SPACE 2021

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Aus der Reihe: SPACE Raumfahrtjahrbücher #18
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SPACE 2021
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SPACE 2021

Impressum

ePub-Edition Oktober 2020

Copyright © by VFR e.V., München

Alle Rechte vorbehalten

Initiator: Verein zur Förderung der Raumfahrt e.V., www.vfr.de

Herausgeber: Thomas Krieger

Organisation: Peter Schramm

Lektorat: Heimo Gnilka, Margit Drexler, Thomas Krieger, Peter Schramm, Stefan Schiessl

Titelmotiv: Die RIME Antenne (Radar for Icy Moons Exploration) der Raumsonde JUICE wird in einer anechoischen Kammer vermessen, ESA

Layout & Satz: Stefan Schiessl, www.exploredesign.de

Web: www.space-jahrbuch.de / eMail: space@vfr.de

ISBN 978-3-944819-49-5 (ePub)

Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,

irgendwie erinnert mich das Jahr 2020 an einen Song aus meiner Jugend. Er stammt von Barry McGuire und trägt den Titel „Eve of destruction“. Zwei bemerkenswerte Zeilen aus dem Text lauten: “You may leave here, for four days in space, but when you return, it‘s the same old place”. In gewisser Weise trafen diese Worte auch für den Orbitalflug von Bob Behnken und Doug Hurley bei der SpaceX Demo-Mission 2 zu.

Fast schon beneidete man die beiden. Das Timing ihrer Mission, zufällig wie es sein mochte, war exquisit. Einfach mal den Planeten für zwei Monate verlassen und darauf hoffen, dass sich die Dinge bei der Rückkehr gebessert haben.

Hatten sie aber nicht. Es war danach weiterhin der gleiche, alte Ort. Ein Ort des Umbruchs, der an die zweite Hälfte der sechziger Jahre erinnerte. Ein Ort der Unruhen und Bürgerrechtsproteste in den USA, eine Pandemie die weltweit grassiert, und zum Zeitpunkt, an dem ich dies hier schreibe schon fast 30 Millionen Menschen weltweit befallen und fast einer Million Menschen das Leben gekostet hat. Eine dadurch hervorgerufene Rezession, die stark an die von 1929 erinnert, und die weiter wachsende Sorge um das aus dem Ruder laufende Klima.

Man war versucht, sich zu fragen, was denn in diesem Jahr noch alles hätte schief gehen können, unterließ es aber dann vorsichtshalber, denn es wäre gut möglich gewesen, dass man darauf tatsächlich eine Antwort bekommen hätte. Gleich wie schlimm die Dinge schon sind, unsere Lebenserfahrung zeigt, dass sie immer noch schlimmer werden könnten. Und wer weiß was tatsächlich noch kommt. Das Jahr läuft zum Zeitpunkt, an dem diese Zeilen entstehen, noch dreieinhalb Monate.

Auch die Raumfahrt war vom Virus betroffen. Ohne diesen wäre es ein Rekordjahr an Starts geworden. Aber manche Nationen wie etwa Indien oder zeitweise auch Europa fuhren ihre Aktivitäten zum Teil komplett herunter. Bei fast allen anderen kam es zumindest zu Verzögerungen, wie in China oder den USA.

Dennoch, es gab auch positive Ereignisse. Zum ersten Mal seit der Einstellung der Shuttle-Flüge waren US-Astronauten wieder von amerikanischem Boden in die Erdumlaufbahn geflogen. Für die USA schien der Orbitalflug von Bob Behnken und Doug Hurley wie eine Salbe auf die Wunde der Unruhen in den Städten, der hohen Arbeitslosigkeit und der politischen Zerrissenheit des Landes. Den beiden zuzusehen, wie sie ihren Weg zur Internationalen Raumstation und 62 Tage später wieder zurück zur Erde machten, das war schon eine Freude. Für Amerika war es endlich wieder ein verbindendes Element in diesen schwierigen Zeiten.

