Buch lesen: «Gegen die Vergangenheit», Seite 4

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Er zitierte ihn in sein Büro, forderte ihn mit leiser Stimme auf, sich zu setzen. Vorher hatte er lange überlegt, ob Schreien besser sein würde, dann jedoch entschieden, dass eine Drohung leise vorgebracht, doch gefährlicher wirke, als wenn er geschrien hätte. Dazu nahm er einen Zettel vom Tisch, deren Bedeutung sein Gegenüber nicht erkennen konnte, dass einzige, was er darauf sah, war der Name, Rachel Goldberg stand in der ersten Zeile dieses Dokuments. Das Blut wich aus seinem Gesicht, kalkweiß starrte er auf die Hand, die ruhig das Blatt hielt.

Dies ist eine Anweisung an die Gestapo, Ihre Frau wegen volksfeindlichem Verhalten in das Konzentrationslager Oranienburg zu überstellen, wenn Sie weiter auf ihrem Ausreiseantrag bestehen, der im Übrigen nie genehmigt wird.

Mit zittriger Stimme, eigentlich war es nur ein Krächzen, fragte er, was hat meine Frau gemacht, weshalb soll sie verhaftet werden.

Innerlich triumphierte er, war jetzt ganz ruhig, er hatte ihn dahin manövriert, wo dieser Jude keinen Ausweg mehr sah, nun musste er ihm nur noch den letzten Funken von Hoffnung nehmen. Ihre Frau hat, eine jüdische Creme an arische Geschäfte geliefert und verkauft, ohne dass diese als jüdisch gekennzeichnet war. Ihre Frau hat deutsche Frauen betrogen, sollte er ihm sagen, dass auch Ilse diese Creme benutzte. Mit hohntriefendem Spott fuhr er fort, nach geltendem deutschem Recht gibt es dafür nur eine Strafe, mehr brauchte er nicht hinzufügen.

Interessiert sah er auf seinen Juden, Tränen liefen ihm über das Gesicht, während seine Schultern, nach vorne sanken. Dann begannen diese in dem Rhythmus zu beben, wie sein gesamter Körper durch den Weinkrampf geschüttelt wurde. Er gab ihm Zeit, er war sicher, dieser war intelligent genug, um von selbst auf die Lösung des Problems zu kommen, wenn er sich seiner Ausweglosigkeit bewusst geworden war.

Die Frage war durch das Schluchzen fast nicht zu verstehen, erst als er den fragenden Blick sah, wiederholte er mit gefassterer Stimme, was verlangen Sie von mir, was soll ich tun.

Aber Sie wussten doch genau, dass Sie nicht von ungefähr so ungefährdet forschen können, ohne dass eines Tages eine Rechnung auf Sie zukommt. Es muss Ihnen doch bewusst gewesen sein, dass ich Ergebnisse aus meiner Duldung erwarte. Bis heute haben Sie mir weder den tatsächlichen Stand ihrer Forschung mitgeteilt, noch haben Sie mir genau gesagt, in welchen Stadium ihrer Forschung Sie sich gerade befinden.

Ich gebe Ihnen alle meine Unterlagen, die Ergebnisse meiner Versuchsreihen, alles, woran ich geforscht habe, sowie alle meine Ergebnisse, wenn wir ausreisen dürfen. Mit hektischer Stimme fuhr er fort, bei der Erforschung der synthetischen Polymere ist mir ein Durchbruch gelungen. Als er den fragenden Blick sah, dem synthetischen Kautschuk, bei den polychlorierten Biphenylen bin kurz davor. Hoffnungsvoll blickte er auf diesen Helmut Bloch, es konnte doch nicht sein, dass dieser sich so verändert haben sollte.

Als er das harte mitleidlose Aufblitzen in den Augen erblickte, wusste er, dass er sich keine Hoffnung zu machen brauchte, dieser Mann würde niemals zulassen, dass sie ausreisen konnten. Wenn er nicht ausreisen konnte, so wollte er erreichen, dass wenigstens Rachel ausreisen durfte, dafür gab es schließlich einen Grund. Er setzte sich gerade, drückte sein Rückgrat durch, denn nun musste er den Kampf seines Lebens kämpfen, sollte er verlieren, wären sie alle verloren.

Mit der Empfindung, dass es ausschließlich um das Leben von Rachel ging, hatte er wieder die Gewalt über sein Verhalten übernommen, dieser Nazi sollte spüren, dass es nicht einfach werden würde.

