Buch lesen: «Skyle», Seite 4

Schriftart:

• 12 •

Der Wind scharrte über die Dünenkämme und riss den Sand in langen Schlieren mit sich. Hawk spürte das feine Reiben der Sandkörner auf der Haut, während er durch die Straßen des kleinen Ortes lief. Sandstürme waren auf dem Wüstenkontinent nichts Ungewöhnliches, und dieses war ein natürlicher, kein magischer. Die Sturmwand hinter den südlichen Gebirgszügen hatte seit Jahren keine Stürme mehr gesandt. Ob die Große Sandschlange sie davon abhielt? Aber sie schlief, wenn er den Rjtak glauben konnte, und würde nicht erwachen, ehe sie nicht den Haupttempel zurückerobert hatten. Hawks Blick suchte automatisch das grauschwarze Band der Sturmwand im Südosten, obwohl sein Blick von den Gebäuden ringsum verstellt wurde. Solange der Sandsturm über der Wüste tobte, saß er mit seiner Truppe in diesem Nest fest, doch Hawk kam das sehr gelegen.

In der Mitte des Städtchens erhob sich der Stamm eines mächtigen Drachenbaumes, um den sich die flachen Häuser scharten wie Küken um die Glucke. Nur der Drachenbaum erinnerte noch an die Erbauer der Stadt, sonst war jede Erinnerung an sie ausradiert worden. Hawk kannte nicht einmal mehr den alten Namen des Baumes. Der Sommerkönig war bei der Auslöschung der Baumhüter und ihrer Kultur sehr gründlich gewesen.

Hawk hatte diesen Senatsauftrag genutzt, um mit Crimson-Flower-Mitgliedern entlang der Westküste in Kontakt zu treten und sich über ihre Lage zu informieren. Diese Stadt war der letzte Halt für ihn und seine Truppe, bevor sie nach Estate Phoenix zurückkehrten. Trotz des Risikos, in einer kleinen Stadt wie dieser aufzufliegen, hatte er ein Treffen vorgeschlagen. Denn wann waren die Treffen von Aufrührern und Revolutionären je risikofrei gewesen? Ihre bloße Existenz war bereits ein Risiko. Hawk war schon zu lange Teil des Spiels, um sich von einer Organisation wie dem Sommerrat und seinen Marionetten einschüchtern zu lassen.

Bald stand er vor einer niedrigen Tür, die in ein flaches, unscheinbares Gebäude führte, genauso nichtssagend wie die Straße, in der es sich befand. Hawk hatte darauf geachtet, dass ihm niemand folgte. Dennoch blickte er sich einmal um, ehe er seinen linken Handschuh auszog und die Handfläche auf die Tür legte. Das Holz glomm unter seiner Berührung einmal auf, dann öffnete sich die Tür knarrend nach innen. Hawk zog seinen Handschuh wieder an, zufrieden, dass ihr neuer Sicherheitsmechanismus so gut funktionierte.

Sie hatten davon Abstand genommen, Losungen oder Klopfrhythmen zu benutzen. Diese Methoden waren einfach zu unsicher. Stattdessen hatten sie die Rjtak um Hilfe gebeten, die ihnen einen alten Schutzzauber als Gegenleistung für eine Reihe anderer Gefallen geboten hatten. Eines ihrer Schutzhäuser wurde mit der Wüstenmagie belegt, die es nur befugten Personen erlaubte, das Gebäude zu betreten. Wurde der Personenkreis erweitert, musste die neue Person von jemandem in den Zauber eingeführt werden, der das Haus bereits betreten konnte. Diesen Zauber mussten sie an jedem neuen Ort neu initiieren. Entsprechend wurde jedes neue Schutzhaus für jedes Mitglied von Crimson Flower neu entschlüsselt.

Hawk hatte Sorge getragen, dass er derjenige war, der als einziger von Anfang an Zugang zu allen Schutzhäusern im Sommerreich hatte. Er war der Hüter der Schutzhäuser und einiger anderer Räume und Gebäude, von denen die meisten anderen Mitglieder nicht einmal ahnten, dass sie existierten. Inzwischen gab es darüber hinaus mehrere Orte, die Crimson Flower nutzte, aber deren Lage er selbst nicht kannte. Falls es jemals dazu kam, dass jemand ihm die Geheimnisse von Crimson Flower abzwang, gab es so immer noch Schutzhäuser, in die sich die anderen Führungsmitglieder zurückziehen konnten.

