Buch lesen: «Skyle», Seite 5

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• 14 •

In einer Hafenkneipe in Autonne Gale saß Raven bei einem Glas Rum und beobachtete die Prügelei am anderen Ende des Raumes. Needles wich gerade den Fäusten eines grobschlächtigen Mannes aus und antwortete mit einem gut gezielten Kinnhaken. Die gesamte Besatzung des Schoners hatte Landgang, deswegen war er nicht überrascht, sie zu sehen. Solange sie ihn in Ruhe ließ, war es ihm egal.

Raven trank einen Schluck Rum. Das hübsche brünette Kätzchen, das er auf dem Weg hierher aufgegabelt hatte, schmiegte sich hingebungsvoll seufzend an seine Brust. Raven strich der jungen Frau über den wohlgeformten Körper und küsste ihren Hals, woraufhin sie leise kicherte.

»Fremder, ich kenne noch nicht einmal deinen Namen«, schnurrte sie und küsste ihn auf das Schlüsselbein, das der weite Ausschnitt seines Hemdes entblößte.

»Ich glaube nicht, dass mein Name besonders wichtig für das ist, was ich mit dir vorhabe«, stellte Raven fest und ließ seine Hände tiefer wandern. Sie war eigentlich kaum eine Frau, eher noch ein Mädchen, doch er merkte, dass sie Erfahrung hatte.

Sie sah ihn mit gespieltem Entsetzen an. »Was denkst du von mir? Ich bin keines dieser Mädchen! Mich kriegst du nicht so leicht herum.«

Raven küsste ihren Nacken. »Ach nein? Was für eine Art Mädchen bist du denn?«, fragte er. Dann hob er sie hoch. Sie schlang automatisch die Arme um seinen Hals, ohne von seinen Lippen abzulassen. »Ich glaube nämlich, dass ich dich schon ziemlich gut herumgekriegt habe.«

Sie kicherte. »Vielleicht …«

Raven trug sie zu einer halb versteckten Tür, die sich vor ihnen ebenso lautlos öffnete, wie sie sich hinter ihnen schloss. Von dem Gang dahinter gingen links und rechts Türen ab. Mit dem Fuß stieß er eine davon auf und betrat den Raum. Behutsam legte er sein lockiges Kätzchen auf dem breiten Bett ab. Sie sah ihm dabei zu, wie er seine Stiefel auszog.

Schließlich beugte sie sich vor, strich ihm mit kühlen Fingern über den Nacken und sagte: »Lass mich das machen.« Raven ließ sie gewähren. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass sie wusste, was sie tat. Sie stockte noch nicht einmal, als sie die beiden Pistolen aus seinem Gürtel zog. Dieses Mädchen hatte Mut. Das gefiel ihm.

Sie brauchte ungleich kürzer zum Entkleiden, was daran lag, dass sie außer einem knappen Seidenkleid und hohen Stiefeln nichts trug.

Raven zog sie neben sich auf das Bett. Er begann, ihr Kichern zu mögen. Seine Finger glitten liebkosend über die glatte Haut. Sie beugte sich vor und küsste seinen Mund. Ihre braune Lockenpracht ergoss sich über sein Gesicht und seine Schultern.

Raven waren die Blicke, mit denen sie seinen nackten Körper betrachtet hatte, nicht entgangen. »Mhm, ich habe das Gefühl einer Frau auf meiner Haut vermisst«, bekannte er. Nach den letzten Wochen auf dem Schiff hatte er sich tatsächlich auf die ersten Nächte in der Zivilisation gefreut. Am vergangenen Abend, dem ersten an Land, war seine Begleitung keine Frau gewesen.

Das braunhaarige Kätzchen lachte. »Dann werde ich dir einen Abend bereiten, den du so schnell nicht vergessen wirst«, schnurrte sie. Raven glaubte ihr aufs Wort.

****

Er kehrte noch vor Sonnenaufgang zum Hafen zurück. Für ein paar Stunden hatte er sich den Händen seines Kätzchens und seiner Lust überlassen, gefolgt von einem kurzen, tiefen Schlaf. Jetzt brauchte er frische Luft. Unbemerkt gelangte er an Bord des Headhunter-Schoners. Er hatte kein Interesse daran, sich mit der Nachtwache auseinanderzusetzen. Stattdessen begab er sich mit ein paar Sprüngen in die Takelage und ließ sich auf der Vorrah des Fockmasts nieder. Dort zündete er sich eine Zigarette an und sah zur Stadt hinüber, die am Hang über dem Hafen lag.

