Buch lesen: «Skyle», Seite 7

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• 19 •

Lynx stand an der Brüstung einer der zahlreichen Brücken, die über den Fluss von Autonne Gale führten, und starrte versonnen hinab auf die wirbelnden schwarzen Wassermassen. Es war bitterkalt. Eisschollen trieben den Fluss hinunter, von der Steinbrüstung hingen kleine Eiszapfen. Sie hatte sich den Tag freigenommen, um ihre Gedanken zu sortieren und die Buchführung der letzten Wochen zu machen. Ab und an, so wie heute, hatte sie das Bedürfnis, raus an die frische Luft zu kommen, irgendwo anders zu sein. Die Spaziergänge halfen ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Meistens lief sie zum Ufer der Himmelsinsel, zu den Klippen beim Wasserfall, der hinter ihr mit ohrenbetäubendem Lärm über den Klippenrand hinausschoss. Heute allerdings war sie auf der Brücke hängengeblieben, gebannt vom stetig wechselnden Muster des dunklen Wassers.

Die Brücke war zu schmal für Nurek-Wagen oder andere schwere Gefährte, und so war es ein Fluss aus Leibern, der an Lynx vorbeifloss. Vor allen Dingen waren es Menschen und Moosvolk, vereinzelt auch Angehörige anderer Völker, schwer bepackt mit Bündeln oder Paketen. Einige zogen Handkarren hinter sich her, andere hielten Kinder an der Hand, sie bildeten einen stetigen Strom wie der Fluss, über den sie wanderten. Doch Lynx nahm die Leute kaum wahr, ihre Gedanken waren in den schwarzen Fluten und den grauen Wolken.

Dieser Winter forderte seinen Preis. Wie immer traf es die Ärmsten zuerst. Lynx war schon seit Monaten nicht mehr in den Slums unterhalb des Wasserfalls gewesen. Aber einige Mädchen hatten dort Familie und sie erzählten von der Verzweiflung, die in den Armenvierteln herrschte. Im oberen Teil der Stadt war die Situation nicht viel besser. Auf dem Markt gab es kaum noch Lebensmittel zu kaufen, die Kornspeicher der Stadt waren leer. Lynx bezweifelte, dass Kornlieferungen aus dem Frühlingsreich noch vor der Sturmpause am Winterende ankämen, selbst wenn die Handelsschiffe umgehend lossegelten. Keiner wusste, wie sie diesen Winter überstehen sollten.

Wäre es möglich, die Vorräte umzuverteilen? Sie hatte Amanda, die Besitzerin des Pfeifenden Ebers, vor einigen Tagen getroffen und mit ihr darüber diskutiert. Am Ende war ihre ernüchternde Erkenntnis gewesen, dass eine Umverteilung nur funktionierte, wenn man die reichen Fabrikinhaber und die Herbstadeligen in ihren Villen einbezog. Und erfahrungsgemäß hatten ebendiese kein Interesse am Wohlergehen der Ärmeren. Immer das gleiche Problem: Die Macht weniger baute auf dem Elend vieler auf.

Vielleicht konnte Lynx den Stadtrat überzeugen. Viele seiner Mitglieder kamen regelmäßig mit ihren Familien in den Dragon. Vermutlich konnte Lynx sie dazu bewegen, zumindest einen Vorstoß zu wagen, um die Hungersnot abzuwenden. Aber wollte sie das? Es würde Aufmerksamkeit auf sie lenken und das war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Die Gefahr, dass sie als Drachin enttarnt wurde, war zu groß. Wenn sie so starken Einfluss auf den Stadtrat nahm, setzte sie alles aufs Spiel, was sie sich hier in Gale aufgebaut hatte. Dieses Risiko würde sie nicht eingehen.

Sie bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihr stand. Für einen Augenblick fragte sie sich, wie lange er wohl schon dort gestanden hatte. Dann überwog die Freude über das unverhoffte Wiedersehen.

»Varg! Was machst du denn hier?«

»Ich war auf der Suche nach dir.«

Lynx sah ihn überrascht an. »Nach mir? Warum das?«

»Ich habe dir etwas mitgebracht, darum.« Aus dem Nichts zauberte er einen üppigen Strauß Blauastern hervor und reichte ihn ihr. »Schöne Blumen für eine schöne Frau.«

»Vielen Dank! Sie sind wirklich schön. Wo hast du sie her?«

»Ich habe sie gepflückt.«

»Wer hat sie gebunden?«

»Ich, wer sonst?«

Lynx hatte bereits vor Wochen aufgehört, sich über Varg zu wundern. »Ich wusste gar nicht, dass es noch Astern gibt.«

»Ich habe sie auf den Frühlingsinseln gepflückt«, erwiderte er.

