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Buch lesen: «Das Eulenhaus», Seite 14

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»Es scheint, als ob die schwüle, betäubende Nacht Fieber erzeugte«, sagte sie mit einem Lächeln um den blassen Mund. »Gehen Sie zu Bette, Cousine, und trinken Sie kühle Limonade. Sie reden irre! Rufen Sie Fräulein von Gerold, liebe Katzenstein«, wandte sie sich dann an die alte Hofdame, die herbeigeeilt war und unter ihrem Spitzenhäubchen hervor besorgt in das blasse Gesicht der Herzogin schaute.

Und als das schöne Mädchen kam, sagte sie freundlich und so laut, daß auch die Außenstehenden es hören mußten, indem sie das trauliche »Du« gebrauchte: »Führe mich zum Wagen, Dina, und vergiß nicht, daß du morgen an einem Krankenbett sitzen wirst. Ich fürchte, für meine Kräfte ist dieses schöne Fest zuviel geworden.«

Sie stützte sich fest auf Klaudines Arm und schritt, begleitet von dem Herzog, von Baron Lothar und dem Gefolge, nach allen Seiten freundlich grüßend, der Freitreppe zu, wo die Wagen hielten. Sie übersah dabei die tiefe Verneigung der Prinzessin Helene. – Als Klaudine an der Seite Lothars zurückkehrte, trug sie den Granatstrauß der Herzogin in der Hand.

Sie weilte noch einige Augenblicke unter all den Menschen, die plötzlich kein Auge mehr für sie zu haben schienen, aber sie bemerkte es nicht, sie sehnte sich nach Ruhe. »Gute Nacht, Beate, ich möchte heim.«

»Wie sonderbar die Herzogin war beim Abschied!« sprach Beate, als sie neben Klaudine dem Wagen zuschritt. »Sie sah dich an, als wollte sie bis auf den Grund deiner Seele schauen, und doch, als hätte sie dir etwas abzubitten. Wie lieblich die Art und Weise war, als sie dir den Strauß noch zuletzt aus dem Wagen reichte und: ›Meine liebe Klaudine‹ sagte, als könnte sie dir nicht liebes genug tun.«

»Wir haben uns sehr lieb«, antwortete Klaudine einfach.

Prinzeß Helene tanzte weiter in dieser Nacht. Dann meinte sie plötzlich, die innere Unruhe, die Herzensangst nicht mehr aushaken zu können, warf sich im Dunkel eines Gebüsches auf eine Bank und preßte ihre glühende Wange an das kalte Eisen der Lehne. Frau von Berg stand mit finsterer Miene vor ihr.

»Mein Gott«, sagte sie, »wenn jemand Eure Durchlaucht so sähe!«

»Kommt der Baron?« fragte die Weinende, rasch die Augen trocknend.

Die Berg lächelte.

»O, doch nicht, er spricht mit dem Landrat von Besser über Feuerversicherungen.«

»Haben Sie gesehen, Alice? Die Gerold wurde von der Herzogin beim Abschied noch mit dem Strauß begnadet, das war« – hier lachte die Prinzessin – »das Ergebnis meiner gutgemeinten Warnung.«

Frau von Berg lächelte noch immer.

»Durchlaucht verzeihen, die Herzogin konnte nicht anders! Auf ein bloßes Gerücht hin läßt ein so vornehmer Charakter seine Freundin nicht fallen. Ich habe geglaubt, Sie kennen Ihre Hoheit besser. Sie bestanden ja selbst so dringend auf Beweisen!«

Die Prinzessin fuhr mit beiden Händen an die Ohren, als wollte sie nichts mehr hören.

»Beweise!« wiederholte Frau von Berg noch einmal, »Beweise, Durchlaucht!«

20

Die Herzogin hatte sich gleich nach der Rückkehr in ihr Schlafgemach zurückgezogen und sich zur Ruhe begeben. Sie hatte ihr kühlendes Himbeerwasser getrunken und lag, die Arme unter dem Haupt, in ihrem stillen Zimmer. Zuweilen hustete sie und ihre Wangen begannen zu glühen.