Eine Weile rauchte er und betrachtete Autonne Gale in der Dämmerung. Die Viertel rings um den Hafen waren auch um diese Zeit erleuchtet, die Kneipen, Casinos, Freudenhäuser und Pfandleiher hatten jederzeit geöffnet, und auch in einigen Warenhäusern und Lagerhallen wurde gearbeitet. Der Tiegel und der Wolkenmeerarm mit den angrenzenden Docks und Werfthallen lagen weitgehend im Dunkel, ebenso wie die Wohnviertel auf halber Höhe des Hanges. Im Villenviertel knapp oberhalb der Stadt brannten die wenigen Straßenlaternen, ein Luxus, den sich sonst niemand leisten konnte. Sie ließen die breiten Straßen dort wie gewundene Lichtschlangen erscheinen. Außerhalb der Stadt, auf der anderen Seite des Hangs, befanden sich unmittelbar am Fluss die niemals stillstehenden Fabriken. Sie bildeten den letzten Flecken Licht in der Dunkelheit. Mit seinem feinen Gehör hätte Raven selbst hier den Lärm aus den Fabriken noch hören können, wenn der Wasserfall nicht gewesen wäre. So verschluckte das Getöse, mit dem der Fluss über den Rand der Himmelsinsel hinausschoss und ins Wolkenmeer stürzte, alle anderen Geräusche.

Schließlich wandte Raven sich von den Gedanken an die süßen Stunden mit dem Kätzchen und dem Anblick von Autonne Gale ab, lehnte sich an den Mast und schloss die Augen. Bis zu diesem Moment hatte er es geschafft, Wolfs Auftrag aus seinem Kopf zu verbannen. Er hatte sich immer noch nicht entschieden, ob er ihn annahm. Leute aufzuspüren war Ravens Job, aber die Suche nach dem Zerleger konnte ihn, wenn er Pech hatte, Wochen kosten. Er hatte sich umgehört, sobald sie in Autonne Gale an Land gegangen waren. Gerüchte besagten, dass der Zerleger ein ehemaliger Schiffsbauer war, der sich irgendwo auf den dicht bewaldeten Himmelsinseln im südlichen Herbstreich aufhielt. Er war eine Legende, eines der vielen Schreckgespenster der Wolkenmeere. So viel hatte Raven heraushören können. Keine der vielen Geschichten wies allerdings auf seinen echten Namen hin, oder darauf, dass er ein Rjtak war. Raven schloss daraus, dass Kel nicht gefunden werden wollte, was ihm seine Suche deutlich erschweren würde. Vielleicht wäre er endlich einmal wieder eine Herausforderung für seine Fähigkeiten. Zudem war die Prämie, die Wolf Raven versprochen hatte, wenn er es schaffte, den gesuchten Mann vor Mittwinter zurück nach Autonne Gale zu bringen, äußerst großzügig bemessen.

Allerdings konnte Raven während seiner Suche keine weiteren Aufträge annehmen, wenn er vor Mittwinter zurück in Gale sein wollte. Immerhin würde er Kingston leicht überzeugen können, mit dem Headhunterschoner zu den südlichen Herbstinseln zu segeln. Es war allgemein bekannt, dass sich eine ganze Reihe von Gesuchten auf den Himmelsinseln zwischen Sommer- und Herbstreich aufhielten. Sie waren mit ihrem milden Klima ein beliebtes Winterquartier für Schmuggler, Wolkenpiraten und Kleinverbrecher.

Es wurmte Raven, dass er die Vorzüge einer Großstadt wie Autonne Gale so schnell wieder aufgeben musste. Aber wenn er Wolfs Zahlung erhielt, würde er sich für eine Weile nach Primavera Melody oder die Piratenstadt Moon Bay absetzen und den Rest des Winters an einem angenehmeren Ort verbringen. Was das Geldausgeben anging, hatte es ihm noch nie an Ideen gemangelt. Ein bekanntes Gefühl ergriff von ihm Besitz. Er entblößte das mächtige Raubtiergebiss. Sein Jagdfieber war erwacht.

