Buch lesen: «100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 2», Seite 5

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Bis etwa hierher wird die „20“, für deren neues Teerkleid 23 Millionen Kanadische Dollar bewilligt waren, und von dem wir 2010 das Mittelstück davon schon unter den Rädern hatten, vom Plateau und seiner Landschaft begleitet. Das Weideland zeigt sich dabei größtenteils als hartes Gras, dessen Stängel lange Rispen tragen. Hier und dort fällt der Blick auf Birkenbestände und am Horizont auf Fichtenwälder und bewaldete sanfte Höhenzüge. Kleinste, oft ärmliche Anwesen und spärliche, winzige Ortschaften vervollkommnen den Gesamteindruck. Die meisten Bewohner bevölkern das Hinterland, und größere Ranches an der Straße sind selten. Auffällig ist die Half Way Ranch, aber ein Glanzstück ist auch sie nicht. Was überall die Aufmerksamkeit auf sich zieht sind allerdings die Gatter, die zum verladen der Tiere benötigt werden, denn Ställe kennen sie hier nicht. Und selbst dort, wo verfallenen Schuppen und Scheunen signalisieren, dass die Aktivitäten längst der Vergangenheit angehören könnten, sind jene noch immer aktiv und Rinder oder Pferde nicht weit entfernt.

Unterwegs, und kurz vor Tatla Lake, hatte uns die „Half-Way Ranch“ angedeutet, dass etwa die Hälfte der Wegstrecke auf der „20“ passiert ist. Man mag es kaum glauben, denn die Fahrt ist gemütlich, der Verkehr aber äußerst minimal. Tatla Lake ist einer jener kleinen Orte, in denen der Tourist auch frisches Brot und ähnliche Kleinigkeiten einkaufen kann, und ein Tor nach Süden in die einsame Seen- und Bergwelt. Kleena Kleene, als nächste Ansiedlung, lässt auch nicht lange auf sich warten, und auch hier bieten Guides und Outfitters Touren an. So auch zum fischreichen Klinaklini River, der sich seinen südlichen Weg zwischen den Gletscherflanken Franklin und Kunaklini sucht und in das, von Vancouver Island gut zu erreichende Knight Inlet mündet, dessen Ufer und Umgebung als Grizzly-Paradies gelten, das eine Lodge dem Tourismus erschließt. Wer hier gern abseits kampiert, wählt etwas weiter die rechterhand abzweigende Holm Road zum One Eye Lake, der mit seinem kleinen, sehr einfachen Campingplatz eine preiswerte Übernachtung anbietet. Wesentlich angenehmer ist allerdings die „Clearwater Lake Lodge und Resort“, die an der „20“ linkerhand vor ihrer kurzen Zufahrt angekündigt wird. Mit dieser sehr schönen Holzbohlenlodge mit rotem Dach am Clearwater Lake haben sich Gisela und Bernward Kalbhenn aus Bonn vor einigen Jahren einen Traum erfüllt und Deutschland den Rücken gekehrt. Der Anfang war nicht leicht, denn es musste abgerissen, renoviert und verbessert werden, doch das, was nach eigenen Plänen entstand, ist ein Kleinod mit besonderem Ambiente, das Gemütlichkeit, Erholung und Abenteuer mitten im Bärenland garantiert. Und an diesem See, der ein wirkliches Juwel ist, hat der Gast die Wahl zwischen Lodge, Blockhäusern (Cabins), Luxus im Chalet und einigen Standplätzen für Camper. Geführte Touren in die Bergwildnis werden ebenso angeboten wie reiten mit echten Cowboys und Flüge mit dem Buschpiloten, Wasserflugzeug oder Helikopter. Zweimal haben wir dort unser Wohnmobil hinter den Blockhütten im Wald geparkt und dieses schöne Fleckchen Erde mit seinem wunderschönen See für einige Stunden auf der Durchreise genießen können.

