. Nehmen Sie doch bitte dort drüben Platz.«

Ja, am besten in einem anderen Zimmer …

»Oh, entschuldigen Sie.« Frau Schnabold schluckt und entfernt sich zögernd von ihm. Ihre Wangen glühen, und ein nasser Film liegt auf ihrer Stirn.

Amüsiert beobachte ich, wie sie sich auf der Vorderkante des Stuhls niederlässt und ihre Knie eng zusammenzwingt.

In schnellem Gang, um sich so kurz wie möglich in Reichweite der aufdringlichen Dame aufzuhalten, bezieht Jonas hinter seinem Schreibtisch Deckung. Ernste Zweifel, über die Eignung von Frau Schnabold als Tagesmutter, stehen Jonas bereits ins Gesicht geschrieben.

»Wie ich am Telefon erwähnte, würden Sie sich um meinen Sohn Max kümmern.«

Ich muss der Dame leider etwas mehr Feuer unter dem Hintern machen, damit sie Jonas noch stürmischer bedrängt. Im übertragenen Sinn, selbstverständlich. Obwohl – das mit dem Feuer ist gar keine schlechte Idee ist. Lächelnd erwärme ich die Polsterung ihres Stuhls um ein paar Grad.

Augenblicklich entlockt ihr das ein leises Stöhnen, das sie mit einem »Jaaa« überspielen will. Allerdings gelingt es ihr nicht, und Jonas‘ panischer Blick bringt mich zum Lachen.

»Er ist acht Jahre alt und …« Jonas verstummt, denn Frau Schnabold beginnt, auf ihrem Stuhl hin und her zu rutschen.

Das könnte durchaus eine Reaktion auf das Vibrieren sein, welches ich an der Naht im Schrittbereich ihrer Jeans auslöse. Ihr lautes Hecheln lässt Jonas‘ Wangen erröten und meine beinahe gleich mit.

»Geht es Ihnen gut?«, fragt mein Klient misstrauisch.

»Ja. Gut!«, piepst sie und tastet mit zittrigen Fingern aufgeregt in ihrer Kurzhaarfrisur herum.

Anscheinend eine Angewohnheit, mit der sie sich selbst beruhigen will, die ihr aber nicht helfen wird, argwöhne ich. Mit einem Keuchen lässt sie von ihren Haaren ab, und ihre Augen glänzen euphorisch, als sie sich an den geröteten Hals greift und eine ihrer Hände im vibrierenden Schoß vergräbt.

Bloß gut? Na dann – eine Stufe stärker, damit es ihr richtig prächtig gehen wird.

Fest presst Frau Schnabold ihre Lippen aufeinander, um es zu verhindern, doch es gelingt ihr nicht. Ein weiblicher Lustschrei hallt prompt durch das Büro, und zugleich klammert sich die Dame leidenschaftlich an den Armlehnen ihres Stuhles fest.

Demnächst würden Jonas‘ Augen über den Teppich rollen, so schockiert beäugt er die Frau, die sich vor ihm im Stuhl windet. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Noch nicht, aber bald, das kann ich jetzt schon voraussagen.

Frau Schnabold gelingt es mittlerweile lediglich, zu japsen: »Ja – ja – ja!«

Ihre Stimmlage gerät mit jeder Silbe höher, und ihr Gezuckel auf dem Stuhl wird stetig unkontrollierter. In Ekstase wirft sie den Kopf in den Nacken und ihr gutturales Ächzen lässt Jonas letztendlich aus dem Zimmer fliehen.

»Ich lasse Sie mal kurz allein, bis Sie … so weit sind.«

Ist recht, Süßer, geh nur. Die Gute hat gerade den Spaß ihres Lebens, auch ohne dich, so wie es ausschaut.

Ihr lang gezogenes »Jaaaaaa« bekommt Jonas wahrscheinlich hinter der verschlossenen Tür mit, denn laut genug ist es. Ich lasse Frau Schnabolds Jeans zur Ruhe kommen und die Polsterung abkühlen. Schwer atmend und ein wenig verstrubbelt, lehnt sie sich im Stuhl zurück.

Ich will sehen, was Zuckerschnittchen treibt, und eine Sekunde später stehe ich neben Jonas im Wohnzimmer. Verstört reibt er sich über sein gut geschnittenes Gesicht und nuschelt leise vor sich hin: »Himmel nochmal, was hat die denn? Als ob … Was mach ich mit der bloß? Da komm ich niemals mit heiler Haut raus.« In seiner Ratlosigkeit läuft er auf und ab. Plötzlich bleibt er an der Tür stehen und schaut in den Flur, die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf. »Max?«, wispert er unschlüssig. »Nein, nein. Das würde den Jungen traumatisieren, das kann ich nicht machen.« Kopfschüttelnd wagt er sich allmählich zur Bürotür zurück.

Genau so ist es, Jonas, selbst Max‘ Anwesenheit würde die Frau nicht davon abhalten, sich so dermaßen danebenzubenehmen.

Das Zuckerstück sieht ein, dass er da wohl oder übel allein durch muss. Zögernd legt er seine Hand auf die Klinke und drückt sie ganz vorsichtig hinunter.

Ich wechsle wieder ins Büro und sehe von dort, wie Jonas‘ Kopf langsam zum Vorschein kommt. Ängstlich sucht sein Blick die Frau, an deren Orgasmus er ungefragt teilhaben durfte.

Ja, die Luft ist rein. Vorerst.

Von seiner Anwesenheit weiß Frau Schnabold nichts, ihre gestrafften Schultern und ihr gerader Rücken zeigen jedoch, dass sie sich um Haltung bemüht. Der Gastgeber richtet sich erleichtert auf, und mit einem lauten Räuspern informiert er seinen Gast, dass er den Raum betritt.