• 15 •

Gähnend kam Wolf aus dem niedrigen Gebäude, in dem die Verwaltung der Werft untergebracht war. Er überlegte, wann er das letzte Mal geschlafen hatte, doch er konnte sich nicht erinnern. Stattdessen überschlug er, wann die Lieferungen, die er in Auftrag gegeben hatte, wohl in Autonne Gale eintreffen würden. Die Metallteile würde er erst kurz vor Ende des Winters abholen können. Die Materialien für die Segel hatte er im Tiegel bestellt, genau wie alles andere, was er neben dem Holz noch brauchte.

Er war erst vor wenigen Stunden wieder in Autonne Gale eingetroffen, nachdem er die letzten Tage bei den Holzhändlern und Sägewerken in der Umgebung verbracht hatte. Ein einziger Händler hatte genügend Wolkenbaumholz vorrätig und konnte es innerhalb der nächsten drei Wochen nach Gale liefern. Er war sich bewusst, dass der Preis, den er für das Baumaterial bezahlte, unverschämt hoch war, aber er hatte keine Lust, es bei verschiedenen Leuten zu kaufen, von denen am Ende doch wieder ein oder zwei nicht liefern konnten.

Seit die großen Werften nach Humming Waters abgewandert waren, gingen fast alle Holzlieferungen ohne Umwege ins Frühlingsreich, und das, obwohl die Werften in Gale nach wie vor als die besten galten. Aber im Gegensatz zu Autonne Gale wuchs und gedieh die Hauptstadt des Frühlingsreiches, dessen nächstgelegener Hafen Humming Waters. Und so war es kein Wunder, dass die Händler ihr Holz dorthin verkauften.

Wolf schlenderte am Fjord entlang zu den Docks. Es war gerade Mittagspause und die Handwerker der unterschiedlichen Werften strömten aus den Hallen. Die Geschäftigkeit zwischen den Gebäuden täuschte. Von den Docks, die beidseitig des Wolkenfjords in Autonne Gale lagen, stand inzwischen fast die Hälfte leer. Besonders im hinteren Bereich, wo der Fjord schmaler wurde, waren die meisten Werfthallen verlassen.

Wolf arbeitete auf einer der Werften im vorderen Drittel des Wolkenfjords, der, schmaler werdend, wie eine Scharte von der Bucht mit dem Hafen ins Landesinnere ragte. Traditionell gab es einen harten Wettbewerb um die vorderen Docks. Nur ganz vorne, direkt an der Küstenlinie, war der Fjord breit genug, sodass auch große Handelsschoner und die neuartigen Linienschiffe der Marine in die Docks hineinpassten. Weiter hinten mussten sich die Werften mit dem Bau und der Reparatur kleinerer Schiffstypen begnügen.

Wolf hatte es stets vorgezogen, auf einer der mittelgroßen Werften zu arbeiten. So hatte er genug Freiraum bei dem, was er tat, und vermied in der Regel, Aufträge von der Marine ausführen zu müssen. Nicht, dass er nicht jeden Monat Anfragen von den großen Werften in Gale und Humming Waters erhielt oder die Königliche Marine regelmäßig versuchte, ihn abzuwerben. Nur hatte er kein Interesse daran, sich in die Dienste der Frühlingskönigin zu begeben. Nein, er war lange Zeit zufrieden gewesen mit seiner Arbeit als einfacher Schiffsbauer. Doch die Zeiten änderten sich. Er war schon zu lange in Gale gewesen, der Ort wurde ihm zu klein. Außerdem hatte er seit seinem Treffen mit Raven weitere Gerüchte über die Exorzisten gehört. Wenn sie erst einmal ausschwärmten, würde es nicht lange dauern, bis sie ihn hier aufgespürt hatten. Die Zukunft der Drachen von Skyle war düsterer denn je. Die Zeit war reif für sein Schiff.