Ich werde Ihnen die Ergebnisse meiner Forschung nur aushändigen, wenn meine Frau in ein Land ihrer Wahl ausreisen darf, sollten Sie meine Frau verhaften werden Sie nichts von meinen Ergebnissen erhalten.

Erstaunt blickte ihn Bloch an, hatte dieser kleine Jude eine Wandlung vollzogen, die ihm entgangen war, wie konnte er plötzlich so widerborstig sein. Wollte dieser ihn erpressen, ihm drohen, er würde ihm zeigen wer die Macht hatte seine Forderungen durchzusetzen.

Alle Ergebnisse befinden sich in meinem Kopf, wenn sie meine Frau nicht ausreisen lassen, werden diese auch dort verbleiben, glauben Sie mir, Sie werden nichts erfahren.

Mit einem Mal wirkte dieser Jude so glaubwürdig, dass er keinen Moment zweifelte, dass dieser, was auch immer, etwas wahr machen würde, damit er nicht an die Ergebnisse kam. Nachdenklich beugte er sich über das vor ihm liegende Blatt, es war ein Formular aus der Personalabteilung für die Bewertung von Mitarbeitern, dann hob er entschlossen seinen Kopf.

Ihre Frau hat zwei Tage Zeit das Land zu verlassen, sie darf kein Vermögen mitnehmen, wenn sie nach zwei Tagen noch im Reich ist, wird sie verhaftet. Sie werden mir ihren Pass übergeben, außerdem möchte ich die bisher erreichten Ergebnisse bis morgen in Schriftform, damit ich ein Patent anmelden kann. Außerdem werden Sie die noch nicht beendete Forschung beenden, dieses Ergebnis ebenfalls patentfähig übergeben.

Ruhig stand er auf, sein Ziel, Rachel aus dem Land zu bekommen, war soeben durch diesen Bloch genehmigt worden. Seine Zusagen würde er einhalten, dessen war er zwar nicht sicher, aber noch hatte er ein paar der Trümpfe in der Hand, diese musste er nun geschickt ausspielen. Eine weitere Diskussion war ebenfalls überflüssig, die Art wie er das gesagt hatte ließ keinen Zweifel offen, eine nachträgliche Verhandlung war ausgeschlossen, alles was gesagt werden musste war gesagt.

Ohne Umwege fuhr er nach Hause, seine schwierigste Aufgabe lag noch vor ihm, er musste Rachel überzeugen, das Deutsche Reich, ihre gemeinsame Heimat seit ihrer Geburt, ohne ihn zu verlassen.

Außerdem würde sie ihre Eltern zurücklassen müssen, ihr Vater hatte mehrfach betont, dass er seine Heimat niemals verlassen würde, ihre Mutter hatte nur zustimmend genickt, wobei sie seinen Arm bestätigend gedrückt hatte. Mit großen Augen blickte sie ihn erstaunt an, als er zu dieser ungewohnten Zeit nach Hause kam, erst ein Blick sein Gesicht zeigte ihr, dass etwas Schlimmes ereignet haben musste.

Die Geburtstagsfeier von Fritz fand dieses Mal in seinem neuen Haus in Dahlem statt, dieses hatten sie wieder einmal günstig erwerben können, als ein Industrieller lieber auswandern, als alles verlieren wollte. Dass dieser Industrielle Jude war, musste ein Zufall sein, scheinbar hatten die Juden ihre Fähigkeit, gewinnbringende Geschäfte zu vereinbaren, in letzter Zeit verloren, wie sonst wäre so etwas möglich.

So, oder zumindest so ähnlich hatte sich Elfriede etwas spöttisch geäußert, als der Kaufvertrag über das Anwesen geschlossen wurde.

Als einzige Person hatte er Ilse davon erzählt, ihr seine Patentschrift gezeigt, auf die er so große Hoffnungen setzte, auch die Ausreise von Rachel Levy hatte er erwähnt, die genauen Zusammenhänge allerdings verschwiegen. Sie brauchte nicht zu wissen, dass sein Jude erst nach massiver Drohung bereit gewesen war, sein Wissen preiszugeben.

Fritz nickte anerkennend, als er von der Übergabe erfuhr, hatte aber kein Interesse daran, da er überzeugt war, dass die jüdische Rasse nicht in der Lage war, etwas Sinnvolles hervorzubringen. Die Entwicklung ihrer gemeinsamen Immobiliengesellschaft bereitete ihm allerdings Freude, als er vernahm, dass sie, neben ihren Privathäusern, inzwischen über neun Wohnhäuser in Berlin, drei in Wien sowie eins in Salzburg verfügten. Ein erfreuliches Jahr, in jeder Beziehung, neigte sich dem Ende entgegen.