Am nächsten Morgen bin ich vor der Weiterfahrt schon kurz vor fünf Uhr am See. Es ist frisch, aber wunderschön, und außer ein paar Lauten der Natur ist nichts zu hören. Ich gehe am Ufer entlang, höre in die unendliche Weite hinein und schaue der Sonne zu, wie sie langsam den Horizont erklimmt und dafür sorgt, dass gegenüber leichte Nebelschwaden über dem dort dunklen Wasser schweben. Es scheint, als dass diese grauweisen, dünnen und utopischen Gebilde erst ganz vorsichtig ihren Weg ertasten, um sich ihm dann behutsam und zögernd anzuvertrauen. Und diese schwebenden Schleier passen auch zu ihrer Umgebung, die behutsam und friedlich ist, nicht spektakulär und kalt oder harsch und abweisend. Sie ist gut fürs Gemüt, und das Spektakuläre ist nicht weit weg. Ich mache einige Fotos und lausche dann auf dem Bootssteg der Stille und dem zaghaften Plätschern der winzigen Wellen, wenn sie sich von der Uferlinie gestört fühlen. Und mitten in diese Träumerei hinein dringen unverhofft die Schreie eines „Loon“, und erstmals ist er mir auch so ganz nahe. Mir läuft es eiskalt über den Rücken, aber für das Herz fühlt es sich an wie Sehnsucht und Wärme zugleich. Sein Ruf ist wie ein Urschrei der Natur, kräftig, laut und einfühlsam klagend. Das Repertoire dieser Seetaucher an Rufen, ein extrem lautes, melodisches Heulen, das sich weit trägt, ist erheblich, doch dienen die wenigsten Rufe dem Gesang, sondern der Suche nach dem Partner oder der Revierbeanspruchung. Wer diese großen und schönen Schwimmer, die bis zu 8 Minuten tauchen können, nicht kennt und sie nachts überraschend hört, wenn sie mit ihren Warnrufen kreischend lachen oder krächzen, dem dürfte so mancher Schreck in die Glieder fahren. Mit ihren weit am hinteren Körper angebrachten Beinen können sie kaum laufen, nisten unmittelbar am Wasser und kommen in Westkanada als Eis-, Stern-, Pracht- oder Pazifiktaucher vor. Im Sommer tragen sie alle ihr prächtiges Brautkleid, das auf der Oberseite größtenteils schachbrettartig schwarz-weiß gefärbt ist und der weißen Unterseite den Rang abläuft. Ihr langer Hals ist mit gelben, weißen oder roten Ringen farbenprächtig abgesetzt, und aus dem oft schwarzen Kopf leuchten große, rote Augen mit dunklen Pupillen. Wenn die Wälder mit der Ankunft des Frühlings zu neuem Leben erwachen, dann sind auch diese eleganten Wasservögel, die 30 Lebensjahre erreichen können, wieder zu ihren Seen unterwegs und dulden dort mit ihrem schaurig schönen Gesang keinen Nebenbuhler. Ende März, wenn das Eis schmilzt, trifft der erste Loon ein und nimmt sein altes Revier wieder in Besitz, während sein Partner etwas später von der Küste nachkommt, um fünf gemeinsame Monate zu verbringen. Im Juni beginnt der Nestbau ganz nahe am Wasser, denn nur dort fühlen sich die rasanten Unterwasserjäger sicher, die bis zu achtzig Meter tief tauchen und dabei Luft aus Federn und Luftsäcken ablassen können. Wenn die Küken schlüpfen, folgen sie ihren Eltern sofort ins Wasser und kehren anschließend für zwei bis drei Tage ins Nest zurück. Danach kommen sie erst wieder an Land, wenn sie selbst brüten. Geschwisterliebe kennt der Nachwuchs nicht, denn der Ältere hackt die Jüngeren von den Eltern weg, um selbst den Platz auf deren Rücken zu erobern. Bei diesem Kampf um Leben oder Tod greifen die Eltern nicht ein, und die Verlierer sterben an Hunger und Unterkühlung. Vielleicht, weil das Gesetz der Natur es erfordert, dass nur einer, der Stärkere, überlebt? Anfang September versammeln sich die Loons auf großen Seen und verhalten sich dabei neutral, weil diese Gewässer keine Territorien darstellen. Hier machen sie Bekanntschaft mit anderen ihrer Gattung und bilden Paare, danach gehen sie wieder eigene Wege. Erst, wenn der Winter zum Flug in den Süden mahnt, finden sie sich in großen Schwärmen bis zu einhundert Vögeln zusammen, brechen aber einzeln oder in Paaren auf. Danach wird es an den Tausenden von Seen wieder still, bis das urzeitliche Heulen dieser Überlebenskünstler, das seit mehr als zwanzig Millionen Jahren ertönt, im Frühjahr wieder zu vernehmen ist. Diese Loons haben mich tief berührt, und sie tun das immer wieder, wenn ihr uriger Gesang mein Ohr erreicht. Und es sind wohl diese Laute, diese unterscheidbare tiefe, einsame, zu Herzen gehende Melodie, die das Innere aufwühlt, die man mit dem Ruf der Wildnis Kanadas gleichsetzen kann, vielleicht sogar muss. Man fühlt dabei alles, Freiheit, Unendlichkeit, Weite, gewaltige Natur, unser kleines, vergängliches Menschenleben, Überlebenskampf und Wildnis. Und in den Minuten am Clearwater Lake, als ich „meinem“ Loon lausche, muss ich an einen Indianerspruch denken, den ich irgendwo gelesen habe: „Das Sonnenlicht hinterlässt keine Spuren im Gras, halten auch wir uns daran, und gehen mit der Natur genau so behutsam um.“ In diesem Moment des Erlebens kann ich verstehen, was damit gemeint ist. Den Ruf des Loons werde ich nie wieder vergessen, und auch das indianische Sprichwort nicht, dass das dazu sagt: „Der Eistaucher schreit, weil ihm jemand zuhören soll, und seine Augen sind rot vom Weinen.“ Ja, auch so hört es sich an.