»Was hast du da getrieben?«

»Ich habe etwas gesucht. Aber das ist eine lange Geschichte.«

»Ich würde sie gerne hören.«

»Gern. Sie ist ohnehin einer der Gründe, weshalb ich dich gesucht habe, zusammen mit einer Bitte. Hast du Zeit?«

»Ja«, antwortete sie. »Ich habe mir bis heute freigenommen. Aber was hältst du erst einmal von Mittagessen?«

Varg machte keinen Hehl aus seinem Magenknurren. »Viel. Meine Geschichte ist allerdings nicht für fremde Ohren bestimmt.«

»Wir können im White Dragon reden.«

»Aber hast du nicht frei?«

»Ich bin nicht die Einzige, die kochen kann. Die Mädchen sind alle ziemlich gut.«

»Wenn sie bei dir in die Lehre gehen, müssen sie das sein.«

Gemeinsam kehrten sie zum White Dragon zurück. Auf dem Weg erzählte Varg von seiner Arbeit auf der Werft und von dem neuen Projekt, das er in den kommenden Tagen beginnen würde, und Lynx berichtete vom White Dragon und ihrem Leben mit den Mädchen. Varg brachte sie mit witzigen Kommentaren und intelligenten Bemerkungen zum Lachen. Sie merkte, dass sie ihn in den letzten Wochen vermisst hatte.

Als sie den Dragon erreichten, hielt er ihr die Tür auf. Sie bedankte sich mit einer kleinen Verbeugung. Kaum war die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss gefallen, steckte Sakura den Kopf durch die Schwingtür zur Küche.

»Oh, Kajin! Willkommen zurück! Hey, Varg! Lange nicht gesehen!«

»Hallo, Sakura«, begrüßte Varg sie freundlich.

Mitsu erschien neben Sakura und bedachte Varg mit einem prüfenden Blick. »Mittagessen, nehme ich an?«

Lynx nickte. »Ja, bitte.«

»Ist in einer halben Stunde fertig, ich bringe es euch hoch.« Damit verschwand sie wieder in der Küche. Lynx und Varg folgten ihr. Varg blickte sich neugierig um.

»Das ist also das Herz des Dragon«, stellte er fest. Gerade, als Lynx die Tür zum privaten Teil des Dragons öffnete, stand Hakaze plötzlich neben ihr und hielt ihr eine Vase hin.

»Für die Blumen«, sagte sie ausdruckslos, den Blick gesenkt. Wenn Hakaze den Mund öffnete, um zu sprechen, musste Lynx immer wieder ein Schaudern unterdrücken. Die Fähigkeit, sich ihr fast unbemerkt zu nähern, beeindruckte Lynx noch immer.

»Du musst Hakaze sein«, sagte Varg und lächelte das schmale, unscheinbare Mädchen an.

Hakaze zuckte zusammen.

»Keine Angst, ich tu dir nichts.«

Hakazes Mundwinkel wanderten ein wenig nach oben, ehe sie im geschäftigen Küchentreiben verschwand.

Varg lachte und bedeutete Lynx mit einer kleinen Verbeugung, voranzugehen. Schweigend führte sie ihn zwei Stockwerke hinauf in ihre Räume, die gleichzeitig die ungestörtesten Zimmer im Dragon waren. Als sie eintrat, leuchteten die Tintenmagieformeln über den Fensterrahmen und rings um die Tür kurz auf. Sie erkannten ihre Meisterin.

Im Kamin knisterte bereits ein Feuer. Hakaze hatte die beiden Diwane und den niedrigen Tisch davorgeschoben und sogar die Gaslampen an den Wänden entzündet. Wie immer hatte Hakaze bereits vor Lynx gewusst, was sie brauchte. Vielleicht war das Mädchen doch mehr Wisperweib als Mensch.

»Willkommen.« Sie wies auf die Diwane. »Bitte, nimm Platz.«

»Danke.« Varg legte seinen Mantel unzeremoniell über die Armlehne und setzte sich.