Es war zuviel gewesen für sie, dieses rauschende Fest, sie hätte im Krankenzimmer bleiben sollen, wo sie hin gehörte – aber es ist doch so hart, so jung noch und schon so gebrechlich! Ob es je besser wird?

Sie griff an ihre linke Seite, sie fühlte da einen sonderbaren dumpfen Schmerz. »Merkwürdig, was kann es nur sein?« Wie lähmende eiskalte Angst kroch es durch ihre Adern und legte sich betäubend auf ihr Denken.

»Unmöglich!« flüsterte sie. Sie wußte plötzlich, woher der dumpfe Schmerz kam. »Unmöglich!« Sie richtete sich energisch im Bette auf und schaute um sich, als wolle sie sich vergewissern, daß sie wach sei, daß kein schwerer Traum sie quäle.

Die Herzogin ergriff einen elfenbeingefaßten Handspiegel und schaute hinein. Zwei tief eingesunkene Augen, ein mageres, gelbliches Gesicht sahen ihr in der mattrosigen Beleuchtung entgegen. Sie ließ den Spiegel auf die Bettdecke fallen und legte sich zurück, ein qualvolles Erschrecken auf ihren Zügen. »O du lieber Gott!« flüsterte sie. Und sie nahm das Bild des Herzogs vom Tischchen neben ihrem Bette, starrte das schöne, stolze Gesicht an und drückte es dann leidenschaftlich an ihre Lippen.

Oh, sie wußte am besten, wie sehr man diesen Mann lieben mußte!

Das Bild an die Brust gedrückt unter ihren gefalteten Händen, blieb sie liegen, die Blicke unverwandt ins Leere gerichtet. Klaudines hinreißende Erscheinung, wie sie dieselbe vor ein paar Stunden gesehen hatte, gaukelte vor ihren Augen, sie sah sie neben dem Herzog bei Tische, beim Tanz unter den Linden – das Mädchen hatte so oft die Farbe gewechselt. – Wie war sie nicht stets befangen, wenn Seine Hoheit ins Zimmer trat! Sie wollte immer so ungern singen, wenn er zugegen war!

»Arme Klaudine! Eine schöne Freundin, die hier an dich denkt, die dich erst mit aller Gewalt herangezogen hat, um dann an dir zu zweifeln!«

Nein, sie zweifelte gar nicht. Unerhörter Klatsch! Die kleine Prinzessin war bisweilen nahezu unbegreiflich!

Die Herzogin lächelte, und dennoch standen plötzlich perlende kalte Schweißtropfen auf ihrer Stirn, und durch das summende Geräusch des aufgeregten Blutes in ihren Ohren war ein heller unbarmherziger Glockenton, die Stimme der Prinzessin, gedrungen – »Hoheit wollen nicht sehen, Hoheit wollen nicht verstehen!« – so bestimmt, so entsetzlich unabweisbar. Die heißen Hände drückten das Bild fester gegen das unruhige, laut klopfende Herz. Ihre Lippen flüsterten: »Lieber tot, als das erleben – laß mich sterben, guter Gott, laß mich sterben!«

Ihr ganzes Eheleben zog vor ihren Augen vorüber. Sie selbst hatte den Altar ihres Glückes verschwenderisch mit Rosen geschmückt. Sollte sie übersehen haben, daß er ohne das ein recht schmuckloser gewesen? Daß sie allein davor gebetet hatte?

Wie kam sie nur darauf? Nein, sie hatte sich nicht hineinphantasiert in dieses Glück, sie besaß es wirklich! Er war doch stets so freundlich, so nachsichtig, so ritterlich gewesen, besonders jetzt, wo sie krank war.

Freundlich? Nachsichtig? Ist das alles, was die Liebe geben kann? Sie stöhnte auf, es schien ihr plötzlich, als sei ein Schleier von ihren Augen gerissen und lasse sie in eine grenzenlose Nüchternheit und Ärmlichkeit schauen.

Aber niemals hatte er ihr doch einen Grund zur Eifersucht gegeben, dieser bürgerlichen Leidenschaft, wie Prinzeß Thekla sagte, die einer Fürstin unwürdig sei.

