Buch lesen: «Skyle», Seite 9

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• 24 •

Raven hatte es sich auf einem Stuhl im Besprechungszimmer des White Dragon bequem gemacht. Er lauschte dem hitzigen Gespräch zwischen Wolf und der Besitzerin des White Dragon, die auf dem Flur vor der geschlossenen Tür standen. Die Tintenmagiezauber am Türrahmen dämpften ihre Stimmen, aber dank seiner geschärften Sinne konnte Raven trotzdem jedes Wort verstehen. Offensichtlich war Kajin nicht begeistert davon, dass Wolf ihn mit in den Dragon gebracht hatte.

»Und so einem traust du?«, fragte sie gerade entgeistert. »Warum?«

»Ganz einfach: Weil er mein bester Freund ist«, war Wolfs Antwort.

An dieser Stelle blendete Raven ihre Stimmen aus und konzentrierte sich auf die drei Handwerker, die mit am runden Tisch saßen. Raven kannte Wolfs Freunde mit Namen, hatte sie aber noch nie getroffen.

Rensa saß mit überkreuzten Beinen auf ihrem Stuhl. Sie trug die traditionelle Toga der Antinanco über dem gefiederten Oberkörper, die so geschlungen war, dass ihre Schwingen die größtmögliche Bewegungsfreiheit hatten. Ihr gelber Schnabel schimmerte gefährlich und in ihren Augen blitzte der Schalk.

Coram hatte sich ihr gegenüber an den runden Tisch gesetzt und trank schweigend seinen Tee. Er war ein Hüne von einem Mann mit einem Kreuz wie ein Nurek und blondem, kurz geschorenem Haar. Seine breite Gestalt ragte wie ein Ungetüm auf, drohend und düster. Auch seine helle Kleidung konnte nichts daran ändern, dass er die Ausstrahlung eines Schwerverbrechers hatte.

Raven fiel auf, dass sein finsteres Auftreten nur Fassade war. In Wirklichkeit war Coram ein interessierter Mensch. Vielleicht machte ihn genau dieser Umstand gefährlich. Raven schüttelte unwillig den Kopf. Kaum traf er neue Leute, sah er gleich wieder überall Gegner. Chronische Paranoia gehörte zum Headhunter-Dasein.

Kel hatte sich den Platz gesucht, der am nächsten am Feuer war. Raven konnte das gut verstehen. Schließlich kamen die Rjtak von den südlichen Sommerinseln, wo es sogar im Winter wärmer war als in Autonne Gale im Hochsommer. Der Echsenkrieger mit der blauen Schuppenhaut riss gähnend die Schnauze auf, sodass seine zwei Zahnreihen aufblitzten. Die dunklen Zeichnungen auf seinem Reptilienkörper waren im Feuerschein kaum von seinen Stammestätowierungen zu unterscheiden.

Alle drei hatten wie Raven Kaffeetassen vor sich stehen und bedienten sich an der Kuchenplatte in der Mitte des Tisches. Kel und Rensa gingen in einer hitzigen Diskussion auf, die Coram aufmerksam verfolgte.

»Einer der gefährlichsten und tödlichsten Headhunter von ganz Skyle, hm?«, begrüßte Raven Wolf leise, als er zurückkehrte. »Danke für das Kompliment.«

»Es stimmt doch, oder?«

Raven erlaubte sich ein überhebliches Lächeln. »Vermutlich.«

»Ich habe Lynx vor dir gewarnt«, sagte Wolf gedämpft und setzte sich neben Raven.

»Ich habe es gehört.«

»Ich bitte dich, Raven: Lass sie in Ruhe«, mahnte Wolf.

»Du hast es doch selbst gesagt, oder? Ich bin niemand, der schnell lockerlässt.«

Wolf runzelte verärgert die Stirn, doch Rensa mischte sich ein, ehe er eine Antwort geben konnte. »Wolf! Verrat uns endlich, warum wir hier sind!«, dröhnte sie. »Ich kann mir schönere Orte vorstellen als Autonne Gale mitten im Winter.«

»Allerdings!«, rief Kel und nieste. »Du weißt, wie sehr ich Schnee hasse. Bei diesen Temperaturen stehe ich kurz vor der Kältestarre!«

»Das, mein lieber Freund, werden wir hoffentlich zu vermeiden wissen«, stellte Wolf fest. »Ich habe einen Auftrag, der uns ziemlich ins Schwitzen bringen könnte.«

»Nun rück schon mit den Details raus!«, beschwerte sich Rensa und raschelte ungeduldig mit den Federn.