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen verabschieden wir uns von den Kalbhenns und sind der Meinung, dass wir wiederkommen werden. Ein letztes Winken, dann brummt unser Gefährt den Berg hinauf zum Highway 20, wo wir nach links, Richtung Bella Coola, einbiegen. Der Asphalt zieht jetzt nordwärts, es wird wieder grüner, und am Wegesrand blüht die Indian Paint Brush in vielen Farben. Kleine Seen und Koppeln mit Rindern und Pferden begleiten uns nach Nimpo- und Anahim Lake, wo der Highway wieder nach Westen abknickt und nach weiteren 150 Kilometer zu Bella Coola, am North Bentinck Arm des Burke Channels, sein Ende findet. Nimpo Lake, die „Hauptstadt der Wasserflugzeuge von British Columbia“, verweist im Wesentlichen auf Bäckerei, Post, Café, Motel, Laden, Lodge, See und die „Tweedsmuir Air“, die 1988 gegründet wurde, pauschale Ausflüge und Charterflüge anbietet, aber auch alle Eigenkreationen der Touristen mit ihren „Buschfliegern“ „Beaver und Cessna“ erfüllt. Ob es dabei zu abgelegenen Wanderzielen, Seen, Anglerzielen wie dem Blackwater- oder Dean River geht, oder Flüge in den Regenbogenberge, zu den Hunlen Falls, Eisfeldern, Gletschern oder Transferflüge zu verschiedenen Orten gewünscht werden, hier ist so ziemlich alles möglich, auch morgens zum Wunschziel hinfliegen, und abends wieder abholen lassen. Und das Wichtigste dabei, für europäische Ohren klingen die Preise sehr zivil, obwohl stets die komplette Maschine bezahlt werden muss. Wer im Dreisitzer nur mit dem Piloten unterwegs ist, zahlt allein, ansonsten wird der Gesamtpreis entsprechend geteilt. Mit diesen Fliegern werden wir auch noch Bekanntschaft machen, doch kam das eher unerwartet.