»So, da bin ich wieder. Ich war kurz einen Schluck Wasser trinken. Oh, verzeihen Sie, wollten Sie vielleicht auch ein Glas?«

Ah, ein Gentleman. Spätestens ab jetzt wäre ich verliebt in ihn – wenn ich Susan wäre, natürlich.

Diesmal werden die Wangen der Frau rot, weil sie sich wegen ihres Benehmens schämt. Aber sofort reiben wieder ihre Schenkel aneinander, und ich weiß, dass die Droge ihre Wirkung noch nicht verloren hat.

»Das wäre nett. Es tut mir leid, ich weiß gar nicht, was mit mir …«

Komm schon, es hat dir doch gefallen. Lassen wir nochmal dein Höschen beben.

»… loooos ist«, schreit sie erschrocken auf und rutscht dabei vom Stuhl.

Mit überraschten Augen rappelt sie sich auf die Sitzfläche zurück, um gleich darauf aufzuspringen, weil sich unter ihr das Stuhlpolster wölbt – an ganz bestimmten Stellen.

Komisch, war ich das? Ach, ja.

Sie krallt sich schluckend an der rechten Ecke des Schreibtischs fest. »Ich muss irgendwas Verdorbenes gegessen haben. Vielleicht sollte ich mich doch besser auf den Heimweg machen.«

»Ja«, sagt Jonas und nickt energisch, denn er ahnt seine Rettung nahen. »Ja, bestimmt sind Sie krank. Sie sollten unbedingt nach Hause gehen. Wir können den Termin ein andermal nachholen.«

Klar. Aber nicht mehr in diesem Leben.

Entschlossen steht Zuckerschnittchen auf und packt mutig den Stier an den Hörnern. Oder in diesem Fall die Ziege an den Schultern, um sie in Richtung Ausgang zu schieben. Frau Schnabold entfährt dabei ein Stöhnen, welches einer Pornodarstellerin zur Ehre gereichen würde. Als hätte Jonas sich an ihr verbrannt, lässt er sie sofort los.

»Entschuldiguuuung«, keucht sie taumelnd und versucht, den Schritt ihrer Jeans nach unten zu ziehen, um dem Vibrieren zu entgehen.

Ja, ich bin eine böse Evodie. Nein, eigentlich nicht, denn wir alle wissen, dass diese Frau schon seit langem, laaaangem keinen Spaß mehr hatte. Im Grunde müsste die Ziege Lobeshymnen auf mich singen. Apropos singen …

»Oh Gott, oh Gott!«, stößt sie wild atmend hervor.

Mit der linken Hand zwischen den Beinen torkelt Frau Schnabold, sich an der Wand abstützend, den Gang entlang, bis zur Haustür. Jonas folgt ihr, schön mit Mindestabstand, denn man kann ja nie wissen.

Am Ziel angekommen, kann Jonas seine gute Erziehung dennoch nicht unterdrücken. Er greift um die Dame herum und öffnet ihr hilfsbereit die Tür. Irgendwie kommt es zu einer unbeabsichtigten, folgenschweren Berührung, und Frau Schnabold kiekst ein letztes Mal. Aufbäumend wirft sie sich gegen den Türrahmen und rutscht, nach peinlichen zehn Sekunden voller »Ja – Ja – Ja«, total erledigt zu Boden.

Ich schwöre, wenn sie Jonas jetzt nach einer Zigarette fragt … ich habe damit nichts zu tun. Für das, was zuvor geschah, übernehme ich jedoch voll und ganz die Verantwortung.

Vergebens versucht die hagere Frau, das, was von ihrer Frisur übrig ist, zu retten. Sie erhebt sich mit einem leichten Lächeln. »Danke. Es war … wundervoll.« Auf einmal klingt ihre Stimme weich und völlig entspannt.

Jonas‘ Kopf kreist unentschieden zwischen Nicken und Verneinen. »Bitte. Gern geschehen?!«, murmelt er irritiert und sieht zu, wie sich Frau Schnabold am Treppengeländer herunter auf den Bürgersteig hangelt.

Auch auf dem Gehweg knickt sie noch einige Male um, und daran bin ich nun wirklich vollkommen unschuldig.

Von den Ereignissen überrollt, fährt sich Jonas verzweifelt durch seine dunklen Wellen, die nach wie vor perfekt liegen.

Wie macht der Kerl das?

»Okay, jetzt kann es doch eigentlich nur noch besser werden«, murmelt mein Klient und schließt die Tür. Diesmal bleibt ihm genug Zeit, ein Glas Wasser zu trinken und sich zu erleichtern.

Äh, also nein. Beruhigt euch, keine Panik! Es gibt Dinge, die will niemand sehen, selbst wenn man es kann.

Es klingelt, und wie erwartet, steht Püppie vor der Tür, die ich heute Morgen in ihrem Schlafzimmer besucht habe. Absolut heiß sieht sie in ihren viel zu kurz geratenen Hotpants aus. Und nun gerate ich in Panik, weil … Jonas keinerlei Interesse an ihr zeigt.

So als Mann, versteht ihr? Kein Glotzen, kein Blinzeln, kein Stocken. Locker und cool tritt er ihr gegenüber, und das macht mir Angst, denn das heißt, dass er sein Herz unter einer Eisschicht aufbewahrt. Zwar hatte der Bericht so etwas angedeutet, aber … Halloo, das ist ein vitaler Mann im besten Alter, Single, seit drei Jahren Witwer und dem geht nicht der Puls in die Höhe, beim Anblick dieser weiblichen Kurven?

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