Wolf zog eine lange lederne Kartenrolle hinter seinem Stuhl hervor. Er öffnete sie und legte einen Stapel Zeichnungen auf den Tisch. »Ich will ein Schiff mit euch bauen, nach diesen Plänen.«

»Ein Schiff also.« Rensa verengte die Augen, als sie die Linien und Anweisungen genauer betrachtete. »Nein, nicht irgendein Schiff«, verbesserte sie sich. »Ein Schiff, das Wolf konstruiert hat. Die Zeichnungen sind doch von dir, oder?«

»Ja«, bestätigte Wolf.

Kel schnappte sich eines der Papiere. »Ich hätte es wissen müssen.«

Coram nickte stumm.

Rensa blickte in die Runde. »Das letzte Schiff, das wir zusammen gebaut haben, war die Wonder vor fast zehn Jahren, oder?«

»Die Wonder? Das legendäre Piratenschiff der Storm Riders unter dem Kommando von Roxanne LeClaire?« Raven erinnerte sich an die beeindruckende Frau.

»Du kennst die Kapitänin?«, fragte Rensa überrascht.

»Kennen wäre zu viel. Es war eher eine … flüchtige Bekanntschaft.«

»Raven hier liebt flüchtige Bekanntschaften«, bemerkte Wolf.

»Die Pläne sind nicht fertig«, stellte Coram fest.

Wolf schüttelte den Kopf. »Was ihr hier seht«, fing er an, doch Kel unterbrach ihn.

»Ich glaube, wir alle wissen, was wir hier sehen«, sagte er und wechselte einen Blick mit Rensa und Coram. »Das sind die Pläne, an denen du seit Jahrzehnten arbeitest. Du hast mit der Planung angefangen, als ich noch bei dir in der Lehre war. Diese Konstruktionspläne beinhalten alles, was die Schiffsbaukunst in Skyle jemals hervorgebracht hat. Das hier sind die Zeichnungen eines Genies!«

»Aber sie sind unvollständig«, stellte Rensa scharf fest.

»Ich weiß«, beschwichtigte Wolf. »Aber die Pläne sind so weit fertig, dass wir mit dem Bau beginnen können.«

Kel verschränkte die Arme vor der Brust. »Du weißt doch, Wolf: kein Schiff ohne vollständige Konstruktionspläne.«

»Er hat recht«, murmelte Rensa. »Das können wir unmöglich umsetzen. Wolf, das ist Wahnsinn.«

»Noch nicht«, bemerkte Raven. Genie und Wahnsinn lagen bei Wolf so eng beieinander, dass es oft schwerfiel, sie auseinanderzuhalten. Wie Raven seinen Freund kannte, war in diesen Plänen eine gehörige Portion von beidem.

»Das hast du damals bei der Wonder auch gesagt, Rensa. Wir haben sie trotzdem gebaut.«

Alle wandten sich Coram zu. Offenbar sagte er nur, was ihm wirklich wichtig schien. Raven gefiel der Mann immer besser.

Coram tippte auf die Zeichnung. »Ich glaube, ich weiß, was an dieser Stelle fehlt.«

»Ich dachte mir schon, dass ihr noch einige Ideen zur Verbesserung der Pläne habt«, sagte Wolf. »Deshalb wollte ich sie vorher mit euch durchsprechen.«

Die Tür öffnete sich und die Besitzerin des White Dragon trat ein. Raven erinnerte sich daran, dass Wolf die Drachin Lynx genannt hatte. Er versuchte, unauffällig ihren Geruch zu erhaschen. Er war ebenso betörend wie ihr Körper. Wenn er darüber nachdachte, hatte er ihn schon bei seinen vorangegangenen Besuchen im Dragon in der Nase gehabt. Das Gebäude und die Umgebung waren getränkt davon. Sie musste schon eine ganze Weile hier leben.

Lynx setzte sich zu Rensa. »Sakura bringt gleich das Essen.«

»Gut«, sagte Rensa. »Ich habe Hunger. Und ich glaube, das wird eine lange Nacht.«

Kel lachte. »Wann hast du keinen Hunger?«

****

Der Morgen dämmerte bereits, als sie den White Dragon endlich verließen. Es hatte aufgehört zu schneien und der Himmel war erstaunlicherweise klar. Bald würden sich die Zwillingssonnen über den Horizont schieben und dem Herbstreich einen weiteren kurzen Wintertag bescheren.