Neunzehn Kilometer weiter, und 330 Kilometer von Williams Lake entfernt, erreichen wir die Weiler und die Ansiedlung, die sich Anahim Lake nennt. Der kleine Ort ist einer jener „Gateways“, die die Kanadier als Ausgangspunkte ins „Backcountry“ bezeichnen, und die in der Regel schon selbst weit ab und als idyllisch gelegen Oasen der Ruhe vom geschäftigen Alltag zu finden sind. Anahim Lake ist vor allem das Tor zum Tweedsmuir Park und den Itcha-Ilgachuz Bergen, aber auch in die restliche großartige Landschaft, denn die Buschflieger landen und starten hier direkt hinter der Haustür auf dem gleichnamigen See. Reine Angler können auf deren Dienste aber auch verzichten, denn der Anahim Lake ist fischreich, und der Dean River, der den See verlässt und zum Ozean zieht, gilt als einer der allerbesten Stealhead-Flüsse des Kontinents, doch ist er auch voller Lachse und Regenbogenforellen. Aber nicht nur er, sondern auch die anderen großen, wilden Flüsse der Cabrio-Chilcotin-Küste – Atnarko, Bella Coola, Kwatna, Chilck, Taseko, Chilcotin, Quesnel oder Blackwater – sind Weltklasse-Fischgewäs-ser. Anahim Lake ist aber auch eine Ausgangsbasis für Wanderer, die, mit oder ohne Buschflieger, zu Fuß oder Pferd unterwegs sein möchten, während der wirkliche Städter in dieser Gegend alles vermisst, was er schätzt.

Das unmittelbare Juwel ist hier der 981.000 Hektar große Tweedsmuir Provincial Park mit seinen farbenprächtigen Rainbow Mountains. In den 1990er Jahren wurden ihm im Nordwesten die Kitlope Heritage mit dem gleichnamigen Regenwald-Tal, und inzwischen auch der neu geformte Entiako Park im Osten zugeordnet, um den Wildtieren genügend Überlebensraum garantieren zu können. Das Backcountry im Park ist isolierte Wildnis mit Grizzlys und Schwarzbären, die sich zur Laichzeit besonders an den Flüssen Dean, Atnarko, der ein äußerst gefährliches Gewässer ist, und Bella Coola konzentrieren. Während in der Bergregion in jedem Monat des Jahres mit Schneefällen gerechnet werden muss, gelten Juni, September und Oktober als die regenreichsten im Schutzgebiet, und der Juli kann auch mit 30 Grad aufwarten. Straßen und Wege gibt es im Schutzgebiet ebenso wenig wie andere Einrichtungen. Wer hier marschiert, muss nicht nur absolut fit und mit speziellen Karten ausgerüstet sein, sondern auch alles im Rucksack haben, was er auf seiner Tour braucht. Und wer sich nicht auskennt, der braucht unbedingt einen Guide! Viel einfacher lässt sich diese Wildnis aber zu Pferd erkunden, und ein solches Abenteuer, ein achttägiger Trailritt, wartet morgen auf uns. Und das ist auch der Grund, weswegen wir nach weiteren acht Kilometern vom Highway nach rechts abbiegen, denn unser Treffpunkt ist „Eagles Nest“, ein kleines Juwel, das man mitten „im Busch“ so nicht unbedingt erwartet. Haupthaus, Blockhütten, Pool und Duschanlagen überschauen hier auf einer kleinen Erhöhung das Seeufer, gegenüber Wald, dahinter leuchten verschneite Bergspitzen. Und das Adlernest, nachdem diese Einkehr benannt ist, das gibt es auch. Als wir um die letzte Ecke biegen, werden wir schon erwartet, und alles was hier an Zweibeinern umherläuft steht vor der Tür und winkt. Dem kurzen Hallo folgen ein paar Worte und ein Willkommensdrink, dann wird erst das Wohnmobil an seinen Platz rangiert, denn morgen früh bleiben die Fahrzeuge hier.