5. Kapitel

Es ist schön, Dich wiederzusehen, ich bin froh, dass sich jemand bereit erklärt, die Geschichte einer alten Frau anzuhören. Auf die Dauer ist etwas langweilig, wenn man sich immer alles Selbst erzählen muss, weil niemand mehr zuhören möchte.

Alle sagen mir, es ist doch so weit weg, ich soll doch endlich vergessen. Das Einzige, was fehlt, sie haben noch nicht gesagt ich soll an die Zukunft denken, dabei lächelte sie, als hätte sie gerade etwas Lustiges erzählt.

Wahrscheinlich zeigen sie heimlich mit dem Finger auf mich, dann sagen sie verschwörerisch, hör nicht auf das, was die Alte erzählt, die lebt doch nur in der Vergangenheit. Traurig sprach sie weiter, sie haben alle recht, in meinem Alter hat man keine Zukunft, da ist alles, was noch bleibt, die Vergangenheit. Aber bevor ich mich in Melancholie verliere, erzähle ich Dir lieber, wie es damals weiter ging.

Vor uns lag das Jahr neunzehnhundertachtunddreißig, das vielleicht letzte Jahr in dem Land unserer Väter und Großväter, in dem Land, in dem wir geboren wurden. Hätten wir gewusst, was auf uns zukommt, wir wären geflohen, ohne uns auch nur einmal umzuwenden. Ohne Zorn hätten wir alle materiellen Güter zurückgelassen, wären zufrieden gewesen, mit dem nackten Leben davonzukommen.

Fast im Wochenrhythmus wurden Gesetze und Verordnungen erlassen, die uns Juden das Leben im Deutschen Reich erschwerten, oder sogar unmöglich machten. Bereits zu Beginn des neuen Jahres wurden neue Schutzhaftbestimmungen eingeführt, damit hatte die Gestapo das Recht, ohne Angabe von Gründen Leute zu verhaften und in einem Konzentrationslager einzusperren.

Plötzlich verschwanden Nachbarn, die man noch am Tag vorher auf der Straße getroffen hatte, nachts wurden Wohnungstüren aufgebrochen, die Leute verhaftet und weggebracht. Nachbarn, die einem am Tag vorher noch Mehl oder Zucker geborgt haben, verschwanden aufs Nimmerwiedersehen. Keiner konnte oder wollte etwas sagen, was mit diesen Leuten geschehen ist, wohin man sie gebracht hat, alle hatten sie Angst, als Nächste abgeholt zu werden.

Wir hatten deutsche Nachbarn, die uns gewarnt haben, wenn sie etwas gehört hatten, dass nachts die Gestapo wieder ins Haus kommt. Aber es gab auch andere, die vor uns ausgespuckt haben, wenn sie uns gesehen haben. Nachts war es noch schlimmer, das Haus zu verlassen, wenn die braunen Horden betrunken waren, dann wurden wir angepöbelt geschlagen und ausgeraubt. Die Polizei, wenn sie mal zufällig in der Nähe war, guckte beiseite, hat nie eine Straftat gesehen, die gegenüber einem Juden verübt wurde.

Wenn wir nachgefragt haben, wo unsere Nachbarn geblieben sind, hat man sich unsere Namen notiert, man konnte sicher sein, dass man als Nächstes auf der Liste stand. Als offizielle Auskunft wurde etwas von volks- und staatsfeindlichen Personen gemurmelt, manchmal wurden wir direkt gefragt, ob wir wollten, dass uns auch die Geheime Staatspolizei besucht.

Die Angst, die in unserer Gemeinde herrschte, wurde immer größer, desto weniger wir wurden. Jeder Morgen, den wir in unserem Bett aufwachten, wurde zu einem Festtag, wieder hatten wir eine Nacht ohne Verhaftung überstanden.

Ephraim hatte irgendwann, ich glaube es war Februar oder März, Zahnschmerzen bekommen. Als zu unserem Zahnarzt ging, sagte dieser ihm, dass er ihn nicht mehr über seine Krankenkasse behandeln dürfe, er müsse ihm leider eine Rechnung schreiben. Das war Ephraim egal, er hatte Zahnschmerzen, hatte wieder einmal zu lange gewartet, aber nun wollte er behandelt werden.