Er ging durch einen kurzen Flur und betrat einen von Öllampen erhellten Raum. Zwielicht fiel durch die vergitterten Fensteröffnungen.

»Da bist du ja!«, sagte Kinu, eine der Rjtak in ihren Reihen, und erhob sich. Allgemeines Stühlerücken folgte, als der Rest ihrem Beispiel folgte. Hawk begrüßte die Rjtak, indem er ihren Unterarm umfasste. Sie schenkte ihm ein blitzendes Lächeln. Ein alter Mann mit schlohweißem Haar und einem sonnengegerbten, faltigen Gesicht kam ihm entgegen.

»Hawk«, begrüßte er ihn und neigte den Kopf. »Willkommen.«

»Resul. Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen.« Hawk hatte angenommen, dass Resul sich irgendwo im Nordosten des Kontinents herumtrieb. Dass er hier war, kam ihm entgegen. Er hatte einiges mit ihm vor.

Resul betrachtete Hawk amüsiert. »Ich habe gehört, dass du hier durchkommen würdest, deswegen bin ich ein wenig länger geblieben. Und ich habe jemanden mitgebracht.« Er machte eine auffordernde Geste zum anderen Ende des Raumes.

Eine Frau trat aus den Schatten. »Sayed Hawk«, sagte sie und verbeugte sich tief. »Es ist mir eine Ehre.«

Hawk lächelte kurz. »Arzu, lass die Ehrenbezeugungen. Ich habe sie weder verdient, noch erstrebe ich sie. Es ist gut, dich zu sehen.«

Arzu richtete sich auf und strahlte Hawk an. Ihre Zähne leuchteten im Halbdunkel.

Hawk blickte sich um. »Setzt euch! Wir haben viel zu besprechen.« Die Anwesenden ließen sich nieder, doch Arzu blieb stehen.

»Was ist los?«, fragte Hawk. »Setz dich, habe ich gesagt!«

Arzu zögerte noch immer, dann nahm sie ebenfalls am Tisch Platz. Das Licht der Öllampen fiel auf ihre dunkle Haut und Hawk erkannte den Grund für ihre Unsicherheit: Ihre rechte Gesichtshälfte war von einem Netz schimmernder Narben entstellt, die sich ihren Hals hinunterzogen und unter ihrem leichten Gewand verschwanden. Einige Narben waren kaum zu sehen, andere waren wiederum wulstig und schlecht verheilt. Es grenzte an ein Wunder, dass ihr Auge nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Arzu senkte beschämt den Kopf. Ein Vorhang dunkler Haare verdeckte ihr Gesicht. »Vergib mir, Sayed«, flüsterte sie leise.

Hawk runzelte die Stirn. »Lass die Förmlichkeit. Wer hat das getan?«

Die junge Frau schwieg.

»Das war eine Gruppe Sklavenhändler aus dem Süden«, ergriff Resul das Wort. Seine Stimme klang trotz seines Alters klar. »Sie haben Arzu in ihre Gewalt gebracht, als sie versucht hat, die Sklaven zu befreien.«

Hawks Augen verengten sich zu Schlitzen. Hinter seiner Stirn begann es, fieberhaft zu arbeiten.

»Wie lange warst du gefangen?«, fragte er schärfer als beabsichtigt.

Arzu zuckte unter dem Klang seiner Stimme zusammen. »Sechs … sechs Tage«, hauchte sie.

»Wir sind ihr zu Hilfe gekommen, so schnell es ging«, schaltete sich Resul ein.

Hawk betrachtete Arzu nachdenklich. »Haben sie irgendetwas von dir erfahren?«

Der Kopf der jungen Frau ruckte hoch. Sie starrte Hawk mit angstgeweiteten Augen an. »Nein, nichts! Ich schwöre es, Hawk! Ich habe kein Wort gesagt!«

»Gut.« Hawk machte sich keine Illusionen. Wäre Arzu den Folterknechten der Sommertruppen in die Hände gefallen, hätte sie geredet. Alle Mitglieder der Führungsriege von Crimson Flower waren darauf eingestellt, für ihre Überzeugung zu sterben, doch systematische Folter brachte selbst die abgebrühtesten Veteranen zum Reden. Aber mit den Sklavenhändlern hatte Arzu zweifelhaftes Glück gehabt. Wenn sie sagte, dass sie nichts verraten hatte, dann glaubte er ihr, wie Resul es offensichtlich auch tat. Sie gehörte zum inneren Kreis. Sie hatte sein Vertrauen verdient.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Anwesenden zu. »Welche Neuigkeiten gibt es aus den Stammesgebieten?«, fragte er.