Raven schüttelte entgeistert den Kopf, als er sah, dass es schon wieder hell wurde, und hielt nur kurz an, um sich eine Zigarette anzuzünden. Dann folgte er Wolf durch die vereisten Straßen.

»Ich kann nicht glauben, dass wir die ganze Nacht über die blöden Pläne für ein Schiff diskutiert haben!« Ursprünglich hatte er nur ein kostenloses Abendessen abgreifen wollen, aber die anderen hatten ihn so sehr in ihre Diskussion einbezogen, dass er geblieben war.

»Aber es hat sich gelohnt«, gab Wolf zurück. »Wenn ich heute die Änderungen an den Plänen vornehme und sie noch einmal zeichne, dann können wir sie morgen endgültig an die Werft geben und mit dem Bau beginnen.«

Raven blies nachdenklich den Zigarettenrauch aus. Eine blaue Nebelschwade blieb in der eisigen Luft hängen. »Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?«

»Absolut. Die Zeit ist reif«, erklärte Wolf im Brustton der Überzeugung. »Du willst ganz bestimmt nicht noch einmal über mein Angebot nachdenken?«

»Habe ich schon.« Raven hatte keine Ambitionen, auf der Werft festzuhängen. »Ich kann mir schönere Städte als Autonne Gale im Winter vorstellen.« Abgesehen davon, dass Wolf und seine Handwerkerfreunde viel mehr Ahnung von dem hatten, was sie taten, als er.

»Wenn ich wüsste, dass ich dich vielleicht überreden kann, würde ich sagen, dass wir jemanden wie dich gebrauchen können«, sagte Wolf, als hätte er Ravens Gedanken gelesen. »Aber ich kenne dich zu gut.«

»Das stimmt wohl.« Raven fuhr sich geistesabwesend mit der Hand durchs Haar. »Nein, ich werde mich von dir auszahlen lassen, dann meine Quote für Kingston erfüllen, und hinterher suche ich mir irgendeine nette Hafenstadt im Sommerreich, um den Rest des Winters dort zu verbringen. Ohne Aufträge.«

»Wenn du eh im Süden unterwegs bist, kannst du doch bestimmt noch ein paar Erledigungen für mich machen, oder?« Wolf versuchte gar nicht erst, unschuldig zu klingen.

»Würde das bedeuten, dass ich vor Ende des Winters noch einmal nach Autonne Gale kommen muss?«

»Vermutlich, ja.«

Raven gefiel der Gedanke nicht. Andererseits waren Aufträge für Wolf leicht verdientes Geld. »Na gut. Ich erledige deinen Kram. Aber ich will dafür bezahlt werden.«

»Das dachte ich mir schon fast.« Wolf schaute zu einer Turmuhr hoch, an der sie vorbeikamen. »Noch fast eine Stunde, bevor die Bank öffnet«, stellte er fest. »Dann besorgen wir uns erst mal ein Frühstück.«

»Sag mal, Wolf, wo läufst du eigentlich hin?«, fragte Raven und spähte in ein leerstehendes Lagerhaus hinein.

Wolf blinzelte ihn an und Raven seufzte. »Lass mich einfach vorgehen, okay?«

»Okay, wenn du meinst …«

Raven zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, dann warf er sie auf die Straße und trat sie aus. »Meine ich.«

• 25 •

Vorsichtig setzte Fly einen Fuß auf den umgestürzten Baumstamm, testete, ob er stabil genug war, und sprang hinauf. Leiv, der ihr folgte, beobachtete sie. Fly balancierte mühelos über den vereisten Stamm, der zwischen zwei Bäumen verkeilt lag. Ihr Atem hinterließ weiße Wolken in der kalten Winterluft.

Irgendwo in der Ferne hörte Fly den Rest ihrer Gruppe, von der sie sich mit Leiv rasch abgesetzt hatte. Die jungen Männer des Hofes waren sofort Feuer und Flamme gewesen, als einige Hofdamen der Königin einen Winterspaziergang angeregt hatten. Fly wäre um keinen Preis der Welt mitgekommen, wenn Juuba nicht mit einer kleinen Kopfbewegung auf Leiv gedeutet hätte. Flys Widerstand war dahingeschmolzen, als Leiv unter seinen braunen zerzausten Haaren ihren Blick gesucht und gefunden hatte. Wenn er dieses Spiel spielen wollte, würde sie gern mitmachen.