»Ich kenne diese Leidenschaft nicht«, hatte sie damals geantwortet, »ich habe noch, Gott sei Dank, keine Gelegenheit dazu gehabt.« In diesem Augenblick aber fühlte die regierende Herzogin, die königliche Prinzessin, daß auch sie dieser Leidenschaft verfallen war in furchtbarem Grade, daß auch sie auf dieser Folterbank liegen werde, ohne Rettung.

Wieder blickte sie in den Spiegel, dann schlug sie die Hände vor die Augen. War sie denn blind gewesen? Was konnte sie ihm noch sein, sie, die Kranke, dem Grabe Zuwankende? Nichts, nichts als eine Last.

Aber konnten sie nicht warten, bis sie tot war? Wie lange würde es denn noch dauern? »Ach, nur Schonung, Mitleid so lange, nur so lange! Erbarmt euch!«

Sie sank zurück in einem ohnmächtigen Zustande, unfähig sich zu bewegen und doch fühlend, daß sie wache, daß es entsetzliche Wirklichkeit sei, daß ihr Schicksal die lächelnde Maske abgeworfen hatte, um sein wirkliches Antlitz zu zeigen, ein trostloses, verzweiflungsvolles Antlitz.

Der kalte Schweiß rieselte ihr über die Stirn, mit einer entsetzlichen Anstrengung schnellte sie endlich empor und riß in wilder Verzweiflung an der Klingel. Erschreckt stürzte die Kammerfrau herzu.

»Die Fenster auf!« stöhnte die Herzogin, im Bette sitzend, »ich ersticke!«

Die Kammerfrau eilte zum Fenster, raffte die Vorhänge zurück und da brach der erste funkelnde dunkelglühende Strahl der Morgensonne in das Gemach und traf das geängstigte fieberhaft erregte junge Weib auf seinem Lager.

Sie starrte wie fragend hinaus in diese wunderbar schöne Welt, über die im Morgenwind zitternden Wipfel der Bäume des Parkes hinweg zu den blaugrünen tannenbewaldeten Bergen. Sie atmete die reine, frische Luft, sie hörte das Zwitschern der Vögel im Geäst und sie brach in Tränen aus, in Tränen der Scham über ihre Verzweiflung, über ihr Mißtrauen.

Lange noch lag sie schluchzend und schlief endlich ein. Als sie erwachte, saß Klaudine an ihrem Lager.

Sie ordnete einen Strauß Rosen, die sie von Heinemanns Stöcken erbeten hatte, und war damit so lautlos emsig beschäftigt, daß sie nicht merkte, wie die Augen der Herzogin schon eine ganze Weile auf ihr ruhten. Als sie aufblickte, ging ein froher Zug über ihr sorgenvolles Gesicht.

»O, du!« rief sie und kniete an dem Bette nieder mit ihren Rosen. »Wie hast du mich erschreckt, Elisabeth! Was fehlt dir? In aller Morgenfrühe ließ mich Frau von Katzenstein schon holen. Ist dir das Fest gestern nicht bekommen?«

Die Herzogin hatte den Kopf schwer auf die Hand gestützt und unverwandt in das schöne Antlitz, aus dem Angst und Betrübnis so deutlich sprachen, geblickt. Dann strich sie wie liebkosend über das duftige Blondhaar. »Mir ist schon besser«, sagte sie leise, »wie gut, daß du gekommen bist!«

Sie blieb stumm während des ganzen Vormittags, aber sie folgte Klaudine immerwährend mit den Augen. Gegen Mittag wollte sie aufstehen, aber sie taumelte wie eine Trunkene und mußte wieder zu Bette.

»Bleib bei mir, Klaudine«, bat sie.

»Ja, Elisabeth.«

Die Kranke machte die müde zugesunkenen Augen auf, und als wundere sie sich über diese rasche Zusage, fragte sie: »Du kannst doch ohne Sorge fort von daheim?«

»Sprich davon nicht, Elisabeth. Selbst wenn es dort eine Lücke gäbe, ich würde dennoch kommen. Ich schreibe ein paar Worte an Joachim und lasse mir einiges notwendige holen. Ängstige dich nicht!«

»Erzähle mir etwas«, bat die Herzogin gegen Abend. Sie hatte den Tag über fast regungslos mit geschlossenen Augen gelegen.