Die Krankenkasse hatte dem Zahnarzt, ebenso wie anderen jüdischen Ärzten einfach die Zulassung für die Behandlung von Kassenpatienten entzogen, weil angeblich bei ihm keine Gewähr für rückhaltloses Eintreten ihres faschistischen Staates bestand.

Die Repressalien wurden von Woche zu Woche schlimmer. War es in der einen Woche der Zahnarzt, der nicht mehr praktizieren durfte, wurden in der nächsten Woche Kunstwerke von der Gestapo beschlagnahmt, weil sie angeblich entartet waren. Viele Freunde hatten sich Bilder oder Statuen gekauft, weil sie ihre Wohnung dekorieren wollten. Sie hatten zum Teil viel Geld dafür bezahlt, nun wurden ihnen diese Sachen weggenommen, einfach beschlagnahmt, weil wieder einmal ein neues Gesetz dies vorsah.

Aus unserer Gemeinde waren viele Mitglieder bereits, kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, nach Österreich ausgewandert. Es war ähnlich wie zu Hause, die Sprache war gleich, es gab keine Verständigungsprobleme. Sie hatten begonnen, sich neu einzurichten, neue Geschäfte oder eine Arztpraxis zu eröffnen, hatten sich eingelebt, begannen langsam ihre Schulden, die viele für ihr neues Geschäft gemacht hatten, zurückzuzahlen.

Jetzt folgten ihnen die Nazis nach Österreich, wieder packten viele ihr Sachen, die sie zum Teil erst seit Kurzem ausgepackt hatten, verließen ihre neue Heimat. Einige dieser Betroffenen habe ich später in der Schweiz aber auch hier in Israel getroffen. Sie haben mir ihr Leid geklagt, haben, nachdem sie zum zweiten Mal alles verloren haben, wirtschaftlich nie wieder Fuß fassen können.

Eigenartigerweise, ich habe das damals nicht verstanden weshalb, blieben Ephraim und ich, aber auch meine Eltern von Übergriffen verschont. Manche betrachteten uns bereits mit Skepsis und Argwohn, wenn wieder einmal in der Synagoge von den Übergriffen gesprochen wurde, wir aber nichts dazu beitragen konnten.

Es waren zwiespältige Empfindungen und Gefühle, die mich damals überfallen hatten. Einerseits war ich froh, dass alle meine Lieben verschont wurden, andererseits war es mir unangenehm zu sehen, wie Freunde und Nachbarn mit Schürfwunden oder Schlimmerem zum Beten kamen.

Es gab Tage, da habe ich mich dafür geschämt, dass wir verschont wurden, dass wir von den Leiden ausgenommen wurden, als wären wir Freunde oder Verbündete dieses Regimes. Damals habe ich oft gegrübelt, warum wir wie unter einer Glashaube sitzend, all die Ungerechtigkeiten und Verbrechen sehen konnten, ja sogar mussten, während alles an unserer Kuppel abprallte uns vor diesen Verbrechen schützte.

Wir konnten relativ ungehindert unsere Geschäfte weiter betreiben, haben weiterhin unsere Naturkosmetik an unsere Abnehmer geliefert. Natürlich wechselten diese immer wieder, wenn etwa jüdische Apotheken oder Drogerien geschlossen haben, weil die Besitzer ausgewandert oder von einem Tag auf den anderen Tag verschwunden sind. Aber auch bei deutschen Abnehmern, begann sich plötzlich ihr arisches Gewissen zu regen, dann verbannten sie ohne Ankündigung alle jüdischen Waren aus ihrem Geschäft.

Inzwischen kauften aber so viele Frauen unsere Kosmetik, dass wir auch wieder neue Abnehmer fanden, deren Gewissen, durch das Geld, dass sie verdienen wollten, sich weniger stark regte. Wir leisteten uns nur noch das Nötigste, alles Geld, was wir nicht für die Herstellung der Kosmetik oder die Rohstoffe für Ephraims Forschung benötigten, ließen wir in die Schweiz schmuggeln.

Leider war auch dieses schwieriger geworden, inzwischen mussten wir immer einen Teil des Geldes für die Bestechung der Zöllner aufwenden. Trotzdem sparten wir unverdrossen für eine bessere Zukunft, die irgendwann kommen musste. Es konnte doch nicht sein, dass ein ganzes Volk nicht erkannte, dass dieser Hitler verrückt war.