Damit genug des Räsonierens. Die Welt läuft weiter. Auch in der Raumfahrt. Auch die bereits begonnenen Programme gehen weiter, mögen sie auch gelegentlich ein wenig ins Stolpern geraten.

Das beweist auch unser diesjähriger Leitartikel in dem wir den „Wettstreit der Mondlander“ vorstellen. Aus fünf Angeboten wählte die NASA drei Unternehmen und Konsortien aus. Sie gehen jetzt in die nächste Phase im Kampf um den lukrativen Auftrag für den ersten bemannten Mondlander nach Apollo.

In zwei Artikeln stellen wir interessante Raumsondenprojekte vor, die im Berichtsjahr wichtige Meilensteine absolviert haben. Das ist zum einen die europäische Jupitersonde JUICE, der wir den Titel „JUICE – Endstation Ganymed“ widmen. Zum anderen ist es die US-Raumsonde Psyche, die fast zur selben Zeit wie JUICE starten soll. Die Reise geht bei ihr zu dem Metall-Asteroiden Psyche, der dem Raumfahrzeug auch seinen Namen gegeben hat.

Dann wollen wir den Status der Internationalen Raumstation beleuchten. Wussten Sie, dass der US-Schauspieler Tom Cruise da im kommenden Jahr hin will? Und dass das Ende der ISS unausweichlich eines Jahres kommen wird? Und wann das ist und was danach kommt? Wenn Sie an diesen Fragen interessiert sind, ist unser Beitrag „Tom Cruise und das Ende der ISS“ genau der Richtige für Sie.

Den meisten von Ihnen dürfte nicht bekannt sein, dass Indien derzeit ein eigenes bemanntes Raumfahrtprogramm aufbaut, und zukünftig sogar eine Raumstation betreiben will. Wir berichten darüber in „Indiens bemanntes Raumfahrtprogramm“.

Im Berichtsjahr wurden drei Raumsonden zum Planeten Mars gestartet. Alle drei werden ihr Ziel im Februar 2021 erreichen. Eine besonders komplexe Mission ist die der chinesischen Tianwen 1-Raumsonde. Wir berichten darüber und über die weiteren interessanten Pläne Chinas für die Erforschung des Sonnensystems.

Wenig bekannt ist, dass es die Seefahrt braucht, damit Raumschiffe fliegen können. Ein ausführlicher Beitrag befasst sich mit den Schiffen, welche die Raumfahrt überhaupt erst möglich machen.

Wie immer gibt es auch in diesem Jahr einen interessanten Beitrag zur Raumfahrtgeschichte. Dieses Mal geht es um Rudolf Nebel, einen heute fast vergessenen Raumfahrtpionier aus dem fränkischen Weißenburg.

Sind sie Gegner der Atomkraft? Dann sollten sie den Artikel „Atomkraft für die Raumfahrt“ am besten überspringen. Wir erläutern nämlich darin, dass wir langfristig auf Atomkraft nicht verzichten können, wenn wir unseren kosmischen Vorgarten jemals verlassen wollen.

In „Nicht unbedeutend“ berichten wir über die unbekannteren Mitglieder eines exklusiven Clubs. Wir beschäftigen uns darin mit den sogenannten „kleinen“ Nationen, die in der Lage sind, eigene Satelliten mit eigenen Trägerraketen von nationalen Weltraumbahnhöfen aus in den Orbit zu senden.

In „Vision 2040 – Jahr 1“ stellen wir Ihnen erste Ergebnisse zu unserem „Projekt Zeittunnel“ vor. Spannend zu sehen wie Sie, unsere Leser, sich die Entwicklung der Raumfahrt in der Zukunft vorstellen.

Wie schon im letzten Jahr weicht auch die Filmbesprechung für die Ausgabe SPACE 2021 vom normalen Standard ab. Das ist Covid geschuldet, denn dank (oder undank) dieser Epidemie haben es praktisch keine Science-Fiction Filme so rechtzeitig in die Kinos geschafft, dass wir einen richtigen „Blockbuster“ besprechen konnten. Deswegen haben wir uns einen „Straßenfeger“ der 60er-Jahre vorgenommen und einen Blick auf DIE SF-Serie meiner Jugend geworfen: „Raumpatrouille – Die Abenteuer des Raumschiffs Orion“.