»O gern, Elisabeth, aber was?«

»Aus deinem Leben.«

»Ach Gott, da ist wenig zu berichten. Ich meine, Elisabeth, du kennst das alles.«

»Alles?«

»Ja, meine liebe Elisabeth!«

»Hast du niemals eine Neigung gehabt, Dina?«

Über des Mädchens Gesicht flog ein glühendes Rot; langsam neigte sie den Kopf.

»Laß das, Elisabeth«, bat sie mit erstickter Stimme; »frage nicht weiter – ich —«

»Kannst du es mir nicht sagen?« sprach die Herzogin leise und dringend. »Schenke mir dein Vertrauen, Dina, schenke es mir. Du weißt doch alles von mir.«

In diesem Augenblick meldete die Kammerfrau den Herzog, und fast verstört erhob sich das schöne Mädchen und trat mit einer Verbeugung an ihm vorüber in das Nebenzimmer.

»Klaudine! Klaudinel« rief die Kranke, und als sie zurückeilte, deutete die Herzogin auf den Sessel neben ihrem Bette. »Bleib hier!« sagte sie herrisch. Es war zum erstenmal, daß sie so zu ihr sprach.

Gehorsam setzte sich Klaudine. Sie hörte, wie teilnehmend der Herzog mit der Kranken redete, wie er hoffte, daß sie morgen doch wieder an dem Fest im Garten teilnehmen könne, daß sicher auch Mama erscheinen werde.

»Ich will mir Mühe geben, gesund zu werden«, erwiderte sie.

»Das ist prachtvoll, Liesel! Gib dir Mühe«, lachte der Herzog. »Wenn alle Kranken so dächten, gäbe es weniger Patienten. Der Wille tut wirklich etwas zur Genesung, frage nur den Medizinalrat.«

»Ich weiß es, ich weiß es«, sagte sie hastig.

»Ich meine, du hast dich einfach erkältet, mein Kind«, sprach der Herzog weiter. »Du mußt durchaus mehr geschont werden, Nachtluft ist nichts für dich. Zum Winter gehst du auf jeden Fall nach dem Süden.«

»Zum Winter!« dachte sie bitter und sagte laut mit völlig ungewohntem Trotz: »Ich will mich aber nicht mehr schonen!«

Seine Hoheit schaute verwundert auf das sonst so fügsame Geschöpf. »Du bist in der Tat angegriffen«, erwiderte er, und sich zu Klaudine wendend, sagte er, dem Gespräche eine andere Wendung gebend: »Ihr Vetter hat gestern aber in Wahrheit ein reizendes Fest veranstaltet. Welch geschmackvolle Anordnung und welch eigenartige Trachten! Die Ihrige zum Beispiel, gnädiges Fräulein, einfach großartig! Nicht, Elisabeth?«

»Ich kann das Sprechen nicht ertragen, Adalbert, bitte – geh«, sagte die Kranke mit nervös zuckender Lippe. Und als er mit einer ungeduldigen Bewegung zurücktrat, reichte sie ihm ängstlich die Hand, während ihre Augen in Tränen schimmerten: »Verzeiht mir!« Und dann faßte sie Klaudines Hand, und sie mit ihrer heißen Rechten haltend, legte sie sich zurück und schloß die Augen.

Er war gegangen.

Der Himmel hatte sich indessen mit schweren dunklen Wolken bezogen, gewitterschwül und beängstigend war die Luft. In der trüben Regenbeleuchtung sah das Gesicht der Herzogin aus wie das einer Toten. So lag sie unbeweglich, und so saß Klaudine neben ihr, stundenlang.

21

Die Nachricht, daß die Herzogin krank sei, war bereits überall verbreitet.

»Sie sah so merkwürdig bleich zuletzt aus«, bemerkte Prinzeß Thekla, als man im Neuhäuser Speisesaal beim Abendessen saß.