»Nichts Neues«, antwortete ein Mann mittleren Alters. »Aber wir stehen in Kontakt. Kinu?«

Die Rjtak verneinte. »Ich habe seit Monaten nichts mehr gehört.«

Hawk schürzte die Lippen. Nicht zu ändern. »In Ordnung. Hat jemand Nachrichten aus dem Winterreich?«

Eine Frau nickte. »Die Winterrebellen halten weiterhin die Stellung, und die Frühlingskönigin hat eine neue Flotte losgeschickt.«

»Obwohl der Winter kommt?«, fragte jemand.

»Offensichtlich kümmert es sie nicht, wie viele Schiffe sie verliert. Aber diese Offensive wird die letzte vor den Winterstürmen sein.«

»Das bedeutet, die Königin wird uns mehr Aufmerksamkeit schenken können«, bemerkte Resul.

Hawk hatte dasselbe gedacht.

»Aber erst nach der Sturmpause«, warf Arzu ein.

»Das heißt nicht, dass ihre Planungen bis dahin ruhen«, gab Hawk zu bedenken. Wie er die Königin kannte, hatte sie mehr als einen Trumpf im Ärmel. Sie mussten auf der Hut sein.

»Der Winterkönig hält sich nach wie vor zurück«, schloss die Frau ihren Bericht. Hawk war nicht überrascht. Der Winterkönig war der Frühlingskönigin und der Marine militärisch unterlegen, selbst wenn sich die Wintergarde mit den Rebellen zusammenschloss. Er konnte allerdings nicht abschätzen, wie lange die Situation im Norden noch so bleiben würde, bevor sie endgültig eskalierte. Er hoffte, dass die Winterrebellen weiterhin dem Ansturm der Marine standhielten. So bestand die Chance, dass sich Crimson Flower mit den Winterrebellen verbünden konnte, falls sie irgendwann gegen die Frühlingskönigin ziehen sollten. Aber das lag noch in weiter Ferne. Der Sommerrat war ihr dringlichstes Problem und erstes Ziel.

»Wie steht es mit den Wasservorräten im Osten?«, erkundigte Hawk sich ernst.

»Auf Cormorant Island kümmert sich Drachenkaiser Viper um Nachschub. Auf dem Kontinent sieht es schlecht aus. Loroch und Zwyn sind fast komplett trocken«, antwortete Hadi, einer ihrer stärksten Kämpfer, der Resul auf allen Reisen begleitete.

»Loroch und Zwyn?« Das waren zwei der größten Siedlungen im Osten des Kontinents. Hawk seufzte. Schlechte Nachrichten. Sie mussten so schnell wie möglich handeln. »Wie weit sind die Planungen für die Wassertransporte?«, fragte er Resul.

»Die erste Sandschlitten-Karawane ist bereits auf dem Weg.«

»Sehr gut.«

»Was macht der Rat?«, fragte Resul im Gegenzug.

»Ich bin seit einigen Wochen nicht mehr in Phoenix gewesen, aber beim letzten Mal konnten sie sich noch nicht einmal darüber einig werden, ob sie überhaupt etwas gegen uns unternehmen wollen. Die Truppen werden wie immer zum Winter in Phoenix und Port Gallowsway zusammengezogen. Es gibt ein paar vielversprechende Neulinge, die inzwischen mit dem Training angefangen haben dürften.«

»Meinst du, wir können von ihnen welche rekrutieren?« Hadi dachte wie immer voraus.

»Wenn wir es geschickt anstellen, ja. Aber wir sollten noch ein paar Wochen warten.« Hawk blickte in die Runde. »Sobald ich in Phoenix ankomme, werde ich einen Bericht über die Hafenstädte an der Westküste abliefern, in dem ich davon erzähle, dass alle Sklaven unschädlich gemacht wurden. Der Spähtrupp, der bei mir war, wird diesen Bericht bestätigen, weil sie glauben, dass sie genau das gesehen haben. Seht zu, dass ihr die Sklaven so schnell wie möglich vom Kontinent wegbringt.«

Arzu tauschte einen Blick mit Kuni. »Wir werden uns darum kümmern.«

»Wir haben die Sklaven aus den Transporten im Süden in die Stammesgebiete gebracht. Die Rjtak sind einverstanden, sie bis zum Frühling aufzunehmen«, fügte Hadi hinzu.