Im gepflegten, stilvollen, kleinen Restaurant, das eher einem sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnambiente gleicht, gibt es viele schöne Kleinigkeiten zu entdecken. Unter den Gemälden befindet sich auch eins von Salzburg, denn „Lady Enubi“, zusammen mit Petrus Rykes die Gastgeber, ist dort geboren und passt eigentlich weder in die österreichische Gebirgswelt, noch in kanadisches Cowboyland. Ihr Typ ist eher der einer gewichtigen Operndiva, äußerst gepflegt, mit Scharm, Humor, Geist, Geschmack fürs Detail und sehr viel Herzlichkeit. Hier fühlen wir uns auch sofort wohl, und als wir acht Jahre später auf dem Weg zur Fähre nach Bella Coola hier wieder einkehrten, haben wir im wunderschönen neuen Anbau Geburtstag gefeiert und dabei spontan beschlossen, dass wir 2011 zu einem siebentägigen Ritt in die Wildnis wiederkommen werden. Anfangs war dieses neue Vorhaben auch ein wenig der guten Feierlaune geschuldet, denn ursprünglich waren Peru, Chile und Argentinien angedacht, doch im November war die Reiseroute längst detailliert auf Papier, Flug und Wohnmobil gebucht, und es stand auch fest, dass Tochter und Enkelin mitkommen.

An dieser Stelle sind wir davon aber noch neun Jahre entfernt, und jetzt stimmen wir uns zunächst auf die kommenden Tage mit vier Reitern aus Calgary ein, mit Kris, John, Heather und Ferdl, der in Kärnten zur Welt gekommen ist, und seit vielen Jahren in Kanada als Geologe gearbeitet hat. Die beiden Damen waren Krankenschwestern, während John als Lehrer schon an vielen Orten unterrichtet hat, auch im hohen Norden, wo der Mackenzie ins Polarmeer fließt. Und das, was sich an unserem ersten Abend bereits abzeichnete, wurde später auch bestätigt: Diese Truppe passte zusammen wie die berühmte Faust aufs Auge.

Und das traf noch mehr auf unsere wirklichen Gastgeber zu. Auf Joyce, David und Paul, unsere Pferde Escort und Richard, und die beiden Border Collies Willie und Rio, die uns das Abenteuer Pferd und Wildnis ermöglichten.