Wolf entdeckte Jacques und Ferry zwischen den Schiffsbauern aus dem Vorplatz. »Jacques! Hast du ein paar Minuten?«

»Klar!« Der Vorarbeiter verabschiedete sich von Ferry und ging zu Wolf. »Was gibt es?«

Wolf reichte Jacques eine Rolle mit Bauplänen. »Würdest du mal einen Blick auf diese Pläne werfen?«

»Ist das ein neuer Auftrag?«, erkundigte sich Jacques und zog die Pläne aus der Kartenrolle.

»Das sind die Pläne für mein Schiff«, entgegnete Wolf und zog aus der Innentasche seiner Jacke die Auftragspläne, die die Werftleitung soeben abgesegnet hatte.

Jacques überflog Auftrag und Unterschriften, ehe er seine Aufmerksamkeit den Blaupausen zuwandte. »Das heißt, du hast sie gezeichnet?«

»Ja.« Wolf strich sich sein frisch gefärbtes Haar aus der Stirn und fasste mit einem Lederband den Pferdeschwanz im Nacken neu zusammen. Dabei ließ er Jacques nicht aus den Augen. Der Vorarbeiter genoss hohes Ansehen unter den Handwerkern. Wenn er nicht willens war, Wolfs Schiff zu bauen, würde Wolf sich eine andere Werft suchen müssen.

Jacques betrachtete die Zeichnungen eingehend. Schließlich rollte er sie schweigend wieder ein und reichte sie Wolf zurück. Er setzte sich in Bewegung und Wolf folgte ihm summend. Sie betraten Dock vier durch den Nebeneingang. In einer stillen Ecke blieb Jacques endlich stehen und drehte sich zu Wolf um. »Ich habe keine Ahnung, wie du es geschafft hast, die Werftleitung dazu zu bringen, diesen Auftrag anzunehmen, aber der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig.«

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich die Vorarbeiterposition einnehmen würde«, antwortete Wolf. »Das hat sie überzeugt.« In Wirklichkeit war es vor allem die großzügige Entlohnung gewesen, die dieser Auftrag versprach. »Außerdem will ich, dass dieses Schiff bis zum Ende des Winters fertiggestellt wird. Und du weißt, dass wir hier um jeden Auftrag kämpfen sollten.«

Jacques seufzte abermals. »Das ist mir bewusst!«, knurrte er. »Aber diese Pläne … Das ist ein Mordsaufwand für so ein kleines Schiff!«

»Das stimmt, aber ich denke nicht, dass wir viele unserer Schiffsbauer benötigen werden. Ich habe noch ein paar zusätzliche Leute an der Hand. Die Werftleitung ist einverstanden.«

Jacques sah ihn misstrauisch an. »Du willst Externe dazuholen? Bist du dir sicher?«

»Warum nicht? Ich weiß, dass wir neben den beiden Handelsschiffen für die Rousseau-Familie noch eine ganze Menge Reparaturaufträge haben. Ohne zusätzliche Arbeiter können wir dieses Schiff nicht bauen, wenn wir bei den anderen Aufträgen keine Abstriche machen wollen.«

»In Ordnung, du hast recht. Wir können den Auftrag wirklich gut brauchen.« Er blickte wieder auf die Pläne und strich sich grübelnd über den Vollbart. »Diese Zeichnungen erinnern mich an die legendären Blaupausen der Wonder.« Wolf sah ihn verblüfft an. Die Wonder mochte ein legendäres Piratenschiff sein, aber er hatte bisher noch niemanden außerhalb des Teams getroffen, der ihre Baupläne kannte.

»Der Mann, mit dem ich meine Lehrjahre verbracht habe, hat bei ihrem Bau mitgeholfen«, fuhr Jacques fort. »Coram und ich waren damals beste Freunde. Als wir uns viele Jahre später wiedergetroffen haben, hat er mir einen Teil der Pläne gezeigt.«

»Ach, du kennst Coram?« Wie klein die Welt doch war. »Ich wollte ihn fragen, ob er bei diesem Projekt dabei sein kann. Wenn ihr Glück habt, seht ihr euch bald wieder.«

»Ist Coram einer der Externen, von denen du gesprochen hast?«

Wolf nickte. »Die anderen sind genauso gut«, versprach er.

»Du warst beim Bau der Wonder dabei«, sagte Jacques. Das war eine Feststellung, keine Frage.