»Meine Cousine wurde schon in aller Morgenfrühe hingeholt«, erzählte Beate, der man keine Spur von Müdigkeit ansah, obgleich sie gar nicht zu Bette gegangen war, um sämtliche Spuren des Festes beseitigen zu lassen. Da befand sich jede Silbergabel wieder an ihrem Platz, jede Tasse, jedes Möbel, nichts erinnerte mehr an das Feenmärchen der letzten Nacht. »Sie schreibt mir soeben«, fuhr Beate fort, »daß sie die Herzogin pflegt und ganz nach Altenstein übersiedelt ist.«

»Welch rührende Freundschaft!« rief die alte Prinzessin, die sehr schlechter Stimmung war, denn heute früh hatte Baron Lothar die Kinderfrau knall und fall entlassen, und Frau von Berg war schon in aller Morgenfrühe ein Schreiben an das Bett gebracht worden, das sie just in einem beglückenden Traum störte. Es enthielt die Entlassung von ihrer Stelle als Erzieherin »meiner Tochter« in aller Form, zwar unendlich artig gehalten, aber es war so, wenn auch liebenswürdigerweise der Baron am Schlusse die gnädige Frau bat, sie möge über die Gastfreundschaft in seinem Hause verfügen.

Sie hatte nur ein Morgenkleid übergeworfen und war gegen alle Hofsitte in das Schlafzimmer der Prinzessin Helene gestürzt. Die kleine Durchlaucht hatte elend ausgesehen, mit dunklen Ringen um die Augen, als habe sie während der Nacht mehr geweint als geschlafen.

»Was ist da weiter?« war der verdrießliche Trost gewesen. »Sie kommen dann zu Mama, Alice, ich werde mit ihr sprechen. Die Moorsleben geht ja ohnehin zu ihren Eltern zurück.«

Mama hatte dann auch wirklich sogleich die teure Alice aufgefordert, zu ihr zu kommen. Es war ja unerhört, einer »Dame« zu kündigen, als sei sie eine Erzieherin, einer Dame, die sie eigens ausgesucht hatte. Und sie hatte dennoch nicht gewagt, Gegenvorstellungen zu machen, man mußte ihr, die beinahe die fahrlässige Tötung des geliebten Enkelkindes verursacht hatte, sogar scheinbar zürnen.

Frau von Berg saß, blaß wie ein unschuldig gekränkter Engel, in ihrem Gemach, äußerlich voll edler Fassung, innerlich voll Zorn. Das Kinderzimmer war nach unten verlegt, dicht neben die alte gemütliche Schlafstube Beates, nach dem weiten luftigen Hofe hinaus, wo es Pferdchen, Kühe und Hühner zu sehen gab – die nämliche Aussicht, die schon den Vater des Kindes und Tante Beate entzückt hatte, und dieselbe treue Hand, die jene einst gehütet, hielt jetzt das Kindchen auf dem Arme, eine saubere, etwa fünfzigjährige Frau mit den freundlichsten Augen der Welt unter der schwarzen Bauernhaube. Lothar hatte sie heute früh persönlich aus dem schmucken Häuschen am Ende des Dorfes zu seinem Kinde geholt.

»Die Herzogin ist öfter leidend, wie wir alle wissen, Mama«, sagte Prinzeß Helene, die Lothar nicht aus den Augen ließ.

»Natürlich! Vielleicht hat sie sich über irgend etwas aufgeregt«, meinte die alte Prinzessin. »Übrigens, diese Schwüle ist erdrükkend, ich hätte nie geglaubt, daß es in den Bergen hier so heiß sein kann, ich muß beständig an die kühle, wogende Nordsee denken. Herr von Pausewitz,« wandte sie sich an den Kammerherrn, »haben Sie Nachricht aus Ostende, ob wir die Zimmer in unserem Hotel bekommen werden?«

Beate schaute verwundert ihren Bruder an. Die ungeheuren Koffer, welche die durchlauchtigsten Damen nach Neuhaus brachten, hätten auf einen längeren Aufenthalt schließen lassen.