Die Karawane zieht los, mit 26 Pferden, 13 Reitern und drei Hunden


… mit Ziel Rainbow Mountains in British Columbia

Abenteuer pur – im Sattel durch unberührtes Land

Als sich unsere neuen Freunde für die Nacht in ihre Blockhütten zurückziehen, machen auch wir uns auf den kurzen Weg zum Wohnmobil und sind schon jetzt der Meinung, dass es stimmt, was uns immer wieder bestätigt wurde: Wer hier lebt, der kann sich mit europäischem Stadtleben nicht mehr anfreunden, und zurück will er sowieso nicht wieder. Geschenkt wird auch hier niemandem etwas, aber was macht dieses Land, das von Ost nach West etwa 5.500 Kilometer misst, dann so anziehend? Worin liegt seine Faszination? Es ist wohl die großartige Natur mit ihren Tieren, und ganz besonders die unendliche Weite. Europa kann auch mit großartigen Landschaften glänzen, aber von Norwegen einmal abgesehen, ist alles „ eng und klein“, und seine Straßen sind überfüllt. In Kanada kann man stundenlang fahren oder wandern, ohne einem Menschen zu begegnen, dem Ruf der Wildnis lauschen, Bären und Elche beobachten, an wunderschönen klaren Bergseen und weitab von der nächsten Ortschaft sein Zelt aufschlagen oder das Wohnmobil parken, statt Massentourismus an zubetonierten, lauten Stränden oder Fahrzeug an Fahrzeug auf Campingplätzen akzeptieren zu müssen. Hier, im Land der Goldschürfer, Pelzhändler, Indianer, Cowboys, Bären und Wale taucht man das Paddel in das Wasser kristallklarer Seen, erlebt tosendes Wildwasser im Kajak, ist mit den Buschfliegern zu entlegenen Gebieten unterwegs, fliegt über kilometerlange Gletscher und Eisfelder, kann tagelang durch unberührte Landschaft reiten und sitzt abends mit Gleichgesinnten am Lagerfeuer. Sicherlich schwingt auch ein Hauch „Wilder Westen und Freiheit“ mit, wie auch die Vielfalt, die dieses Land bietet, bis hin zu seinen großen und quirligen Metropolen wie Toronto, Quebec oder Montreal, die aber dennoch irgendwie anders sind. Riesige Prärien, unendliche Tundren, Küstenregenwälder, wüstenartige Trockenregionen, karge Fischerdörfer auf Neufundland, oder liebliche Städte wie das wunderschön am Pacific gelegene Vancouver, das mit seinem Flair an das neuseeländische Auckland erinnert, all das gibt es hier. Auch Konsumtempel wie die weltberühmte West Edmonton Mall in Edmonton gehören zum Gesamtmosaik. Das Einkaufsparadies, das mehr als achthundert Geschäfte, elf Kaufhäuser, über einhundert Restaurants, etwa zwanzig Kinos, Schwimm- und Wellenbäder und vieles andere mehr unter einem einzigen Dach vereint, hat bei seinem Bau eine halbe Milliarde Euro verschlungen. Und gleich um die nächste Ecke, egal wo, wird auf Rodeos der Sport gezeigt, der sich aus der Arbeit der Siedler, Cowboys und Rancher entwickelt hat und ihr tägliches Brot ist. Kanada heißt auch Mountainbiken, Galopprennen, Eishockey, Schlittenhunde, Wintersport, klirrende Kälte und holprige Forststraßen. Insgesamt ist es ein Gemisch aus viel mehr als nur traumhaften Landschaften. Vielleicht ist es die Summe aus allem, die uns so sehr in dieses Land zieht.

Hier am Anahim Lake sind jene Glitzerfassaden jedoch weit weg. Hier ist Bärenland, und man ist auf Schotterpisten in ursprünglicher Natur unterwegs, zu der ganz besonders auch British Columbias größter Provinzpark, der „Tweedsmuir“ zählt. Es ist ein Schutzgebiet, das Wälder, Täler, Wiesen, Sümpfe, Seen, Flüsse, Gletscher und Berge vereint, und dessen straßen- und weglose Wildnis Caribous, Bergziegen, Schwarz- und Grizzlybären, Elche, Hirsche, Adler und andere Tiere schützt. Ein besonderes Juwel ist das von Erzen geprägten vulkanischen Gestein der Rainbow Mountains, deren Rot, Violett oder Gelb um die Wette zu eifern scheint und diesen Bergen den Namen gab. Morgen werden wir mit Pferden in dieses Gebiet aufbrechen, und deswegen wird es nun auch Zeit, unsere beiden Packsäcke zu schnüren. Zeitaufwendig ist das nicht, denn Sabine hatte schon rationell ausgewählt und für jeden seine „Häufchen“ zurechtgelegt, getrennt für Tag, Nacht, Toilette und Reserve. Verpackt in Plastiksäcken und im jeweiligen wasserdichten „Duffel Bag“ verstaut, haben beide Taschen noch viel Platz, denn die Regenkleidung gehört zur Tour und kommt direkt hinter den Sattel. Unterwegs stellt sich die getroffene Auswahl schnell als perfekt dar, und das oftmalige Nein zu „Muss-Es-Mit-Oder-Nicht“ war genau richtig.