Jedes Jahr ändern wir SPACE ein wenig. Unauffällig nur, um unsere Traditionsleser nicht zu verschrecken, aber doch genug, um auch neue Leser zu gewinnen. In diesem Jahr haben wir den klassischen Chronik-Teil mit den Starts (und bemannten Landungen) des Jahres um etwa 20 Prozent gekürzt. Dafür haben wir das „Raumfahrt-Panorama“ etwas ausgebaut. Dieser Teil beschäftigt sich mit Meldungen aus der Raumfahrt des vergangenen Berichtsjahres, der nichts mit Startaktivitäten zu tun hat, sondern mit Ereignissen und Personen.

Unser diesjähriger Science-Fiction Wettbewerb befasste sich mit dem Schwerpunkt „Weltraum-Tourismus“. Wie immer finden Sie die drei besten Beiträge im Buch. Freuen Sie sich darauf. Es sind drei sehr unterschiedliche Geschichten.

Neben den Artikeln widmen wir einen wesentlichen Teil des Buches wie immer einer ausführlichen Dokumentation aller Raumfahrtstarts in der SPACE-typischen Berichtsperiode, die für den aktuellen Band vom September 2019 bis August 2020 läuft. Wir haben damit in den bislang erschienenen 18 Bänden jede einzelne Mission, die seit dem 5. Januar 2003 in den Orbit oder darüber hinausging, im Detail dokumentiert.

Für die Zahlenfreaks unter unseren Lesern, und davon gibt es eine ganze Reihe wie wir wissen, haben wir wie jedes Jahr einen Block von über 20 Seiten zur Statistik des Jahres erarbeitet.

Gegen Schluss des Editorials findet sich auch immer der Platz, allen zu danken, die wesentlich zum Entstehen dieser Ausgabe beigetragen haben. Allen voran den beiden Hauptprotagonisten, unserem Grafiker, Layouter und Ideengeber Stefan Schiessl, der dafür sorgt, dass dieses Werk ein haptisches und optisches Erlebnis wird. Dank auch an Peter Schramm, den „General Manager“ des Projektes „SPACE“. Unterstützend tätig war in diesem Jahr wieder Lothar Karl, der Organisator des VFR-Science Fiction Kurzgeschichten-Wettbewerbs. Ein weiterer herzlicher Dank geht nach Berlin an unsere Lektorin Margit Drexler und nach Weilheim, wo Heimo Gnilka ebenfalls darüber wacht, dass das Buch so fehlerfrei wie möglich die Leserin und den Leser erreicht. Und zu guter Letzt wollen wir auch den Autoren unserer beiden Gastbeiträge danken, nämlich Alexandra Lein, der Projektleiterin des Antriebssystems der Jupitersonde JUICE und dem Historiker Thomas Wägemann vom Stadtarchiv Weißenburg.

Ein großes Dankeschön richten wir wie stets an dieser Stelle an unsere Sponsoren. Sie tragen jedes Jahr den Teil der Erstellungskosten, die mit den Verkäufen alleine nicht zu decken wären.

Ein paar Zeilen noch zu unserem Kontaktangebot. Wir haben es um zusätzliche Möglichkeiten erweitert, mit uns in Verbindung zu treten. Sie können uns zum Beispiel unter www.vfr.de mit der Mail-Adresse space@vfr.de schreiben. Noch ein wenig persönlicher und direkter geht es über unser Facebook-Konto www.facebook.com/SPACE.Jahrbuch, das fast tägliche Updates erlebt. Abonnieren Sie es und kommentieren Sie mit. Oder sehen sie sich unser spezielles SPACE-Portal unter www.space-jahrbuch.de an, wo sie neben interessanten Dingen um das Thema Raumfahrt auch Informationen zu unserem Jahrbuch und sein Entstehen erhalten und wo sie beim „Projekt Zeittunnel“ mitmachen können. Diese Seite ist auch der Ort, an dem sie die Bände vergangener Jahre nachbestellen können, die im Buchhandel möglicherweise schon vergriffen sind.