Bevor Lynx sich zu ihm gesellen konnte, klopfte es an der Tür. Sakura stand davor und reichte ihr ein Tablett mit zwei Kannen und einem Teller Gebäck.

»So.« Lynx stellte das Tablett auf den niedrigen Tisch vor dem Kamin. »Was für eine Geschichte wolltest du mir erzählen?«

»Wie gesagt, sie ist mit einer Bitte verbunden. Willst du sie trotzdem hören?«

»Natürlich.«

Varg beugte sich vor, um sich eine Tasse Kaffee einzuschenken.

»Kaffee?«, fragte Lynx erstaunt. »Ich wollte doch eigentlich Kräutertee haben.«

»Ich aber nicht. Tut mir leid, ich habe seit Tagen nicht mehr geschlafen. Kaffee ist für mich jetzt genau das Richtige. Deine kleine Sakura kennt mich besser, als ich dachte. Aber falls es dich beruhigt: In der anderen Kanne ist Tee.« Er schenkte Lynx eine Tasse ein und reichte sie ihr.

Sie trank einen Schluck und lehnte sich zurück. »Also, Varg …«

»Mein echter Name ist Wolf. Ich denke, du solltest ihn kennen, bevor ich dir meine Geschichte erzähle.«

»Wolf also.« Sie musterte ihn. »Das passt tatsächlich besser.«

»Findest du?«

»Absolut. Ich bin Lynx.« Wenn Wolf ihr genug vertraute, ihr seinen echten Namen zu nennen, gab es für sie keinen Grund mehr, ihren eigenen geheim zu halten.

»Ich hatte schon gerätselt, wie du wirklich heißt.« Wolf trank einen Schluck Kaffee. »Kajin passt aber genauso gut zu dir.«

»Danke. Ein Bekannter hat mir den Namen irgendwann gegeben und er ist hängengeblieben. Aber du hast von einer Bitte gesprochen. Was für eine Bitte ist das?«

Wolf grinste. »Du kommst gleich zum Kern, das gefällt mir. Ich habe dir erzählt, dass ich ein neues Bauprojekt starte. Dieses Wolkenschiff wird etwas Besonderes werden.« Er griff in seine Manteltasche und zog ein kleines Bündel hervor. »Öffne es, dann weißt du, was ich meine.«

Neugierig nahm Lynx Wolf das Päckchen ab. Als sie es öffnete, fiel ein Tintenfass heraus, das eine tiefschwarze, wirbelnde Flüssigkeit enthielt.

»Schattenblut!« Sie blickte Wolf an. »Wo hast du das her?«

»Ich habe meine Beziehungen. Ich hatte genug Jahrhunderte, um Kontakte zu knüpfen.«

Lynx konnte das leise Wispern des Schattenbluts hören. »War das der Grund, weshalb du im Frühlingsreich warst?«

»Unter anderem«, bestätigte Wolf.

»Du willst also, dass ich dir beim Bau mit Tintenmagie helfe.«

»Nicht nur beim Bau. Ich möchte, dass du das Schiff mit permanenten Zaubern belegst.«

Mit Schattenblut wäre das, anders als mit gewöhnlicher Tinte, kein Problem, aber … »Das kostet eine Menge Zeit.«

»Und eine Menge Magie, ich weiß. Aber ich bin eine echte Niete in Tintenmagie.« Er überlegte. »Eigentlich in jeder Magie, außer meiner eigenen. Ich habe noch nicht einmal die Grundprüfung der Magie bestanden.«

Lynx sah ihn ungläubig an. »Wie bitte?« So etwas hatte sie noch nie gehört.

»Ich sagte doch, dass ich wirklich schlecht in Fremdmagie bin.«

»Aber warum kommst du dann zu mir?«, fragte Lynx.

Wolfs Miene war ernst. »Meinst du wirklich, ich hätte die Zauber rings um den Dragon nicht bemerkt? Die Bannkreise, die Schwellenzauber – die übrigens ziemlich beeindruckend sind. Ich habe schon lange nicht mehr eine solche Magie gespürt.«

Lynx runzelte irritiert die Stirn. Sie wirkte ihre Bannkreise immer so, dass die Zauber nicht zufällig aufgespürt werden konnten. »Das sollte eigentlich unmöglich sein.«

Wolf zuckte mit den Schultern. »Ich bin darin ausgebildet, Magielinien zu spüren.«

Das war eine Information, die Lynx erst einmal verarbeiten musste. Sie betrachtete das Tintenfass, das sie auf den niedrigen Tisch gestellt hatte, und atmete tief durch.