»War ich«, bestätigte Wolf. Er sah keinen Grund, es abzustreiten. Er brauchte Jacques' Unterstützung bei diesem Auftrag. Wenn der Vorarbeiter eins und eins zusammenzählte, würde er auch erkennen, dass Wolf die Pläne der Wonder entworfen hatte.

»Die Wonder ist ein Traum! Sie ist nicht weniger ein Kunstwerk«, schwärmte Jacques, ohne das Grinsen auf Wolfs Gesicht zu bemerken. »Aber dieser Auftrag, dieses Schiff«, sagte er eindringlich und wedelte mit den Bauplänen, »ich glaube, es hat das Potenzial, die Wonder in ihrer Herrlichkeit noch zu überbieten.«

»Würdest du mithelfen?«, fragte Wolf.

Jacques sah ihn überrascht an. »Beim Bau?« Wolf konnte die Begeisterung auf Jacques' Gesicht sehen, aber er überlegte einen Augenblick, ehe er antwortete. Wolf schätzte es, dass er sich nicht Hals über Kopf in den Auftrag stürzte, sondern sich Zeit nahm, darüber nachzudenken. »Ich nehme an, die anderen Aufträge können auch ohne meine Hilfe erledigt werden. Und ehrlich gesagt: So ein großzügiger Lohn kommt mir gerade recht, bevor ich ins Frühlingsreich gehe. Meine Familie wäre jedenfalls dankbar. Ich habe es den anderen noch nicht gesagt, aber ich werde im Frühling auf die königlichen Werften von Humming Waters wechseln. Dieser Winter wird mein letzter hier sein. Ich hatte gehofft, du könntest meine Stelle als Vorarbeiter übernehmen, Varg. Die Werft braucht junge, geniale Köpfe wie dich.«

Wolf lachte leise. »Tut mir leid, aber ich habe selbst nicht die Absicht, länger als bis zum Frühling hierzubleiben. Es wird Zeit, dass ich Autonne Gale den Rücken kehre.«

Jacques musterte Wolf eine Zeit lang. Mit Sicherheit ahnte Jacques, dass Wolf kein gewöhnlicher Mensch war. Sie arbeiteten schon seit Jahren zusammen, und manche Dinge konnte ein Drache auf Dauer nicht verbergen. Spätestens jetzt, wo Jacques wusste, dass Wolf die Wonder mitgebaut hatte, musste ihm alles andere auch klar sein.

»Tja, da kann man wohl nichts machen«, sagte Jacques schließlich. »Du bist schon ein komischer Vogel, Varg.«

»Das kann schon sein. Hilfst du mir auch, unser Team zusammenzustellen?«

Jacques nickte zögernd. »Sicher. Wenn du mir verrätst, wen du als Externe eingeplant hast.«

»Sie sind alle Experten auf ihren Gebieten. Sie werden unsere Leute hier hervorragend ergänzen.«

»Wenn sie alle so gut sind wie Coram, habe ich daran keine Zweifel.« Jacques zupfte sich gedankenverloren am Vollbart. »Ich glaube, ich weiß schon, wen ich ins Team holen möchte.«

Wolf nickte lächelnd. »Ich bin gespannt auf deine Vorschläge.«

• 16 •

Ein Sturm zog auf. Schwarze und schwefelgelbe Wolken sammelten sich zu einem gewaltigen Gebirge, das alle Augenblicke von zuckenden weißen Blitzen erhellt wurde.

Die Kapitänin der Storm Riders behielt mit besorgter Miene den Horizont im Südosten im Auge. Die Wonder machte gute Fahrt und sie hatte ihrer Besatzung bereits die nötigen Befehle gegeben, um gegen die Sturmfront gewappnet zu sein.

Sie hatten in den vergangenen Wochen bereits eisigen Fallwinden und tückischen Strömungen, Himmelsschlangen und lokalen Gewitterstürmen getrotzt. Ihre Mannschaft bestand aus Menschen und Moosvolk, einer Handvoll Antinanco, drei Rjtak und einer Moena. Inzwischen konnte LeClaire es sich leisten, nur die Besten der Besten für den Dienst an Bord der Wonder auszuwählen. Die Wonder war eines der wenigen Wolkenschiffe in Skyle, die die Wolkenmeere relativ unbehelligt kreuzen konnten. Und dieser Sturm war nichts gegen das, was sie schon bewältigt hatten.