 

Wenn Sie Kritik für uns haben oder Lob, Tipps oder Meinungen, ein Problem oder eine Frage zu den Inhalten, wenn Sie sich schon mal die Ausgabe für das nächste Jahr reservieren wollen oder gerne der Tochter oder dem Sohn eins der Bücher schenken wollen, gerne auch signiert, wenn sie eine Prognose zum zukünftigen Verlauf der Raumfahrt abgeben wollen: nehmen Sie über eine der vielfältigen Möglichkeiten Kontakt mit uns auf. Wir freuen uns auf Ihr Feedback.

Und jetzt hinein ins Raumfahrtgeschehen. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre von SPACE 2021. Bleiben Sie uns weiterhin treu und gewogen.

Im Namen des SPACE-Teams, Ihr Eugen Reichl


Themen im Fokus



Eine Barke, 110 x 80 Meter groß, modifiziert für den Meeresstart einer Langer Marsch 11, wird ins Startgebiet geschleppt.

Wettstreit der Mondlander


Bis zum März 2020 war der Weg zur Mondoberfläche umständlich aber klar und verlief wie folgt: Im Rahmen der ARTEMIS III-Mission fliegt eine vierköpfige Crew mit einem Orion-Raumschiff zum Mini-Gateway, einer rudimentären Kleinraumstation, die sich in einem sogenannten Halo-Orbit um den Mond befindet. Die Bezeichnung „Halo-Orbit“ geht zurück auf den NASA-Wissenschaftler Robert Farquhar, der erstmals Umlaufbahnen um Lagrangepunkte vorschlug. Es ist keine spezifische Abkürzung, sondern bezieht sich auf die Form des atmosphärischen Lichteffektes, die durch Reflexion und Brechung von Licht an Eiskristallen entstehen.

In diesem Halo-Orbit also legt die Orion an einem der Docking-Adapter des sinnigerweise HALO genannten Wohnmoduls des Gateway an. In diesem Fall ist HALO ein Akronym und bedeutet: HAbitation and Logistics Outpost. An einem weiteren Docking-Adapter dieses Moduls sollte dann schon idealerweise der Mondlander warten, der einige Wochen zuvor von der Erde kommend unbemannt dorthin geflogen ist. Nun ziehen zwei der vier Astronauten in diesen Lander um und machen ihn startklar. Die beiden anderen richten sich im Gateway ein. Die Mondcrew fliegt ab, landet auf dem Erdtrabanten, erledigt ihren etwa einwöchigen Forschungsauftrag und kehrt dann wieder zum Gateway zurück. Alle vier steigen wieder in die Orion und fliegen gemeinsam zurück zur Erde. So weit, so umständlich. Kritiker, allen voran Robert Zubrin von der Mars Society, wiesen schon früh darauf hin, dass für eine „simple“ und möglichst zeitnahe Mondlandung der Umweg über den Außenposten unnötig sei. Um Präsident Trumps Ziel einer Landung vor dem Ende des Jahres 2024 realisieren zu können, ist dieses Vorgehen sogar ziemlich kontraproduktiv. Genauso gut kann der Mondlander direkt in einen hohen Mondorbit transportiert werden (ein niedriger Orbit geht leider nicht, denn einen solchen kann die Orion aus eigener Kraft nicht erreichen). Also ist es am vernünftigsten, die Orion legt direkt dort an, ein oder zwei Astronauten bleiben zurück um die Orion zu steuern, die anderen zwei oder drei landen derweil auf dem Mond. Damit, so befand die NASA nach einigem Nachdenken, könne man das Gateway aus dem „kritischen Pfad“ nehmen und sei nicht darauf angewiesen, dass die ersten Module Ende 2024 auch an Ort und Stelle wären (im vorhin beschriebenen Halo-Orbit nämlich). Erst für nachfolgende Missionen, derzeit vorgesehen für ARTEMIS IV oder V in den Jahren 2025 oder 2026 soll der Gateway mit eingesetzt werden. So lange wird er dann auch nicht von Menschen besucht. Er sei aber, so die NASA, auf jeden Fall notwendig: Als Forschungsplattform, als Zwischenstation für den Crew-Wechsel, als Andock-Knoten für die Mondfähren, die in dieser späteren Phase wiederverwendbar und betankbar sein sollen, als energiesparende Möglichkeit, die Inklination der Mondumlaufbahnen späterer Landevehikel zu ändern, und später vielleicht auch als Absprungbasis für Flüge zu erdnahen Asteroiden oder zum Mars.