Es sollte noch schlimmer kommen, sogar die Führer der westlichen Welt, Mister Chamberlain und dieser Franzose Daladier ließen sich an einem Nasenring durch die Manege führen, ohne zu merken, dass dieser sie nur gegenseitig ausspielte. Oh ja, man sprach von den hehren Zielen, weil man den drohenden Krieg abgewendet hatte, dabei übersahen sie, dass es ihre Schwäche war, die ihn stark machte.

Letztendlich waren wir Juden sowieso nur noch Handelsware, die keiner wollte, alle versuchten zu verhindern, dass wir in ihr Land kommen. Wo es noch möglich war, tauchten bald die Nazis auf oder die dortigen Regierungen erließen Gesetze, die eindeutig gegen uns gerichtet waren.

Das einzige Interesse der Nazis an uns Juden betraf nur das Vermögen der jüdischen Kaufleute. Das ging so weit, dass wir alle unsere Vermögen anmelden sollten, auch die Vermögen, die sich im Ausland befanden. Wir haben nur unser kleines Vermögen angegeben, welches aus ein paar Reichsmark bestand, als zusätzliche Wertgegenstände gaben wir unsere Eheringe an. Alles andere wussten sie nicht, sollten es nicht erfahren, so blieben mir wenigstens unsere Ersparnisse, als ich damals ausreisen musste.

Wie verrückt die Zeit damals war, kannst Du daran ermessen, dass sie den jüdischen Ärzten ihre Approbation entzogen, ihnen damit die Möglichkeit genommen wurde, weiter als zugelassene Ärzte zu arbeiten. Sie durften offiziell nur jüdische Patienten als Krankenbehandler behandeln, sie waren von heute auf morgen keine Ärzte.

Was sie übersehen hatten, war, dass viele von diesen genetisch so bevorzugten Ariern, lieber zu einer jüdischen Kapazität gingen, als sich von einem arischen Pfuscher krank machen zu lassen. Auch sehr viele Nationalsozialisten in führenden Positionen gingen zu einem jüdischen Krankenbehandler, wenn sie tatsächlich krank wurden.

Es muss im Oktober gewesen sein, als ich mit Ephraim darüber gesprochen habe, dass wir ausreisen sollten, Anlass war, dass plötzlich ein rotes J in unseren Ausweis gestempelt wurde. Das war bereits die zweite gravierende Änderung, die darauf hinweisen sollte, dass wir Juden sind, damit an den meisten Grenzen zurückgewiesen werden konnten. Etwa zwei Monate vorher sollten alle Juden, die keinen jüdischen Namen hatten, unbedingt den Zusatz „Sara“ oder „Israel“ hinzufügen.

Ephraim sagte, wir sollten uns darauf vorbereiten, dass wir im nächsten Jahr ohne großes Aufsehen ausreisen werden, da er seine Grundlagenforschung bis dahin so weit beendet haben würde. Die weitere Forschung bis zur Fertigstellung könne er auch an anderer Stelle, in einem anderen Labor beenden. Er sagte mir, dass wir nur die wichtigsten Dinge mitnehmen dürften, nur das, was wir in einer kleinen Tasche unterbringen können, da er glaubte, dass er nicht so ohne Weiteres ausreisen durfte.

Ihre Stimme klang jetzt, nach so vielen Jahren immer noch so belegt, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Tröstend fuhr er ihr über ihren Arm, wobei er das Beben ihres gesamten Körpers spürte.

Wir hatten für uns eine kleine Nische geschaffen, in der unsere Liebe weiter wachsen und stetig steigen konnte. Die anfängliche Gegenwehr seiner Eltern hatte sich durch ihre Auswanderung erübrigt, meine Eltern hatten sich mehr ihrem Glauben zugewandt. Für sie waren wir Gottlose, nicht ganz so schlimm wie die Nationalsozialisten, aber viel hat nicht gefehlt.

Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, es gab auch fröhliche Tage, Tage die nicht enden sollten so glücklich war ich. Ephraim hat diese Tage immer unsere besonderen Tage genannt, weil es uns gelungen war, alles, was böse war auszusperren. Keine Wut, kein Hass, Zorn, Neid, Missgunst sollten an diesen Tagen nicht über unsere Schwelle oder in unsere Gedanken eindringen.

Aber alles sollte anders kommen, ein paar Tage später wurden wir von Gerüchten aus unserer Gemeinde überrascht, dass angeblich polnische Juden nach Polen ausgewiesen werden sollen. Unabhängig davon, wie lange sie bereits im Reich gelebt hatten, manche lebten bereits mehr als dreißig Jahren in diesem Land. Es wurden auch keine Ausnahmen gemacht für die Leute, die im Ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich gekämpft hatten oder deren Kinder hier geboren wurden. Gottseidank war keiner unserer Freunde oder ein Mitglied unserer Gemeinde dabei.