Trotzdem beunruhigte er sie. Sie befanden sich auf halber Strecke zwischen den Winter- und den Frühlingsinseln. Hier waren Stürme zu keiner Jahreszeit ungewöhnlich. Doch diese Wolken … Die obere Schicht des Wolkengebirges zerfaserte im Blau des Himmels, schlug kleine Wellen und Wirbel. Sie veränderte sich beständig, schnell und unaufhaltsam. LeClaire kniff die Augen zusammen. Irgendetwas war da.

Wind peitschte über das Deck. Er trug den beißenden Geruch von frischem Blut und Eisen in sich. Kapitänin LeClaire zog ihr Fernrohr hervor und richtete es auf die Sturmfront. In den wirbelnden Schleiern der Wolken wurden graue und schwarze Leiber sichtbar. Sie nahm das Fernrohr wieder herunter.

Hollister, ihr erster Maat, lehnte sich an die Reling. »Schicksalswinde, was, Käpt'n?«

Die Kapitänin nickte. Die jagenden Wesen zwischen den Wolken gingen ihr nicht aus dem Kopf. In ihrer langen Zeit als Himmelsseglerin und Wolkenpiratin hatte sie so etwas erst einmal gesehen. »Das sind Sturmspiele, Hollister. Sie jagen.«

Hollister spuckte aus. »Hoffen wir, dass sich keines ihrer Opfer an Bord unserer Wonder befindet.« Er spielte damit auf eine alte Legende an, nach der die Meute der Sturmspiele in ihrer immerwährenden Himmelsjagd die Seelen der Meuterer und Fahnenflüchtigen von den Schiffen holte.

LeClaire schüttelte den Kopf. Sie hatte genug Wundersames und Gefährliches gesehen, um eine gehörige Portion Aberglaube in sich zu tragen, aber um diese Himmelswesen machte sie sich keine Sorgen. »Die Wonder ist ein stolzes Schiff. Hier an Bord muss sich niemand vor den Sturmspielen fürchten.« Damit entließ sie ihren ersten Maat. Hollister tippte kurz an seine Schirmmütze, drehte sich um und bellte einige kurze Befehle.

LeClaire wandte sich wieder der Jagd der Sturmspiele zu. Inzwischen hörte man auch ihr Kläffen und Knurren, unheimliche, widerhallende Laute, die an das Geschrei von Wildgänsen und Donnergrollen erinnerten. Ein solches Schauspiel konnte man wahrhaftig nur selten bewundern.

Die Wonder war auf dem Unteren Wolkenmeer unterwegs, auf dem Weg nach Moon Bay im Norden des Frühlingsreiches. Es gab nicht viele Himmelssegler, die die hier vorherrschenden Gefahren auf sich nahmen. Das hier war kein Ort für Jungspunde und Grünschnäbel. Zahllose Schiffe hatten hier ihr frühes Grab gefunden, und niemand wusste, was in den Tiefen des Meeres schlummerte oder hinter dem nächsten Wolkenberg wartete. LeClaire dachte an die Sagen, die man sich von Sturmspielen, Silbertrabern, Windphantomen und den anderen düsteren Gestalten erzählte, die die Himmel von Skyle bevölkerten. Geschichten von Wiedergängern und geisterhaften Kriegsschiffen kamen ihr in den Sinn, von verfluchten Schätzen und mächtigen Waffen, versunken im Wolkenmeer. Unwillkürlich spitzte sie die Ohren, lauschte auf die unhörbaren Schläge einer fernen Glocke. Als ihr bewusst wurde, was sie tat, schürzte sie die Lippen und schüttelte den Kopf. Sie war kein kleines, verängstigtes Mädchen mehr, sondern Wolkenpiratin und seit bald einem Jahrzehnt Kapitänin eines eigenen Schiffes.

Entschlossen wandte sie sich vom Anblick der Sturmwolken ab und stapfte zum Oberdeck hinüber. Sie bedeutete ihrer Steuerfrau, dass sie sie ablösen wollte, und übernahm das Steuer. Beherzt hielt sie auf die dunklen Wolken zu. Sie hatten nichts zu befürchten.

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