Gateway aus dem kritischen Pfad


Somit gehen die Vorbereitungen zur Errichtung des Gateway unverändert weiter, allerdings nun ohne den zeitlichen Druck, ihn unbedingt für die erste Mondlandung zu brauchen. Im Berichtszeitraum von SPACE 2021 hat die NASA dazu eine Reihe wichtiger Entscheidungen getroffen und Verträge auf den Weg gebracht. So wurde der Vertrag mit Maxar Industries (vormals Space Systems Loral) für die Lieferung des Energie- und Antriebsmoduls (Power and Propulsion Element, oder kurz PPE) unterzeichnet. Northrop Grumman erhielt den Auftrag für das schon erwähnte HALO-Modul, und SpaceX wird für die Versorgung des Gateway zuständig sein, und dafür den Dragon XL bauen und entwickeln. Damit weiterhin alles schnell geht, die Kosten aber im Rahmen bleiben, hat die NASA auch den Entschluss gefasst, PPE und HALO auf einer einzelnen Rakete zu starten. Die wird über eine erhebliche Leistungsfähigkeit verfügen müssen, um beide Module gleichzeitig auf den Mondtransfer zu bringen. Das Space Launch System kann es nicht sein, denn diese Rakete mit seiner geradezu absurden Komplexität und enorm langen Fertigungsdauer wird nur für die bemannten ARTEMIS-Missionen zur Verfügung stehen können. Bleiben also die Vulcan der United Launch Alliance (wobei hier die Frage ist, ob die für einen solchen Einsatz notwendige Version überhaupt schon 2023 zur Verfügung steht), die New Glenn (wobei auch hier die Frage offen ist, ob sie bis 2023 schon einsatzfähig ist) und die Falcon Heavy. Seien wir realistisch: wenn die Module tatsächlich bis 2023 fertig sind, dann kann es eigentlich nur die Falcon Heavy sein, denn die ist als einzige bereits heute einsatzbereit.

Aber wir stellten ja fest: So ganz dringlich ist die Sache mit dem Gateway nun nicht mehr, denn die erste, vielleicht auch die zweite Mondlandung der Nach-Apollo-Zeit werden jetzt direkt angegangen, ohne Umweg über den Gateway.