Leiv interessierte sie. Sie waren vor ein paar Tagen zu einer Feier in seinem Stadthaus eingeladen gewesen. Zu Flys Erstaunen hatte sie bis dahin nicht einmal den Namen des jungen Mannes gekannt, und nun brachte er sie bereits mit einem einzigen Blick dazu, den Palast und die Frühlingskönigin allein zu lassen. Fly sprang vom Baumstamm. Dieser Mann war ebenso faszinierend wie geheimnisvoll. Gerade deswegen reizte er sie.

Es hatte in den vergangenen Tagen noch einmal kräftig geschneit, sodass das Land rings um Primavera Melody und der Palast von Jazli unter einer dicken Schneedecke verborgen war. Fly mochte den Winter. Die Jahreszeit vereinte häusliche Gemütlichkeit und kühle Distanz in sich. Wenn es schneite, war das ganze Land wie verwandelt, fast so, als würde man durch eine neue Welt wandern.

Ein zerbrechliches Geflecht aus Eis verband die Ufer eines kleinen Baches miteinander, darunter floss klares Wasser. Fly kniete sich hin und hielt die Finger hinein, um die eisige Kälte des Wassers auf der Haut zu spüren. Leiv hockte sich neben sie und gemeinsam beobachteten sie schweigend, wie das Wasser in Wirbeln und Wellen durch den verschneiten Wald plätscherte. Schließlich erhob er sich und reichte ihr eine Hand. Fly ergriff sie. Ihre Finger blieben in seinen liegen, als sie ihren Weg fortsetzten. Schnell wandte sie den Kopf ab, damit Leiv ihren triumphierenden Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Jetzt hatte sie ihn.

****

Juuba lag bäuchlings auf dem Bett, aß Gebäck und sah Fly dabei zu, wie sie ihren Kleiderschrank durchwühlte.

»Und?«, fragte sie zwischen zwei Bissen. »Wie ist er so?«

Fly zog ein gerüschtes Kleid aus einem Kleidungshaufen, begutachtete es und warf es wieder beiseite.

»Nett«, antwortete sie knapp und konzentrierte sich auf ihre Suche nach einem geeigneten Outfit.

»›Nett‹«, äffte Juuba Flys Stimme nach und schnaubte. »So einfach kommst du mir nicht davon. Erzähl, erzähl!«

Fly seufzte und ließ sich neben sie aufs Bett fallen. »Er ist …« Nachdenklich kaute sie auf ihrem Unterlippenpiercing. »Süß. Zuvorkommend, aufgeweckt …«

»… gut aussehend«, ergänzte ihre Freundin und angelte nach einem Marmeladenkeks. »Und sonst so?«

»Sonst?«, fragte Fly unschuldig.

»Komm schon! Als ihr gestern vom Spaziergang wiederkamt, warst du genauso rot im Gesicht wie er. Du kannst mir nicht erzählen, dass das gestern Mittag schon das Ende der Geschichte war!«

»Du kennst mich viel zu gut.«

Juuba winkte ab. »Du kennst mich immer noch besser als ich dich. Also?«

»Er hat Erfahrung«, sagte Fly, nachdem sie die Bilder der vergangenen Nacht zurückgedrängt hatte »Aber er ist gefährlich«, fügte sie hinzu.

»Also ist er genau dein Typ«, stellte Juuba zufrieden fest und schob sich eine Nussmakrone in den Mund.

Statt zu antworten sah Fly auf die Kleiderberge auf ihrem Fußboden. »Oh Mann. So viele Klamotten und trotzdem nichts zum Anziehen.«

»Steht ein Winterbankett an?«

Fly nickte. »Bist du nicht eingeladen?«

»Dieses Mal nicht.«

»Normalerweise würde ich dich ja als Begleitperson mitnehmen, aber in diesem Fall …«

»Ich mache mir nichts draus, keine Sorge. Du darfst Leiv gerne mitnehmen.« Juubas Augen blitzten belustigt.