Das Frühstück am nächsten Morgen ist kräftig, danach bringt uns Petrus mit seinem Jeep zum Trailhead im Tweedsmuir Park, unserem Treffpunkt mit den Dorseys. „Saddlehorse Meadows“ nennt er sich offiziell, und als wir ankommen sind unsere Gastgeber längst bei der Arbeit. Der erste Blick signalisiert erhebliches Durcheinander, doch es hat Methode. An drei Stellen sind gesattelte Pferde angebunden, hier ihre, dort „unsere“, die restlichen sind mit Tragegeschirren bestückt. Manche von ihnen knabbern an einem Heuballen, andere dösen vor sich hin. Ein Brauner kann über die anstehende Tour lächeln, denn er war Reservepferd und wird eben wieder in den Transporter eingeladen. Dieser entspricht auch nicht europäischen Verhältnissen, sondern ist ziemlich lang und tief gelagert, hat kleine vergitterte Fenster, und die 12 bis 14 Pferde stehen quer zur Fahrtrichtung. Was noch auffällt? Haufen von Seilen, Kisten und ähnlich große, grüne Plastikbehälter, Kartons und anderer Kram liegen und stehen auf diesem Waldplatz herum, mitten drinnen die geschäftigen „Outfitter“ Joyce und David, Tochter Linsay und Ayleen, die Praktikantin. Diese beiden Achtzehnjährigen helfen beim Packen, fahren anschließend den Transporter wieder zurück und kümmern sich während der Abwesenheit vom Boss um die Ranch. Und dann ist da noch Paul, Davids Nachbar, der unseren Trupp als dritter Mann begleitet. Nach flüchtiger Begrüßung, bei der wir feststellten, dass wir rein gar nichts helfen können, macht sich die Mannschaft wieder ans Werk. Zelte, Schlafsäcke, Regenplanen, Hufeisen und -nägel, Hammer, Zange, Gewürze, Lebensmittel und Getränke, Feuergestell, Töpfe und Pfannen, Wasserfilter, Flüssigseife, Mückenspray, Bremsenöl für die Pferde …, alles wird in festen Packsäcken verstaut und vor dem Verschnüren gewogen. Hier muss etwas raus, dort mehr rein, denn die neun Packpferde müssen auf jeder Seite pfundgenau beladen werden. Die Säcke der Gäste werden markiert, denn abends schnappt sich künftig jeder den seinen und bringt ihn morgens wieder frisch geschnürt zum Aufladen zurück. Und während Paul und David, der ab und an einen wortlosen, verstohlenen „Musterungsblick“ in unsere Richtung schickt, Packsäcke und kistenartige Behälter auf die Packpferde verteilen, mit Gurten und Seilen sichern, anschließend mit Regenplanen abdecken und erneut mit Seilen festziehen, machen uns Joyce und Ayleen mit den uns zugedachten Pferde bekannt.

Sabines zehnjähriger Rappe, ein flotter Quarterhorse-Wallach, heißt Escort, ist kompakt, abgedreht und hat eine kräftige Hinterhand. Wie sich später zeigte, liebte er das Springen noch immer, denn in ganz jungen Jahren soll ihm kein Koppelzaun zu hoch gewesen sein. Den mir zugedachten hellen Falben war ich schnell wieder los, denn Heather konnte, oder wollte, sich mit dem großen Appalosamischling Richard nicht anfreunden, und unbedingt tauschen. Naja, reiten konnte sie genau so wenig wie die übrigen drei aus Calgary; das gaben sie zwar nicht zu, aber das war so. Sie hatten nur keine Angst und hier und dort in ihrem Leben, aus Freude an der Sache, mehrfach auf Pferden gesessen. Vielmehr wurde bei diesem Ritt aber auch nicht verlangt, zumal diese „Mountain-Horses“ erstklassig ausgebildet waren und der Reiter ihnen nur den Weg zeigen musste. Also landete eben ich bei diesem Schimmel, zu dem Joyce meinte „der ist zwar etwas faul und eigensinnig, aber den bekommst Du schon flott“. Ein schönes Pferd ist Richard nicht, eher etwas klobig, ziemlich groß und stabil. Es passt aber alles gut zusammen, und seine „Bammelohren“ verrieten, dass er eigentlich ein guter Charakter sein müsste. Das war auch so, und er war auch zuverlässig und äußerst clever. Er wusste sehr schnell wer „oben saß“, denn nach kurzen Meinungsverschiedenheiten ließ er es auf keine Diskussion mehr ankommen und marschierte wie ein junger Spund. Als ich mich nach diesem Ritt von ihm trennen musste, ist mir das so schwer gefallen wie kaum bei einem anderen Pferd zuvor.