Die Auswahl

Nachdem auf der Gateway-Seite der Druck weggenommen ist, verschärft sich aber nun der Druck umso mehr, das eigentliche bemannte Mondlandesystem rechtzeitig zur Verfügung zu haben. Ende April 2020 wählte die NASA drei Unternehmen aus, die sich in den darauffolgenden zehn Monaten im „Endkampf“ um den lukrativen Auftrag für Entwicklung und Bau des HLS befinden. HLS, das ist in der NASA-Terminologie die Abkürzung für das „Human Landing System“. Die drei ausgewählten Unternehmen sind Blue Origin, Dynetics und SpaceX. Alle drei haben nicht nur sehr interessante, sondern vor allem auch drei extrem unterschiedliche Konzepte vorgelegt, mit denen sie das Ziel erfüllen wollen, zwei Menschen vor Ablauf des Jahres 2024 auf dem Mond zu landen. Insgesamt gibt die NASA für diese zehnmonatige Programmphase 967 Millionen Dollar aus. Das entspricht etwa 830 Millionen Euro. Die Geldmittel sind dabei recht unterschiedlich verteilt und spiegeln den momentanen „Glauben“ der Raumfahrtbehörde an die Realisierbarkeit der unterschiedlichen Konzepte wider. Blue Origin, das im Rahmen eines Konsortiums ein dreistufiges Transfer-, Lande- und Aufstiegsmodul in sehr klassischem Design vorsieht, erhält mit 579 Millionen Dollar etwa 60 Prozent der Gesamtmittel. Dieses Design ist konservativ in seiner Auslegung, das Konsortium beinhaltet eine ganze Reihe der „klassischen“ Raumfahrtfirmen und Teile der Konstruktion sind schon weit gediehen. Insofern glaubt die NASA, dass dieses Konzept am leichtesten und schnellsten zu realisieren ist.

Dynetics erhält 253 Millionen Dollar. Dieser Entwurf ist schon deutlich progressiver. Es ist ein zweistufiges Konzept mit einem verblüffend konstruktiven Ansatz, der das Problem des „Herauskletterns“ aus der Mondfähre elegant löst. Und schließlich SpaceX. So, wie man es von diesem Unternehmen erwartet, der mit weitem Abstand revolutionärste Entwurf. Das Konzept eines riesigen, auf dem Spaceship-Konzept basierenden, einstufigen und mehrfach wiederverwendbaren Landers mit schier unfassbaren Reserven. Dieses Design klassifizierte die NASA, wer will es ihr verdenken, als das am wenigsten realistische Unterfangen und ordnete ihm deshalb nur 135 Millionen Dollar zu.

Zwei Angebote fielen in der Bewertung durch und wurden von der NASA keiner weiteren Betrachtung für würdig befunden. Eines davon war das von Boeing. Das Unternehmen ist tief gefallen, in den letzten Jahren.


Blue Origin

Das Angebot von Blue Origin profitiert von den Erfahrungen von Lockheed Martin, Northrop Grumman und den Draper Laboratories, die je ein Element dieses dreistufigen Vehikels bauen sollen. Blue Origin bezeichnete diese Verbindung von drei erfahrenen Unternehmen als das „National Team“ und trifft damit genau den Duktus der Trump-Regierung. Grundgedanke des Entwurfes war es, dass jedes Element separat entweder an Bord einer New Glenn- oder einer Vulcan-Trägerrakete ins All gebracht werden kann. Diese beiden Raketen haben auch starke Verbindungen zu den drei Unternehmen. Blue Origin baut die New Glenn und das Haupttriebwerk für die Vulcan-Rakete der ULA, Northrop Grumman baut die Feststoffbooster für die Vulcan und Lockheed ist eine der beiden Muttergesellschaften der ULA, welche die Vulcan bauen und betreiben wird. Der Begriff vom National Team soll vermitteln: Wir sind eine eingespielte Mannschaft hochqualifizierter Unternehmen.


Alternativ könnten auch alle drei Komponenten der Kombination mit einem einzelnen Space Launch Vehicle (SLS) der NASA gestartet werden, doch ist absehbar, dass bis Ende 2024 davon nur drei Einheiten gebaut werden können, und die werden ausschließlich für den Transport der Orion-Kapsel benötigt. Der Lander des „National Teams“ kann sowohl direkt mit dem Orion-Raumschiff im Mondorbit gekoppelt werden, als auch mit dem Mini-Gateway, das ja bis Ende 2024 ebenfalls zur Verfügung stehen sollte. Die ersten ein- oder zwei Landungen des Artemis-Programms, das sind die Missionen 3 oder 4 sollen jedoch nach neuer Beschlussfassung ohne den Gateway erfolgen. Das bedeutet, es wird ein Direkt-Docking mit dem Orion-Raumschiff in einem weiten lunaren Orbit stattfinden.