»Ich weiß, ich bin bereits verständigt worden«, sagte Hawk. »Das Wichtigste ist jetzt, dass wir uns auf den Sommerrat konzentrieren und dabei der Frühlingskönigin aus dem Weg gehen. Wir müssen hoffen, dass die Winterrebellen sie noch bis zu den Winterstürmen beschäftigen.«

»Was sagen unsere Gruppen an der Westküste?«, fragte Hadi.

Hawk dachte an seine letzten Treffen. »Sie sind bereit. Wir werden den Sommerrat dieses Jahr während der Winterstürme stürzen können.«

Hadi nickte zufrieden. Auf Arzus entstelltes Gesicht stahl sich ein Lächeln.

»Im Hinblick auf die Pläne sehe ich übrigens noch eine Reihe von Problemen«, sagte Resul.

Hawk machte es sich auf seinem Stuhl bequem. »Also gut. Lass hören.« Es würde ein langer Nachmittag werden.

• 13 •

Stimmengewirr und Gelächter drangen aus dem Schankraum in die Küche, wo Lynx mit routinierten Handgriffen das Essen zubereitete. Der White Dragon war wie immer bis auf den letzten Platz besetzt und Mitsu hatte heute frei. Ferry hatte sie kurz zuvor abgeholt. Heute Abend hatte er endlich den Mut aufgebracht, mit ihr auszugehen. Er hatte mit einer weißen Pfeffernelke, einem hochroten Kopf und einem etwas dümmlichen Grinsen auf sie gewartet. Lynx konnte sich nicht daran erinnern, Mitsu jemals so glücklich gesehen zu haben.

Sie dachte an die Nachricht, die Ferry außerdem für sie dabeigehabt hatte. Varg hatte sie geschickt, zusammen mit einem Strauß Feuerlilien. Varg, der merkwürdige, geheimnisvolle Varg, der in der letzten Zeit so oft bei ihr im White Dragon gewesen war. Jetzt war er schon seit über einer Woche nicht mehr aufgetaucht, und heute brachte Ferry Vargs Entschuldigung, dass er in nächster Zeit nicht kommen würde. Was er wohl trieb? Lynx machte sich ein wenig Sorgen. Sie erinnerte sich nicht, wann sie das letzte Mal so viel Kontakt zu einem anderen Drachen gehabt hatte. Varg hatte recht, es gab nicht mehr viele von ihnen. Nicht seit Beginn der Drachenjagden vor achthundert Jahren, noch vor ihrer Geburt. Drachen waren nie besonders zahlreich gewesen, wenn man den Legenden Glauben schenken durfte.

»Kajin!«

Sakuras Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. Das Mädchen kam durch die Schwingtür zum Schankraum, die Arme voll mit dreckigem Geschirr. »Wir müssen die Bestände für die obere Bar aufstocken!«, rief sie Lynx über die Schulter zu.

»Ich kümmere mich darum. Hakaze?«

Hakaze tauchte lautlos neben Lynx auf, blass und unscheinbar wie immer.

»Lass dir von Sakura sagen, was fehlt. Und sieh nach, was wir noch in den Vorratskammern haben.«

Hakaze nickte und verschwand so still, wie sie gekommen war.

Lynx wandte sich wieder den Töpfen und Pfannen zu. Um sie herum wirbelten die Mädchen, rührten in Töpfen, bereiteten Zutaten vor, wuschen ab, machten Teller zurecht, brachten Tabletts mit Speisen in den Gastraum und kehrten mit noch mehr dreckigem Geschirr zurück. Emsiges Geklapper, helle Stimmen und Gelächter erfüllten die Küche, zusammen mit den Gerüchen der Speisen und leichtem Schweißdunst. Lynx fühlte sich inmitten dieser Betriebsamkeit wohl. Sie liebte es, mit den Mädchen in der Küche zu arbeiten, genauso wie sie es liebte, draußen bei ihren Gästen hinterm Tresen zu stehen. Der White Dragon war ihr Ruhepol, ihre Oase in Autonne Gale, dieser Stadt voll altem Glanz und Verfall.