»Du lachst mich aus, kann das sein?«

»Ach was! Das bildest du dir ein.«

Fly warf eine Hose nach ihr. »Du solltest dir mal lieber selbst einen Freund suchen!«

»Vielleicht«, sagte Juuba unbestimmt. »Und du solltest zusehen, dass du deine nicht so schnell verschleißt!«

»Sie werden so schnell langweilig.« Ein verstohlenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Zwischen zwei Kleidern entdeckte sie einen kurzen schwarzen Rock. »Ich weiß jetzt, was ich tragen werde!«

Juuba betrachtete den Rock abschätzig. »Den da? Der ist doch total aus der letzten Saison.«

»Es kommt auf die richtige Kombination an, meine Liebe.«

»Ich weiß«, gab Juuba zurück und betrachtete skeptisch Flys Kleiderberge. »Und ich finde trotzdem, dass es wieder Zeit wird, dass wir beide Klamotten kaufen gehen.«

»Definitiv.«

Juuba erhob sich vom Bett. »Ich fürchte allerdings, für heute müssen wir mit dem arbeiten, was da ist. Ich denke, ich weiß, was du zu dem Rock tragen solltest.«

Fly ließ sie gewähren, lauschte ihrem endlosen Geplapper, lachte mit ihr und ließ ihre ganze fröhliche Persönlichkeit auf sich wirken. Sie spürte ein angenehmes Prickeln, wenn sie an den bevorstehenden Abend dachte. Ihre Freundin hatte recht: Leiv war genau ihr Typ.

• 26 •

Im White Dragon war es brechend voll. Einen Moment hielt Lynx inne und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Sie zog ihr Haarband fester, bevor sie sich wieder ihren Gästen zuwandte. Sie war nur froh, dass Kel, Coram und Rensa gerade nicht hier waren. Seit sie vor ein paar Tagen gemeinsam über den Plänen gebrütet hatten, hielten die drei sie ganz schön auf Trab.

Sie schüttelte belustigt den Kopf, als sie an die schräge Truppe dachte, die Wolf angeschleppt hatte. Sie passten zu dem Drachen mit den stahlgrauen Augen. Und dieses Schiff, das sie planten … Lynx war wirklich gespannt. Sie stellte immer wieder fest, dass es mit ihren knapp sechshundert Jahren noch so viele Dinge gab, die sie nicht wusste. Was den Schiffbau betraf, würde sich das bald ändern, das hatte sie sich fest vorgenommen. Irgendwann würde sie Wolf und seine Truppe auf der Werft besuchen, und dann würden sie ihr alles haarklein erzählen müssen. Aber nicht heute.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so viele Gäste haben würden. Mitsu hatte ihren freien Tag, den sie wie so oft in letzter Zeit mit Ferry verbrachte. Deshalb war Lynx umso dankbarer, dass Hakaze ihr an der Bar half und Sakura die Mädchen beim Kellnern beaufsichtigte.

Die Eingangstür öffnete sich und ein junger Mann trat ein. Er trug eine dunkelblaue Schiebermütze, über deren Schirm eine Fliegerbrille saß. Er klopfte sich den Schnee von der Kleidung und winkte Lynx kurz zu, ehe er sich an den Tischen vorbeischlängelte. Zielstrebig hielt er auf das verborgene Paneel unter der Treppe zu und verschwand dahinter. Hakaze, die gerade hinter Lynx herlief, erstarrte bei seinem Anblick.

»Kajin!«, sagte sie eindringlich mit ihrer heiseren Stimme.

»Ich habe ihn schon gesehen«, gab Lynx leise zurück. Laut rief sie: »Sakura! Kannst du mich für eine Weile hier vertreten? Ich muss mich um eine Lieferung kümmern!«

Sakura servierte einem Moosvolk-Paar ihre Suppe und richtete sich auf. »Komme sofort!« Sie nahm Lynx' Platz hinter der Bar ein. »Léo ist da«, murmelte sie.

»Ich weiß. Ich komme gleich wieder.«

Damit legte Lynx ihre Schürze ab und trat hinter der Theke hervor. Sie kannte Léo, er war immer hungrig, deswegen holte sie Kaffee und ein paar belegte Brote aus der Küche. Dann schrieb sie mit dem Finger einige Runen in die Luft und hüllte sich in einen kurzlebigen Illusionszauber. So geschützt, lief sie durch den Schankraum und verschwand einige Augenblicke später unter der Treppe.