»Echt?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie bist du bloß an dieses Zeug gekommen? Und wozu?«

»Das werde ich dir erzählen. Aber erst einmal muss ich wissen, ob du bereit bist, mir zu helfen.« Da war es, das ewige Misstrauen. Es war eine schlechte Angewohnheit, die jedes Wesen annahm, das länger als zwei Jahrhunderte lebte. Oder wollte er ihr eine Wahl lassen? Ihre Entscheidung war längst gefallen. Lynx setzte ihr Verhandlungsgesicht auf.

»Warum sollte ich dazu bereit sein?«

»Weil ich dich gut bezahlen würde.«

»Ich bin die Besitzerin des White Dragon. Meinst du wirklich, ich hätte dein Geld nötig?«

»Vermutlich nicht. Aber es wäre mal etwas Neues, oder? Oder hast du schon mal ein Wolkenschiff mit Tintenmagiezaubern belegt?«

»Nein. Ein Wolkenschiff noch nie.« Und genau dieser Umstand machte Lynx neugierig. Vermutlich wusste Wolf das ganz genau. Das Wolkenschiff interessierte sie, ebenso wie der Drache mit den stahlgrauen Augen. »Okay. Erzähl mir von diesem Schiff und davon, weshalb du so was«, sie wies auf das Tintenfass mit dem Schattenblut, »in deiner Manteltasche herumträgst.«

Wolf nickte erfreut. »Mit Vergnügen!«

• 20 •

Eine leichte Brise ließ die Seidenvorhänge vor den Fenstern tanzen. Hawk saß mit untergeschlagenem Bein auf dem Sitzkissen und täuschte Interesse an dem Bericht des Boten vor. Senatorin Suhas Blick war berechnend, während sie dem Boten lauschte. Senatorin Fatimas Finger trommelten auf ihr Knie und Hawk konnte förmlich sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Die Aufmerksamkeit der beiden war so auf den Boten konzentriert, dass Hawk es sich erlaubte, seine Gedanken wandern zu lassen. Er wusste ohnehin, was der Bote zu berichten hatte. Schließlich war er es gewesen, der die Nachricht ursprünglich formuliert und über Umwege Leute finanziert hatte, den Boten zu senden. Hawk hatte gehofft, dass die Nachricht rechtzeitig zum Besuch der Senatorinnen auf Hawks Anwesen eintraf, und er hatte richtig kalkuliert.

Es kam häufiger vor, dass die Senatorinnen des Sommerrats ihn auf seinem Landsitz besuchten, meist unter dem Vorwand, seinen Rat zu brauchen, wenn sie in Wahrheit die Sammlung seiner Gärten bewundern wollten. Hawk ließ sie gewähren. Doch gerade jetzt, kurz vor den nächsten öffentlichen Gerichtssitzungen, gab es mehr als genug zu besprechen, sodass viele Senatorinnen Hawk als Berater in Anspruch nahmen.

In Zeiten wie diesen konnte Hawk am meisten Einfluss auf das politische Geschehen nehmen, ohne Angst haben zu müssen, dass er Misstrauen erweckte. Wenn er mit den Senatorinnen einzeln oder in kleinen Gruppen sprach, seine Worte sorgfältig abwog und seine Macht nicht zu offensichtlich ausspielte, erreichte er am meisten. Sobald er vor dem gesamten Rat sprach, gab es unter den Mitgliedern immer welche, die ihn missbilligten und ihm nicht trauten. Kamen die Senatorinnen aber zu ihm, konnte Hawk davon ausgehen, dass sie seine Beraterrolle akzeptierten und ihm bestenfalls sogar vertrauten. So konnte er sie leicht manipulieren.

Die Kunst, seine eigenen Ideen als die des Gegenübers zu verkaufen, hatte Hawk über Jahre perfektioniert. Sie leistete ihm gute Dienste, zusammen mit der Fähigkeit, seine Gegner schonungslos in Grund und Boden zu argumentieren. Es gab nicht viele, die in einer Diskussion mit ihm die Oberhand gewannen. Doch er bevorzugte eine diskretere Vorgehensweise, agierte lieber aus den Schatten als im Rampenlicht. Besonders im Umgang mit dem Sommerrat erschien ihm diese Herangehensweise besser. Schließlich versuchte er nicht nur, mit Crimson Flower Einfluss auf den Rat zu nehmen, sondern ein ganzes System zu verändern.