Vor einigen Tagen hatte es das erste Mal geschneit. Der Schnee war zwar nicht liegengeblieben, aber er hatte klar gemacht, dass der Winter endgültig Einzug gehalten hatte. Nicht mehr lange, dachte Lynx sorgenvoll, und Schnee und Winterstürme würden die Hauptstadt des Herbstreiches wieder in ihre eisigen Fänge nehmen. Die Winter auf den Herbstinseln waren stets hart und lang, wenn auch nicht so extrem wie auf den Winterinseln hoch im Norden. Doch dieses Mal würden sie Probleme bekommen. Die ohnehin schon karge Ernte war bei der anhaltenden Feuchtigkeit verfault, die Wälder, in denen sonst gejagt wurde, waren versumpft. Bis vor knapp einer Woche hatten sich starke Winde und sintflutartige Regenfälle abgewechselt, und jetzt kam auch noch der Schnee.

Besorgt dachte Lynx an die zu Neige gehenden Vorräte in der Stadt. Das Wetter hatte dafür gesorgt, dass die Schiffe der großen Handelsflotten erst spät oder gar nicht eingetroffen waren, und so waren die meisten Getreidelieferungen von den Frühlingsinseln im Osten ausgeblieben. Noch konnten sie das Fehlen des Getreides mit Nussmehl ausgleichen, das aus Früchten der Wälder des Herbstreiches gewonnen wurde. Doch schon jetzt waren Getreide und Mehl fast ihr Gewicht in Cœurs wert. Lynx hatte ausreichende Rücklagen, um über den Winter zu kommen, aber danach würde es schwierig werden. Für die meisten anderen Einwohner von Gale sah es anders aus, vor allem, da die alljährlichen Steuererhöhungen um Mittwinter noch bevorstanden. Sie waren abhängiger denn je von den Launen der Frühlingskönigin, die jedes Jahr die Steuern in neue Höhen trieb. Die Königin war nicht das offizielle Oberhaupt des Herbstreiches, aber der Herbstkönig war nichts weiter als eine Marionette in ihrem Kabinett – sie ordnete an, die Schergen des Herbstkönigs führten ihre Befehle aus. Der Herbstkönig war eine traurige, heruntergekommene Gestalt, weltfremd und halb verrückt vor Angst. Soweit Lynx wusste, hatte er Crown's End seit Jahren nicht mehr verlassen. Er würde nichts gegen die drohende Hungersnot unternehmen, denn nichts anderes war es, was Autonne Gale bevorstand. Lynx schauderte, wenn sie an die Leute dachte, die diesen Winter nicht überstehen würden. Wer in Gale lebte, hatte wenigstens noch eine Chance, aber die Leute in den kleineren, abgelegeneren Orten …

»Kajin.«

Lynx zwang sich, ihre Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückzulenken. Hakaze stand neben ihr und Lynx fragte sich, wie lange sie ihren Gedanken nachgehangen hatte.

Sie schenkte Hakaze ein freundliches Lächeln. »Wie sieht es aus?«, fragte sie das Mädchen. »Haben wir noch alles, was wir für die obere Bar brauchen?«

Hakaze nickte stumm.

»Hervorragend! Kannst du die Sachen nach oben bringen?«

Hakazes »Ja« war kaum vernehmlich, ehe sie verschwand.

Lynx' Blick fiel auf Vargs Feuerlilien, die eines der Mädchen in eine Vase gestellt hatte. Warum schickte Varg ihr Blumen? Ihr fiel plötzlich ein, dass Ferry noch etwas gesagt hatte. Varg hatte ausrichten lassen, sie würde die Bedeutung der Blumen erkennen. Lynx starrte den Strauß an. Welche Bedeutung hatten Feuerlilien?

Sakura steckte den Kopf in die Küche. »Kajin, kannst du uns draußen helfen?«

»Ich komme«, sagte sie und sah sich um. »Schafft ihr das hier ohne mich?«, fragte sie in die Runde. Die Küchenmannschaft bejahte einhellig. Lynx wechselte ihre Küchenschürze gegen die weiße Rüschenschürze aus, die sie im Ausschank trug, und löste ihren geflochtenen Zopf, sodass ihr Haar in moosgrünen Kaskaden über Rücken und Schultern fiel. Dann griff sie nach der Vase mit den Feuerlilien und verließ die Küche.