Herr von Pausewitz machte eine bedauernde Bewegung. »Durchlaucht, der Wirt depeschiert, daß leider meine Bestellung zu spät kam, glaubt aber, in einem anderen Hotel —«

»Sie werden uns hoffentlich begleiten, lieber Lothar«, unterbrach Prinzessin Thekla den alten freundlichen Herrn und wandte sich zu Baron Gerold. »Die Erinnerung an unsere teure Verewigte wird Sie ebenfalls dorthin ziehen, wo Sie die kurzen Wochen der Brautzeit miteinander verleben durften.«

Lothar verbeugte sich. »Verzeihung, Durchlaucht ich sehe Plätze, an welche sich Erinnerungen knüpfen, die für mich so traurig sind, nicht gern zum zweitenmal. Aber abgesehen hiervon, ich habe in letzter Zeit bemerkt, daß meine Anwesenheit in Neuhaus mehr als nötig ist; auch für meinen Besitz in Sachsen dürfte es gut sein, wenn das Auge des Herrn einmal wieder sorgend auf ihm ruht.«

Die Prinzeß warf einen verzweiflungsvollen Blick durch das Fenster, der ebensogut den drohenden Wolken da draußen gelten konnte, wie der Starrköpfigkeit ihres lieben Schwiegersohnes.

»Eine Frau, eine Mutter faßt das Angedenken an die Heimgegangene natürlich anders auf«, sagte sie kühl, »weniger heroisch. Verzeihung, Baron!«

»Durchlaucht«, erwiderte er mit Wärme, »es wäre schlimm, würde es anders sein! Die Frauen haben das holde Vorrecht, Kultus zu treiben mit den äußeren Zeichen der Trauer wie der Freude. Sie sind es, welche Blumen streuen zum fröhlichen Fest, sie sind es, die das Grab bekränzen. Welcher Schimmer würde dem Leben fehlen, wenn sie ›heroischer‹ wären!«

Prinzeß Helene ward dunkelrot. Wie kam ihre Mutter auf den Einfall, von hier fortzugehen – jetzt? Die Gabel in ihrer Hand zitterte, sie mußte sie hinlegen.

Komtesse Moorsleben rief: »Um Gott …, sind Durchlaucht nicht wohl?«

»In der Tat – ich bin – mir ist so schwindlig plötzlich«, stammelte die Prinzessin. »Verzeihung, wenn ich —«

Sie hatte sich erhoben und, das Tuch vor die Augen gedrückt, schritt sie hinaus. Sie flog die Treppe förmlich hinauf und in Frau von Bergs Zimmer.

»Alice!« rief sie fassungslos, »Mama spricht vom Abreisen! Es ist schrecklich – es ist alles verloren!«

Frau von Berg, die im hellblauen Morgenkleide im Zimmer auf und ab schritt und ihr Riechsalz zuweilen mit halbgeschlossenen Augen an die Nase führte, hielt inne und vergaß für einen Augenblick ihre Krankenrolle.

»Gerold hat Mama seine Begleitung abgeschlagen«, fuhr die Prinzessin erregt fort, indem sie an ihrem Taschentuch zerrte, daß die feinen Spitzen zerrissen. »Er schwärmt plötzlich von seinen Wäldern, wie ein erbgesessener Bauernsohn, dem man zumutet, nach Amerika auszuwandern. Was soll ich in Ostende? Und noch dazu wenn ich weiß, Sie sind nicht mehr hier, Alice! Ich ertrage es nicht«, beteuerte sie und warf sich auf das Sofa, »ich springe unterwegs aus dem Zuge, ich stürze mich von der Mole in die See – ich —«

Das weiße Gesicht der Prinzessin leuchtete kaum noch kenntlich aus der schnell hereinbrechenden Dunkelheit herüber zu der unbeweglich dastehenden Frau.

»Ach Gott, es ist ja alles verloren!« rief sie, als diese schwieg. »Ich gehe, und sie bleibt!« Und sie begann leidenschaftlich zu weinen, indem sie aufs neue den Kopf in die Kissen barg. »Ich fühle es, Alice, ich fühle es, er liebt sie!« schluchzte sie.