Aber stelle Dir vor, Du lebst ein Leben lang in einem Land, kämpfst für dieses Land, zahlst Steuern in diesem Land. Dann wirst Du eines Morgens geweckt, man eröffnet Dir, dass Du hier unerwünscht bist, gehe dahin, wo Du geboren wurdest, vergiss aber nicht, Deine Kinder mitzunehmen.

Ich habe die Vorgänge und die Auslöser für die schlimmste Nacht in meinem Leben erst sehr viel später erfahren, trotzdem sollst Du sie hören, um den Zusammenhang zu verstehen. Einer dieser Betroffenen war ein siebzehnjähriger Junge, der illegal in Paris lebte, dessen Name Herschel Grynszpan lautete. Seine Eltern gehörten zu den Juden, die ausgewiesen werden sollten, obwohl sie schon ewig im Deutschen Reich lebten. Seine Schwester hatte ihm davon geschrieben und ihn gebeten, ob er nicht etwas für sie tun kann, um die Ausweisung zu verhindern. Offensichtlich war er dazu nicht in der Lage, sodass er wohl aus Verzweiflung einen Revolver gekauft hat, um am siebten November auf einen Angestellten der deutschen Botschaft zu schießen.

Gerüchteweise kam mir zu Ohren, dass die beiden ein Verhältnis gehabt haben sollen, aber dass ist eigentlich unwichtig, es hatte bestimmt nichts mit dem Anschlag in der Botschaft zu tun. Durch den Schuss, oder waren es mehrere, ich kann mich nicht erinnern, glaube, aber dass es nur einer war. Mehrere Schüsse hätten ja bedeutet, dass nicht Verzweiflung, sondern Wut der Antrieb dafür gewesen ist. Der Angestellte wurde durch den Schuss so schwer verletzt, dass er zwei Tage später in einem Krankenhaus gestorben ist.

Es war ein Mittwoch dieser neunte November, den Tag den ich mein ganzes Leben nicht vergessen habe, bei dem mir jedes Jahr, wenn ich auf den Kalender sehe, das gesamte Grauen wieder vor Augen steht.

Ich war an diesem Tag allein auf den Weg zur Synagoge, da ich wusste, dass Ephraim an diesem Tag eine wichtige Versuchsreihe im Labor beenden wollte. Aus diesem Grund hatte ich mich mit Rabbi Weizenbaum für diesen Abend verabredet, weil ich ihn um Rat fragen wollte.

So gegen sieben Uhr am Abend kam ich zu der Synagoge, wo Rabbi Weizenbaum schon auf mich wartete, da seine vorherige Verabredung früher als erwartet beendet war. Zuerst habe ich es nicht gewagt, meine Sorgen direkt anzusprechen, sodass wir uns zuerst über Gemeindemitglieder unterhalten haben, was diesen in den letzten Tagen zugestoßen war. Er erzählte mit von dem Leid, welches er täglich erlebte, wenn wieder eine Familie in der Nacht abgeholt wurde, man trotz vieler Versuche, selten deren Aufenthaltsort ermitteln konnte.

Von den Gläubigen, die Hab und Gut verloren hatten, weil vor ihrem Geschäft SS oder SA-Angehörige verhinderten, dass Kunden ihr Geschäft betreten konnten, von den Lebensmitteln die verdarben, weil keiner kaufen durfte. Von den Juden, die am Sabbat auf dem Weg zur Synagoge gestoßen, getreten und verprügelt wurden, die sich nicht mehr aus ihrer Wohnung trauten, weil sie Angst vor Misshandlungen hatten.

Nachdem er sein Leid losgeworden war, fragte er mich, was mich zu ihm geführt habe, was ich mit ihm besprechen will. Ich erzählte ihm, dass er der Erste ist, der es erfährt, aber ich sei schwanger, ich erwarte ein Kind von Ephraim.

Ich konnte die Freude in seinen Augen sehen, so sehr hat er sich für mich gefreut.

Sei froh, dass Dir etwas so Wunderbares widerfährt, mein Kind, sagte er. Dann sagte er noch, nichts soll Dir die Freude an dem Kind nehmen, Du musst es unbedingt Ephraim erzählen.

Ich erzählte ihm von meiner Angst, hier in diesem Land, in diesem vergifteten Klima ein Kind zu bekommen, dessen Zukunft so ungewiss so unvorhersehbar ist.