Eine Weile war sie ganz und gar eingenommen von dem Geschehen an der Bar und im Schankraum. Handwerker, Händler, Soldaten, Tagelöhner, Fabrikbesitzer – es machte keinen Unterschied, wer sie waren, woher sie kamen, ja, es machte noch nicht einmal einen Unterschied, welchem Volk sie angehörten: Hier waren sie einander so ähnlich wie an keinem anderen Ort im Herbstreich. Ihr Wirtshaus war für sie alle neutraler Boden. Lynx staunte immer wieder darüber, was ein wenig Tintenmagie bewirkte. Die wenigsten Gäste bemerkten beim Eintreten die verblassten Schriftzüge auf der Schwelle und dem Türrahmen. Lynx würde die Zauber bald wieder erneuern müssen.

Die Tür zum Dragon öffnete sich und eine Gruppe Leute trat ein. Lynx stutzte, dann richtete sie sich erwartungsvoll auf. Während sich die anderen zurückhielten, kam eine Frau zur Bar und legte unauffällig ein Siegel auf den Tresen. Headhunter. Lynx hatte sich nicht geirrt. Warum hatte sie bis jetzt nicht gewusst, dass sie in der Stadt waren? Sie betrachtete das Siegel, ehe sie kurz den Kopf senkte und die Frau es wieder einsteckte.

Lynx suchte den Blick der Frau. »Willkommen im White Dragon.«

Die Frau erwiderte ihren Gruß mit einem Lächeln.

Lynx ging an dem Regal hinter der Bar vorbei und zur Treppe hinüber. In dem hellen Paneel daneben verbarg sich eine Tür, die Lynx mit geübten Handgriffen öffnete. Die Headhunter traten nacheinander ein.

Lynx wollte gerade die Tür hinter ihnen schließen, als ihr Blick auf den letzten der Headhunter fiel. Er schlug seine Kapuze zurück und sein Haar kam zum Vorschein. Es war kurz geschnitten und stand unordentlich strubbelig von seinem Kopf ab, wie es in Primavera Melody gerade Mode war. Doch die Frisur war es nicht, die Lynx stocken ließ. Es war die Farbe des Haares: Es war blau, ein helles, kaltes Eisblau. Jeden Augenblick erwartete Lynx, dass ein frostiger Windstoß aufkam und sich an den Haarspitzen Eiskristalle bildeten.

Als hätte er ihren Blick bemerkt, drehte der Mann sich im Dunkel des Durchgangs um. Seine Augen glommen in einem tiefen, dunklen Rot auf. Es waren die Augen eines Dämons und doch ganz anders. Der Fremde grinste, als er Lynx' Augen in einem tiefen Bernsteingold aufleuchten sah. Lynx fuhr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Dann folgte der Fremde den anderen Headhuntern, die längst den Raum am Ende des Durchgangs erreicht hatten. Das Letzte, was Lynx sah, ehe er um die Ecke bog, waren die polierten Griffe zweier Pistolen, die unter seinem schwarzen geöffneten Mantel hervorlugten.

Gedankenverloren schloss sie die Tür und kehrte zur Theke zurück. Sie würde Hakaze mit den üblichen Getränken und Anweisungen nach hinten schicken. Am besten sagte sie ihr, dass sie den blauhaarigen Fremden besonders im Auge behalten sollte.

Ihr Blick fiel auf den Blumenstrauß, den Varg ihr hatte bringen lassen. Plötzlich fiel ihr auch der Name ein, unter dem die Feuerlilien früher bekannt gewesen waren: Drachenköpfchen. Bei der bizarren Form der Blüten und der roten Farbe überraschte es Lynx, dass dieser alte Name in Vergessenheit geraten war. Und Varg war davon ausgegangen, dass sie die Bedeutung der Blumen kannte … Unwillkürlich sah Lynx zu der verborgenen Tür neben der Treppe hinüber.

Drachenköpfchen. Hatte Varg sie warnen wollen? Etwa vor ihm? Aber woher hatte er gewusst, dass der blauhaarige Fremde in der Stadt war? Mit einem Finger strich sie über die verschlungenen Blütenkelche.

Feuerlilien …

Oder hatte er ihr etwas anderes mitteilen wollen? Sie wurde aus Varg einfach nicht schlau. Kopfschüttelnd kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück und ließ sich einmal mehr vom Lärm des Dragon verschlucken.

11,99 €