Frau von Berg lächelte. Sie hatte keinen Grund mehr zur Schonung, seit ihrer heutigen Niederlage haßte sie alle diese Menschen.

»Prinzessin, jetzt keine unnötigen Tränen«, sagte sie kühl, »jetzt müssen Sie handeln. Vor allen Dingen, meine ich, müßte der Herzogin bewiesen werden, daß Durchlaucht keineswegs gestern abend ›im Fieber‹ redeten. Alles andere würde sich dann finden.«

Frau von Berg sah im Geiste schon die ganze Gesellschaft in die Luft fliegen, ihretwegen auch dieses kindische unentschlossene Geschöpf.

»Aber ich kann es ihr nicht sagen, ich kann es nicht!« flüsterte die Prinzessin, »ich habe einmal sehen müssen, wie sie ein Reh krankgeschossen hatten, und ebenso blickte sie mich gestern an. Ich kann es nicht! Ich habe die ganze Nacht deshalb nicht geschlafen.«

Frau von Berg zuckte die Achseln. »So gehen Durchlaucht nach Ostende, die Idylle hier wird sich dann ungestört entwickeln.«

Draußen warf der Wirbelsturm, der vor dem Gewitter daherbrauste, Sand und Blätter gegen die Fenster und zerzauste wütend die Äste der Linden, dann fuhr der erste grelle Blitz hernieder und streifte das spöttisch verzogene Gesicht der schönen Frau, die am Fenster lehnte und in das Toben hinausschaute.

»Ich will ihr schreiben«, sagte jetzt die Prinzessin, und nach einer Pause, während welcher ein Donnerschlag das Haus erbeben machte: »Ich bin es ihr schuldig – ja, ja, ich bin es ihr schuldig, Sie haben recht, Alice! Kommen Sie in mein Zimmer, ich fürchte mich.«

Frau von Berg zündete eine Wachskerze auf dem Schreibtisch an und leuchtete der Prinzessin über den Flur nach ihrem Zimmer. Auf dem weißen runden Frauen- gesicht lag ein Zug höchster Befriedigung. »Endlich!« dachte sie und ballte heimlich die Faust. Wie hochmütig sie an ihr vorübergeschritten war, als Baron Gerold sie – Frau von Berg, – maßregelte, sie, deren Vorfahren mindestens so alt waren wie die ihren.

»Was meinen Sie, Alice«, unterbrach die Prinzessin ihre Gedanken, »wie soll ich schreiben?«

Die zierliche Gestalt der kleinen Durchlaucht saß vor dem Rokokoschreibtischchen, vor sich ein wappengeschmücktes Briefblatt. Vorläufig stand nichts weiter darauf als: »Geliebte Elisabeth!«

»Irgend so etwas, Durchlaucht, wie – daß die Sorge um das Glück Ihrer Hoheit Sie veranlasse, die gestern hingeworfene Bemerkung näher zu begründen, Durchlaucht könnten es vor Ihrem Gewissen nicht verantworten und so weiter, und hier sei der Beweis —«

Die Prinzessin wandte den Kopf und schrieb. Draußen tobte das Wetter, und wenn ein Donnerschlag das Haus erschütterte, hielt die schreibende Mädchenhand inne. Zuweilen fuhr sich die Prinzessin ängstlich über die Stirn, dann flog die Feder aufs neue über das Papier, und endlich reichte das Mädchen der bewegungslos inmitten des Zimmers stehenden Frau das Schreiben.

Diese trat zu der kleinen Kerze und las. »Wie immer gefühlvoll«, sagte sie, »rührend! Und nun das Briefchen Seiner Hoheit, Durchlaucht«, und ihre Augen schimmerten wie die einer beutegierigen Katze.

Die Prinzessin zog das Kettchen unter ihrem Kleide hervor, zögernd nahm sie den Brief aus der Kapsel und schloß dann die Hand zur Faust darum. Ein letzter Kampf rang in ihrem Herzen. Frau von Berg lehnte an der Wand neben dem Tische. »Übrigens«, sagte sie langsam, »großartig sah sie aus, gestern, diese Klaudine. Sie haben einen eigenen Reiz, diese blonden Frauen mit den feuchten blauen Augen —« aber sie bemerkte doch, daß die Prinzessin bereits mit zitternden Fingern die Adresse schrieb.