Es wird sich ändern, es muss sich ändern, auch sie sind Christen, auch wenn derzeit die Nächstenliebe nicht an vorderster Stelle steht. Sein Trost, aber auch seine Freude, in absehbarer Zeit ein neues Gemeindemitglied zu bekommen, nicht wie zu jener Zeit üblich, Gemeindemitglieder auf unterschiedlichste Art und Weise zu verlieren, hatten mich wieder etwas beruhigt.

Ich sagte ihm, dass ich Ephraim heute Abend von dem Kind erzählen wollte, welches in mir wuchs, dessen Vater er war, als plötzlich laute Geräusche vor dem Eingang der Synagoge zu hören waren. Er hat seine Hand auf meinen Arm gelegt, wahrscheinlich hatte er die Angst in meinen Augen gesehen, um mich zu beruhigen. Dann sagt er zu mir, ich soll zu dem Seitenausgang gehen, da kann ich den Eingangsbereich der Synagoge sehen, wenn es ungefährlich wird, dann soll ich schnell nach Hause gehen.

Als ich zum Eingang blickte, habe ich unterschiedliche braune Unformen von Angehörigen der Sturmabteilung als auch der Schutzstaffel gesehen, die anfingen, die Synagoge zu beschädigen. Dann konnte ich sehen, wie die Tür aufging, wie Rabbi Weizenbaum hinaustrat, dann die Leute aufforderte, damit aufzuhören. Die meisten ließen sich davon nicht abhalten, es war ihnen gleichgültig, was Rabbi Weizenbaum sagte, im Gegenteil, einige begannen ihn zu stoßen und zu schubsen.

Er versuchte sich zu wehren, dabei die Synagoge mit seinem Körper zu schützen, damit die Schäden nicht so groß werden. Als ich gesehen habe, wie ein junger Mann in brauner Uniform ein Stück Holz hervorholte, woher er dieses genommen hat, ich habe es nicht gesehen, dann schlug er auf Rabbi Weizenbaum ein. Er schwankte, ich konnte das Blut sehen, wie es über sein Gesicht lief, als dieser blonde Mann erneut ausholte und mit aller Kraft zuschlug. Rabbi Weizenbaum sank zu Boden, als dieser noch ein drittes Mal zuschlug, sich lachend die Haare aus den Augen wischte, dabei etwas zu seinem Nachbarn sagte, der daraufhin ebenfalls lachte.

Ich stand wie betäubt an dem Seitenausgang, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie ein Polizist sich wegdrehte, als würde er nichts sehen. Er hatte die ganze Zeit in einer Nische gestanden, alles beobachtet aber nicht eingegriffen, als sie Rabbi Weizenbaum umgebracht haben. Meine Beine waren wie gelähmt, ich stand da blickte auf das Unwirkliche, was da geschah, ich konnte nicht verstehen, wie so etwas möglich ist.

Auch einige Passanten hatten sich eingefunden, feuerten die Mörder und Brandstifter an, während sie zusahen, was da passierte. Mich hat das so erschreckt, dieses morbide Interesse hatte nichts Menschliches, es waren Wesen die andere, Andersdenkende zerfleischten.

Mit den Anfeuerungen fühlten sich die braunen Verbrecher aufgefordert und animiert noch mehr zu tun. Also zündeten sie unterschiedliche Gegenstände an, die sie in die Synagoge warfen, wobei sie diese nicht betreten haben, so als hätten sie Angst, weil sie ein Gotteshaus zerstörten.

Als die Synagoge lichterloh brannte, johlten sie, schlugen sich gegenseitig auf die Schulter, um mit ihren Bewunderern weiter zu ziehen. Als sie weit genug weg waren, habe ich mich aus dem Seitenausgang hinausgeschlichen, bin zum Eingang gegangen. Ich habe mich über Rabbi Weizenbaum gebeugt wollte sehen, ob ich ihm noch helfen kann, aber der erste Blick zeigte mit bereits, dass er tot war.

Über Umwege habe ich mich nach Hause geschlichen, dabei habe ich in unterschiedlichen Entfernungen das Grölen immer anderer Gruppen gehört, die Jagd auf Juden machten oder Geschäfte und Wohnungen zerstörten.