Léo hatte es sich wie üblich in dem langgestreckten Raum am Ende des Flures bequem gemacht. Er saß neben dem Kamin, die Beine ausgestreckt. Der hellgraue Schal und seine dunkelblaue Jacke, beide Teil seiner Blauschwalbenuniform, hatte er neben das Feuer gehängt, um sie zu trocknen. Sein Gesicht verriet tiefe Erschöpfung, doch es hellte sich auf, als Lynx den Raum betrat. Sie umarmten sich zur Begrüßung.

»Schön, dich zu sehen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits, Kajin.« Léo goss sich eine Tasse Kaffee ein und nahm einen Schluck.

Lynx lächelte beim verzückten Ausdruck auf Léos Gesicht. »Es geht nichts über heißen, frisch gebrühten Kaffee«, murmelte Léo. Unwillkürlich dachte Lynx an Wolf. Er hätte vermutlich dasselbe gesagt.

Léo sah sie verwirrt an. »Was ist?«

Lynx winkte ab. »Nicht so wichtig, vergiss es.«

Léo verkniff sich seinen Kommentar, der vermutlich gewohnt spitzzüngig ausgefallen wäre. Stattdessen stellte er seine Tasse ab und kramte in seiner geräumigen Umhängetasche. Er zog einen Packen zusammengerollter Blätter hervor und reichte ihn Lynx.

»Das ist für dich.«

»Neue Fahndungsplakate?« Lynx nestelte an dem Band, das die Blätter zusammenhielt.

Léo nahm sich ein belegtes Brot. »Dieses Mal sind einige interessante dabei. Es könnte sein, dass du demnächst ungewöhnlichen Besuch bekommst.«

Lynx dachte an Kel, Coram, Rensa, Wolf und Raven und schüttelte den Kopf. »Viel ungewöhnlicher kann er jetzt auch nicht mehr werden«, stellte sie fest.

Léo grinste und biss beherzt in sein Brot. Einige Minuten herrschte Stille. Léo aß hungrig und Lynx ging währenddessen die frisch gedruckten Steckbriefe durch. Irgendwann stutzte sie.

»Diese Steckbriefe meine ich«, nuschelte Léo.

Eingehend betrachtete Lynx die Silberstaubbilder auf dem Pergament. Langsam blätterte sie weiter. »Heron, Marmoset, Armadillo … Das sind Drachen.«

»Es kommt noch dicker.«

Lynx blätterte weiter. Sie erstarrte. »Das ist Andor! Das ist der Prinz des Winterreiches! Ist die Frühlingskönigin jetzt vollkommen übergeschnappt?«

Léo schüttelte traurig den Kopf. »Nein, sie meint es leider vollkommen ernst. Ich habe den Auftrag, diese Steckbriefe auf den gesamten Herbstinseln zu verteilen.«

»Léo, das kannst du nicht machen! An wie vielen Stellen hast du diese Briefe schon ausgehängt?«

»Kajin, du weißt, dass ich die Steckbriefe des Prinzen nicht einfach rausnehmen kann. Die Trucca kommen, um zu kontrollieren, überall! Die Stürme wissen, warum sie es bei dir nicht tun, aber sonst kontrollieren sie an jeder götterverfluchten Stelle, an der Steckbriefe ausgehängt werden.« Er fuhr sich mit der Hand durch die strohblonden Locken. »Ich verliere meinen Job, wenn die merken, dass ich willkürlich die Fahndungsplakate entfernt habe.«

Plötzlich hatte Lynx ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, wie viel Léo die Arbeit als Blauschwalbe bedeutete. Er hatte hart dafür gekämpft, in die Riege der fliegenden Boten aufgenommen zu werden.

Léo hob entschuldigend die Hände. »Außerdem ist es jetzt eh zu spät. Außer dem Dragon hier in Autonne Gale habe ich nur noch zwei weitere Städte, dann bin ich mit meiner Tour durch.«

Lynx starrte auf den Steckbrief des Prinzen. Eine halbe Millionen Cœurs für einen Menschen. Als Einstiegskopfgeld. Wohin sollte das führen? »Es ist schlimmer, als ich dachte«, murmelte sie.