In diesem Augenblick erschien die Komtesse, um ihre junge Gebieterin zu der Mutter zu rufen. Die alte Prinzessin hatte Nervenanfälle und war in jener krankhaften Verfassung, wo sie Sachen zerschlug und Stoffe zerriß. Auch heute tobte sie wie das Wetter draußen. Mit verweinten Augen kam die Prinzessin nach einer halben Stunde zurück in ihr Gemach, sie hatte mit stummem Trotz die ganze Flut der Vorwürfe hingenommen. Auf dem Schreibtisch flackerte noch das Wachslicht im Verlöschen, die hastig hingeworfene Feder lag neben dem Schreibzeug, aber – die kleine Hand fuhr nach der Stirn – der Brief? Wo war der Brief?

Eine zitternde Angst überfiel sie, sie stürzte durch den Flur nach Frau von Bergs Zimmer.

»Alice!« schrie sie in die Dunkelheit hinein, »der Brief! Wo haben Sie den Brief? Ich will ihn noch einmal lesen!«

Keine Antwort.

»Alice!« rief sie heftig und trat mit dem Fuße auf.

Alles blieb still.

Sie lief die Treppe hinunter. Durch die halbgeöffnete Tür der Halle drang wundervoll erfrischende Luft herein, es hatte aufgehört zu regnen. Draußen auf den Steinfliesen glitt ein Schatten auf und ab.

»Alice!« rief die Prinzessin zum drittenmal und eilte hinaus. »Der Brief! Wo ist der Brief?«

»Durchlaucht, ich habe ihn pünktlich besorgt.«

Ein halberstickter Schrei kam aus dem Munde der Prinzessin.

»Wer hat Ihnen befohlen, den Brief abgehen zu lassen?« stammelte sie zornig und faßte die Schulter der Dame.

»Nun, Durchlaucht«, erwiderte diese, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, »ich fand just Gelegenheit.«

Aber die Prinzessin beruhigte sich nicht. »Und was soll ich sagen, woher ich dieses entsetzliche Briefchen habe?« fragte sie, die Hände ineinander windend.

»Gefunden!« erwiderte die Berg.

»Ich lüge nie!« rief das fürstliche Mädchen und ihre zierliche Gestalt wuchs förmlich. »Von Ihnen wisse ich es, werde ich sagen, so wahr mir Gott helfe, und ich spreche die Wahrheit damit, Alice!«

»Wie Durchlaucht darüber denken – dann habe ich das Briefchen gefunden«, erwiderte sie. »Ich gab es dem Reitknecht mit, den der Baron an Fräulein von Gerold nach Altenstein sandte, er soll es an Frau von Katzenstein abgeben; ich schrieb ihr ein paar Worte, daß sie den inliegenden Brief Eurer Durchlaucht morgen früh Ihrer Hoheit überreichen solle.«

Die Prinzessin war still geworden. Sie hielt sich an dem im blassen Mondlicht schimmernden Türklopfer von Bronze, den der sterngeschmückte Hirsch krönte. Sie konnte nicht mehr klar denken, sie fühlte sich unsäglich elend.

Frau von Berg wußte ganz genau, daß es ein Brief Beates war, den der Reitknecht forttrug, aber warum das sagen? So wurde das Feuer noch mehr geschürt.

Die Prinzessin wandte sich nach der Halle zurück und dort stand sie still. Es war eine Furcht, ein unnennbares Grauen über sie gekommen.

Beate trat eben aus dem Zimmer Lothars, das Schlüsselkörbchen am Arm. »Prinzessin!« rief sie erschreckt, »wie sehen Sie aus!«

Da kam es wie Leben über sie. Sie eilte die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, und da wühlte sie die Hände ins Haar und lag angekleidet auf ihrem Bette die Nacht hindurch, halb bewußtlos, und fürchtete, daß es Tag werden möchte.

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Veröffentlichungsdatum auf Litres:
04 Dezember 2019
Umfang:
370 S. 1 Illustration
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