Sobald die ARTEMIS III-Mondoberflächencrew in den Lander gewechselt ist, wird das auf dem Cygnus-Versorgungsmodul für die ISS basierende Transferelement von Northrop Grumman den Lander und die Aufstiegsstufe auf eine niedrige Mondumlaufbahn bringen. Danach koppeln Transferelement und das weiterhin miteinander verbundene kombinierte Lander- und Aufstiegselement voneinander ab. Nun übernimmt das von Blue Origin entwickelte Landeelement und bewerkstelligt den Abstieg zur Mondoberfläche. Diese Abstiegsstufe wird von zwei Blue Origin BE-7 Triebwerken angetrieben. Diese Raketenmotoren befinden sich bereits in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstadium.

Nachdem nach einer Woche Aufenthalt auf der Mondoberfläche die Aktivität der Landeastronauten beendet ist, bewerkstelligt die von Lockheed Martin zu entwickelnde Aufstiegsstufe den Rückstart in die Mondumlaufbahn. Der Lander bleibt zurück. Die Aufstiegsstufe steuert dann das wartende Orion-Raumschiff direkt an. Die Mondcrew steigt in die Orion um, wo sie von den dort verbliebenen Astronauten in Empfang genommen werden. Dann zünden sie das Haupttriebwerk und kehren wieder zur Erde zurück. Das Aufstiegselement ist im Prinzip mehrfach wiederverwendbar. Ob diese Wiederverwendbarkeit aber bei den „Single Sorties“ ohne die Verwendung des Gateway genutzt wird, ist derzeit noch nicht klar. Theoretisch könnte die Aufstiegsstufe sobald sie die Astronauten an der Orion abgesetzt hat und die Treibstoffreserven noch ausreichend sind, selbständig am – dann möglicherweise schon existierenden – Mini-Gateway anlegen. Im August 2020 schickte Blue Origin der NASA bereits ein 1:1 Mock-Up der Lander- und Aufstiegskombination ins Johnson Space Center. Mit diesem Modell kann die NASA bereits heute schon simulieren, wie sie Ausrüstung, Crew, Nachschubmaterialien, Experimente und Bodenproben aus dem Lander heraus und wieder hineinbringen kann. Außerdem wird das Cockpit-Layout nach ergonomischen Aspekten erprobt, die Sichtverhältnisse für die Landecrew aus den Fenstern, Sicherheits- und Praktikabilitätsaspekte überprüft und vieles mehr. Es sind viele Dinge, die eine Computersimulation nicht leisten kann und für die man das „echte“ Ding braucht. Das Mock-Up ist 12 Meter hoch und gibt schon eine recht gute Vorstellung von der realen Größe dieser Einheit. Eine unbemannte Testmission soll 2023 im selben Landegebiet erfolgen, in dem im Jahr darauf die bemannte Landung vorgesehen ist.

 

Am 28. August stellte die japanische Raumfahrtbehörde JAXA und der Automobilhersteller Toyota das Design für den bemannten Lunar Rover der ARTEMIS-Astronauten vor. Es wird als „Lunar Cruiser“ bezeichnet werden, in Anspielung auf ein populäres Automodell von Toyota, der „Land Cruiser“ SUV. Im Gegensatz zu diesem wird sein lunares Gegenstück aber mit Brennstoffzellen betrieben werden. Der Vertrag zwischen JAXA und Toyota war bereits im Juni 2019 unterzeichnet worden. Der Lunar Cruiser ist eine der japanischen Beteiligungen am ARTEMIS-Programm. Er soll etwa ab 2028 eingesetzt werden, wenn die lunare Basis ihren ersten Betrieb aufnehmen wird. Toyota wird das Projekt nicht ganz alleine stemmen, vielmehr sind eine Reihe namhafter weiterer japanischer Unternehmen wie etwa Mitsubishi Heavy Industries mit dabei. In Anlehnung an das „National Team“ von Blue Origin bezeichnet Toyota dieses Konsortium als „Team Japan“.