Léo lehnte sich zurück, die Kaffeetasse in der Hand, und blickte ins Feuer. »Oh ja«, sagte er leise, »das ist es. Es ist schlimmer, als wir alle dachten.«

»Du hast mir noch nicht alles erzählt, oder?«

Léo schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht nur wegen der Steckbriefe hier.« Er holte tief Luft. »Man erzählt sich, die Frühlingskönigin wolle ihre Truppen aussenden. Angeblich plant sie eine Offensive gegen die Rjtak.«

»Jetzt? Im Winter? Sie sollte warten, bis die Sturmpause vorbei ist, sonst verliert sie die eine Hälfte ihrer Leute auf dem Weg ins Sommerreich und die andere Hälfte in der Wüste.«

»Alle gehen davon aus, dass sie tatsächlich warten wird, bis die Stürme vorbei sind, wenn es überhaupt dazu kommt. Noch hat sie ihren Zug nicht gemacht. Aber ich habe das Marinehauptquartier gesehen, als ich die Steckbriefe abgeholt habe. Sie mobilisiert, Kajin. Es kommt etwas in Bewegung.«

Lynx wurde unruhig. Der letzte große Krieg in Skyle war viele Jahrzehnte her, auch wenn der Frieden immer brüchig gewesen war. Sie machte sich keine Illusionen: Wenn die Frühlingskönigin mobilisierte, würde es Krieg geben.

Léo fuhr fort: »Und sie verdoppelt die Anzahl der Soldaten hier im Herbstreich. Bis zum Jahreswechsel sollen in Autonne Gale alle Soldaten durch Trucca ersetzt werden.«

Lynx schauderte, als sie an die Maskenwesen dachte. »Die Alchemisten der Königin müssen fleißig gewesen sein«, murmelte sie.

»Nicht nur sie. Die Rebellen im Winterreich sehen sich ständigen Angriffen durch ihre Flotte ausgesetzt, selbst jetzt im Winter.« Léo schüttelte den Kopf. »Sie ist vollkommen übergeschnappt, Schwester. Sie verliert ständig Schiffe in den Sturmwinden vor den Klippen der Winterinseln. Und die Schiffe, die es durch die Fallwinde und die Schneestürme schaffen, werden von den Winterrebellen abgeschossen. Man sagt, dass ein Großteil der Truppen des Winterkönigs Andor gefolgt sind und sich den Rebellen angeschlossen haben.« Er deutete mit dem Kinn auf den Steckbrief des Winterprinzen. »Deshalb hat sie auch ein Kopfgeld auf ihn aussetzen lassen.«

Lynx betrachtete sorgenvoll den Steckbrief. »Er ist noch nicht einmal vorbestraft, und dann schon so ein hohes Kopfgeld. Eine halbe Million Cœurs …« Auf ihren eigenen Großneffen! Was dachte sie sich dabei?

»Die Frühlingskönigin will ihn unbedingt lebend. Er wäre ein immenses Druckmittel gegen Winterkönig Halvor.«

»Aber sein Vater hat doch mit Andors Beweggründen gar nichts zu tun! Der Prinz ist achtzehn!« Lynx konnte sich nicht vorstellen, wie sich der Junge fühlen musste. Er war so jung und wurde schon als Verbrecher gejagt. Hoffentlich hatte er Leute, denen er vertrauen konnte.

»Wahrscheinlich hofft die Königin, dass der Winterkönig endlich dem politischen Druck bei den Verhandlungen nachgibt und den Handelsbedingungen zustimmt, die sie an ihn stellt«, mutmaßte Léo.

»Das würde König Halvor niemals tun«, sagte Lynx überzeugt. »Die Erze und Metalle sind die einzigen handelsfähigen Güter im Winterreich. Das Wohl seines Volkes hängt davon ab. Er wird sein Monopol nicht an die Königin abtreten.«

Léo aß den letzten Bissen Brot. »Wenn das Leben seines Sohnes auf dem Spiel steht, vielleicht schon.«

Lynx dachte an ihre Begegnung mit dem früheren Winterkönig, die inzwischen Jahrzehnte zurücklag. »Wenn er auch nur etwas von seinem Vater hat, dann wird der jetzige Winterkönig nicht klein beigeben.«

Léos Augenbrauen wanderten in die Höhe. »Kanntest du den Altkönig, Kajin?«, fragte er listig.

Lynx lachte. »Sei nicht albern! Sehe ich so alt aus?«

Léo schenkte sich Kaffee nach. »Nein. Aber ich weiß, dass du genauso wie ich zumindest zum Teil Drache bist. Du bist auch ein Salamander. Wer weiß, vielleicht ist ja in dir mehr als nur ein Viertel Drachenblut und du lebst schon länger, als du zugibst.«

»Du fantasierst dir schon wieder Dinge zusammen, Léo«, sagte Lynx mit leichtem Tadel in der Stimme.