Sie mussten sich sorgfältig vorbereiten und sichergehen, dass sie nicht in ein Vakuum gerieten, wenn sie den Sommerrat absetzten. Der Plan war nie gewesen, das Sommerreich ins Chaos zu stürzen, zumindest nicht für eine längere Zeitspanne. Ihr vordringliches Ziel war es, die korrupten Ratsmitglieder durch gewählte Vertreter zu ersetzen. Sie wollten den Sommerrat nicht nur für Männer, sondern für alle Volksgruppen öffnen, besonders für die Rjtak.

Die stolzen Stämme waren die Einheimischen in diesen Breiten von Skyle. Seit die Menschen begonnen hatten, auf dem Kontinent zu siedeln, hatte es Streit um Handelsrouten, Oasen und die wenigen fruchtbaren Landstriche gegeben. Dabei hatten die Menschen nie verstanden, worauf es beim Leben in der Wüste ankam. Anderenfalls hätten sie längst angefangen, Ba-anad zu züchten, Sandschlitten zu konstruieren oder Kakteen anzubauen.

Doch erst mit dem Kampf um die Hauptstadt, der Ermordung des Sommerkönigs und der anschließenden Gründung des Sommerrates war der Konflikt eskaliert. Seit die Menschen die Rjtak aus Estate Phoenix verdrängt hatten, herrschte Krieg. Die ausgehandelte Waffenruhe war bestenfalls brüchig. Es war vor allem der Verdienst von Hawks jahrzehntelangen, engen Beziehungen zu den Stämmen, dass diese vorübergehend die befreiten Kindersklaven aufnahmen und beim Kampf gegen die Karawanen der Sklavenhändler halfen, wenn sie durch die südlichen Staubwüsten nahe des Zinar-Gebirges zogen. Der Hass gegen die Menschen saß tief, auch wenn es unter den Mitgliedern von Crimson Flower inzwischen eine ganze Reihe Rjtak gab, die für die gemeinsame Sache kämpften. Sie glaubten ebenso wie Hawk daran, dass nur ein Zusammenschluss der Völker im Sommerreich den Pfad in die Zukunft öffnete.

Der Bote hatte inzwischen seinen fingierten Bericht über Schmuggler auf der Nord-Süd-Handelsroute beendet und sah sich jetzt den Fragen von Suha und Fatima ausgesetzt. Ihre Reaktionen waren genauso, wie Hawk gehofft hatte.

»Der Mann ist sicher erschöpft. Wir sollten ihn ruhen lassen«, raunte er den Senatorinnen zu.

Auf seinen Wink hin trat einer seiner Diener durch den steinernen Türbogen und bedeutete dem Boten, ihm zu folgen.

Fatima protestierte, doch Suha unterbrach sie. »Du hast recht, Hawk. Lassen wir den Mann ausruhen.« Der Bote verneigte sich und verschwand mit dem Diener aus dem Raum. Hawk wusste, dass irgendwo bereits ein Tablett mit Erfrischungen und ein Ruhelager auf den Mann warteten. Die Bewirtung in seinem Haus war stets exzellent.

Suha beugte sich zu Hawk hinüber. »Was hältst du von dem Bericht?« Ihr heißer Atem strich über Hawks Gesicht, so nah war sie ihm. Hawk konnte nur mit Mühe seine Abscheu verbergen.

»Ich denke, dass Ihr der Sache nachgehen solltet. Wenn tatsächlich Schmuggler versuchen, die Nord-Süd-Handelsroute auf dem Kontinent unter ihre Kontrolle zu bringen, dann wird auch der Rat davon nicht lange unbehelligt bleiben. Soweit ich weiß, nutzt Eure Familie diese Route oft für ihre Karawanen, nicht wahr, Senatorin Fatima?«

»Ich werde diese Angelegenheit in der nächsten Ratssitzung zur Sprache bringen«, verkündete Fatima entschlossen. »Senatorin Dilara muss ebenfalls davon erfahren. Meinst du, du kannst den Boten zu ihrem Stadthaus weiterschicken?«

»Selbstverständlich.«

»Gut«, sagte Fatima zufrieden. »Sorg dafür, dass er bis zum Abend dort ist. Ich werde Dilara beim Essen Gesellschaft leisten, dann können wir gleich die nächsten Schritte besprechen.«