Ephraim war bereits zu Hause, fragte mich voller Angst, wo ich gewesen bin, er hatte die Befürchtung, dass mir etwas geschehen ist. Dass ich zwischen ein Rudel von diesen braunen Schlägern gekommen bin, dass ich zusammengeschlagen in einer Ecke liege, zu stark verletzt bin, um allein nach Hause gehen zu können. Er hat mich in den Arm genommen und geweint, als er mich unversehrt vor sich gesehen hat. Auch wenn ich immer noch diesen Schock im Gesicht oder in den Augen gehabt haben muss, denn er fragte mich, nach seiner ersten Beruhigung, was mir geschehen ist.

Ich erzählte ihm all das Schreckliche was ich erlebt, was ich gesehen hatte, erzählte ihm von dem Anzünden der Synagoge, wie Rabbi Weizenbaum einfach so totgeschlagen wurde als wäre er Ungeziefer.

Was wolltest Du in der Synagoge, was bei Rabbi Weizenbaum, Du weißt, dass es gefährlich ist, abends auf der Straße unterwegs zu sein.

Eigentlich wollte ich etwas Erfreuliches mit ihm bereden, er hat mir noch Mut gemacht, gesagt ich soll mich freuen, jetzt weiß ich nicht, ob ich mich noch freuen kann.

Woran sollst Du dich freuen, was er hat er damit gemeint, fragend hat er mich angeblickt, so als hätte ich ihm etwas verschwiegen, was uns betrifft.

Ich bin schwanger, bevor ich noch weiter reden konnte, hat er mich in den Arm genommen, lachend herumgewirbelt als ihm wieder eingefallen war, was ich gerade erzählt hatte. Mit betroffenem Gesicht setzte er mich ab, dann sagte er ganz ernst, ich habe Dich unterbrochen, was wolltest Du noch sagen.

Deshalb war ich bei Rabbi Weizenbaum, ich wollte ihn fragen, ob man in diese schreckliche Welt ein Kind gebären darf. Er hat mir noch gesagt ich soll mich freuen, es Dir unbedingt erzählen, er hat zu mir gesagt, sage es unbedingt Ephraim. Er wird dieses aber auch anderes nie wieder sagen können, während ich davon erzählte, habe ich endlich in den Armen von Ephraim um unseren Rabbi weinen können.

Wir warten nicht ab, wir fahren nach dem Chanukka-Fest, wir werden nur das Nötigste mitnehmen, dass Wichtigste habe ich sowieso im Kopf, dies wird unsere Zukunft sichern. Wie sollte er sich doch irren. An diesem Abend haben wir beide noch viel geredet, viel geweint, dabei unsere Zukunft in einem anderen Land, einem besseren Land ausgemalt.

An den nächsten Tagen wagte ich mich nicht auf die Straße, ich hatte Angst von einer dieser marodierenden Horden erwischt, oder im Nachhinein doch noch zusammengeschlagen zu werden. Ephraim, der im Labor war erzählte mir, was er auf dem Nachhauseweg gesehen hatte, geplünderte Geschäfte, zerstörte Wohnungen, andere Juden, die er auf der Straße getroffen hatte, erzählten von der Zerstörung vieler Synagogen. Dazu kam, dass viele Juden in dieser entsetzlichen Nacht misshandelt und verhaftet wurden. Viele männliche Juden sind in jener Nacht verschwunden, sind in ein Konzentrationslager verschleppt worden.

Auch wenn sie später immer von einem angeblich spontanen Akt des Volkszorns gesprochen haben, weil dieser Botschaftsangestellte in Paris angeschossen worden war, in jener Nacht habe ich hauptsächlich Horden von SA oder SS gesehen. Nur wenige Menschen, die nicht der SA oder SS angehört haben, waren daran beteiligt, allerdings haben noch weniger ihren jüdischen Nachbarn geholfen.

Die Stimme klang nicht verbittert, eher neutral als sei es eine Berichterstattung. Eigentlich hat an diesem Tag die Verfolgung einen neuen Charakter angenommen, ab da begannen sie uns Juden auszumerzen, uns zu eliminieren.

Wenn ich heute so zurückdenke, dann muss das Pogrom bereits seit Längerem vorbereitet gewesen sein, denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass plötzlich in allen Orten jüdische Einrichtungen angegriffen werden. Auch die Synagogen, die angezündet wurden, standen nie so nah an Nachbargebäuden, dass diese gefährdet worden wären. Außerdem gab es eigenartigerweise auch Synagogen, die bereits eine Nacht vor dem angeblichen Volkszorn angezündet wurden. Das hat mich über Jahre beschäftigt, wie man so etwas planen und vorbereiten kann und sich dabei noch als menschliches Wesen fühlt.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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