Léo trank einen Schluck Kaffee. »Könnte sein, könnte aber auch nicht sein.« Er umfasste mit beiden Händen seine Tasse. »Fest steht nur, dass gefährliche Zeiten auf uns zukommen.«

Bilder aus ihrer Zeit als Jungdrachin schossen Lynx durch den Kopf. »Die Zeiten sind immer gefährlich, auf die eine oder andere Weise.«

»Das meinte ich nicht.«

»Was dann?«

Léo sah Lynx ernst an. »Was ich dir jetzt sage, musst du unbedingt vertraulich behandeln. Sie hat die Exorzisten ausgesandt, Schwester.«

Lynx wurde blass. »Die Exorzisten …« Lynx versuchte, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal von ihnen gehört hatte. »Ihr Orden ist vor mehr als hundertfünfzig Jahren verboten worden!«

»Ich weiß. Aber es gab immer Gerüchte, dass er trotzdem weiter existiert. Ich habe das immer für das wirre Gerede alter Leute gehalten.« Er drehte geistesabwesend die leere Kaffeetasse in der Hand. »Scheinbar lagen sie richtig.«

Lynx starrte ins Feuer. Ein Holzscheit fiel knackend in sich zusammen und sandte einen Funkenschauer den Kamin hinauf. Die Exorzisten. Die Frühlingskönigin hatte die Drachentöter losgeschickt. Krampfhaft versuchte sie, nicht an die Zeit zurückzudenken, als die Exorzisten auf der Höhe ihrer Macht gewesen waren. Die Lage war ernster, als sie sich ausgemalt hatte. »Wir müssen auf der Hut sein.«

Léo erhob sich. »Ich weiß.« Als er seine Sachen zusammensammelte, fielen zwei Blätter aus seiner Jackentasche. Er stutzte und reichte sie Lynx. »Das hätte ich fast vergessen. Diese Steckbriefe sind heute als Nachzügler per Fischexpress gekommen. Sieh zu, dass du sie aufhängst.«

Lynx legte sie zu den anderen. »Mache ich.«

Léo schlang sich den Schal um und setzte seine geliebte blaue Schiebermütze mit dem weißen Schwalbenemblem auf.

»Und du willst heute Nacht nicht hierbleiben?«

»Nächstes Mal vielleicht. Ich muss heute noch ein bisschen Strecke machen.«

Lynx musterte den jungen Mann von oben bis unten, wie er müde und abgekämpft, aber stolz in seiner Blauschwalben-Uniform dastand.

»Du bist erwachsen geworden«, stellte sie fest und stand auf.

»Du nicht, Schwester«, gab er vorlaut zurück. »Du bist immer noch die Alte.« Er legte den Kopf schief. »Ich habe das Gefühl, du bist schon immer erwachsen gewesen.«

»Vielleicht ist das auch so«, gab Lynx zurück und zwinkerte ihm zu.

Léo lachte leise. »Doch, du bist wirklich immer noch die Alte. Geheimnisvoll wie immer.« Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf.«

Lynx' Lächeln vertiefte sich. »Du auch, Léo.«

»Werde ich, keine Sorge.« Er zog den Gurt seiner Umhängetasche fester. »Orquidea wartet, er ist bestimmt schon ganz unruhig.« Er tippte sich an den Schirm seiner Mütze. »Es war mir eine Ehre.«

»Besuch mich mal wieder.«

»Bis bald, Schwester.« Damit verschwand er in dem schmalen Flur. Lynx blickte ihm eine Weile nach. Das Kopfgeld des Winterprinzen, die Trucca in Gale, die Exorzisten – diesmal hatte Léo ihr viele schlechte Neuigkeiten gebracht. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie an die Drachentöter dachte, und sie schaute sich gehetzt im Raum um. Sie war sicher. Der Dragon war sicher. Sie atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ehe sie sich nach Tablett und Kaffeekanne bückte. Dabei fiel ihr Blick auf die beiden Nachzüglersteckbriefe, die Léo ihr dagelassen hatte.

Darauf waren zwei Männer mit groben Kohlestiftzeichnungen abgebildet, aber die Gesichtszüge waren unverkennbar. Es waren der Echsenkrieger Kel und Raven.

Lynx studierte die Bilder und die Beschreibungen der Gesuchten.

»Wolf«, murmelte sie, »jetzt hast du ein Problem.«

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