Suha erhob sich. »Wir sollten auch die Hafenstädte im Norden im Auge behalten. Die Wolkenpiraten wildern seit dem Frühling vor der Küste von Topaz. Wenn das so weitergeht, werden unsere Handelspartner sich beschweren.«

Hawk wusste, dass auch Suha einen Großteil ihres Vermögens durch Lufthandel machte. »Dann ist eine Verstärkung der Truppen in Gallowsway sicher ratsam.«

Suha grinste süffisant. »Ich denke, ich werde mich persönlich darum kümmern und Senatorin Siham besuchen.«

Hawk neigte in gespielter Anerkennung den Kopf. »Eine exzellente Idee.«

Er begleitete seine beiden Besucherinnen zum Vorhof und sah zu, wie sie umständlich ihre Sänften bestiegen, die sie zurück nach Phoenix bringen würden. Sie hoben zum Abschied grüßend die Hand und die Sänftenträger setzten sich in Bewegung.

Hawk blickte ihnen nach, bis sich das hohe, doppelflüglige Tor hinter ihnen schloss. Was wollten die Menschen in den lebensfeindlichen Wüsten des Kontinents? Die nördlicheren Sommerinseln, die an das Frühlings- und das Herbstreich angrenzten, waren üppig bewachsen und bevölkert von ganzen Gruppen merkwürdiger Spezies. Dort lebte es sich leichter als hier auf dem Kontinent. Gewiss, inzwischen waren einige der Inseln im Osten nicht mehr bewohnbar. Der Blutwald hatte sich in den letzten Jahrhunderten ausgedehnt, indem seine giftigen Pollen sich von einer Insel zur nächsten ausbreiteten. Er überwucherte den fruchtbaren Boden, vergiftete das Wasser der Quellen, und nur die Sturmwinde wussten, was dieser Dschungel in seiner unstillbaren Gier schon alles geschluckt hatte. Hawk konnte verstehen, dass die Menschen ihn mieden. Aber die staubigen Steinwüsten und die Wanderdünen auf dem Kontinent waren kaum freundlicher. Wenn gerade keine Sandstürme tobten, trockneten Dürreperioden das Land aus. Das Leben war sogar noch härter geworden, seit der Sommerrat den Angehörigen anderer Völker den Zutritt nach Estate Phoenix verboten und damit das Moosvolk mit seinen Magiewebern aus dem Land vertrieben hatte. Über so viel Kurzsichtigkeit konnte er nur den Kopf schütteln. Selbst der Sommerrat musste einsehen, dass das Fehlen der Magieweber einen gesellschaftlichen Rückschritt bedeutete.

»Sir!«

Er blickte auf. Ein Offiziersanwärter kam auf ihn zu, begleitet von Hassan, seinem Leibdiener. Der Anwärter salutierte. »Ich bringe den Militärreport!«

Hawk bedeutete ihm, bequem zu stehen. »Geben Sie her. Haben Sie etwas Zeit?«

Der Mann bejahte und reichte ihm den versiegelten Bericht.

»Gut. Lassen Sie sich von Hassan ein paar Erfrischungen bringen. Hassan?«

Hassan verbeugte sich knapp. »Sehr wohl, Sir. Wenn Sie mir folgen mögen?«

Hawk sah den beiden nach, wie sie in den Tiefen des Gartens verschwanden. »Wundergärten« nannten seine Bediensteten und Besucher seinen Besitz. Die Gärten waren der einzige Teil seines Anwesens, an dem Hawk tatsächlich etwas lag.

Auf dem Weg ins Arbeitszimmer überflog er den Bericht. Am Schreibpult griff er Papier und Federhalter und verfasste in seiner ordentlichen Schrift Befehle an seine Offiziere. Er löschte die Tinte mit Sand, schuf eine blau leuchtende Loumekugel und griff nach seinem schweren Siegel. Einen Augenblick lang betrachtete er den fliegenden Reiher mit der stilisierten Blüte darunter, ehe er sorgfältig ein Dokument nach dem anderen mit blau pulsierenden Siegeln verschloss. Sein Blick wanderte aus dem Fenster zu seinen Gärten und verlor sich eine Weile im Anblick des Grüns.

Dann erhob er sich. Es wartete noch viel Arbeit auf ihn.

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