Inzwischen ist alles verpackt, der Transporter mit der winkenden Linsay am Steuer rangiert Richtung Straße, und das letzte der in Dreiergruppen gehenden Packpferde, ein vierjähriger Neuling auf größerer Tour, wurde mit Äxten, Motorsäge und Benzinkanistern beladen. Die beiden Gewehre bleiben bei David und Paul, das Mittagssandwich steckt in der Satteltasche und das Regenzeug bleibt hoffentlich nicht nur heute hinter dem Sattel festgeschnallt. Die Karawane aus achtzehn Pferden, neun Reitern und den beiden Border Collies Willie und Rio kann starten, mit David Dorsey an der Spitze Richtung „Abenteuer pur“. Für uns ist es der erste Trailritt überhaupt und wir sind gespannt, was uns dabei erwartet, denn mein Sinn steht mehr auf „Gas geben“, auf Rennpferden. Und wenn schon „lange Bügel und Westernsattel“, dann hatte ich ursprünglich eher an eine Ranch in Saskatchewan oder Montana gedacht, denn die Prärie lässt auch ordentliches Galoppieren und Springen zu. Im Tweedsmuir Park kann man vielleicht einen Bach oder Graben springen, aber generell erwandert man hier unerschlossene Natur zu Pferd, bis hinauf ins Hochgebirge. Und um es vorweg zu nehmen, es war auch ohne „Vollgas“ ein großartiges Erlebnis.

Nach wenigen Minuten wird aus dem Weg ein schmaler Pfad, kurz darauf ist auch dieser verschwunden. David gibt, mit der ersten „Packtrain“ im Schlepp, die Richtung vor, die anderen Pferde folgen im Gänsemarsch, wobei sich Paul mit seinen drei Packpferden zwischen uns Gästen einsortiert hat und Joyce mit ihren Lastenträgern am Ende folgt. Nur Willie und Rio patrouillieren hin und her und legen wohl das Vier- oder Fünffache an Kilometern zurück. Im Tal hatte der Reiter sehr wenig zu tun, doch als David in Richtung Waldhang abbiegt, heißt es aufpassen. Der Wald ist dicht, die Bäume stehen eng. Jetzt muss sich jeder seinen eigenen Weg suchen, mehrere Stunden im Zickzack bergauf. Für unsere Pferde ist der Weg zur Baumgrenze und in alpines Gelände harte Arbeit, und die Packpferde müssen oft nach einem besseren Durchschlupf suchen und kleine Umwege in Kauf nehmen. Bei uns Reitern ecken die Knie auch gelegentlich an, und den einen oder anderen Ast drückt man besser weg, bevor er zurückschwingt. Mehr als die Richtung gebe ich meinem Pferd nicht vor, denn es weiß ganz genau, wohin es seine Beine setzen muss. Der Wald hier ist kein europäischer, sondern unberührte Wildnis. Und mit umgestürzten Baumriesen, auch kreuz und quer übereinander liegend, Geröllfeldern, Felsbrocken, Wurzeln, dichtem Unterholz und hohen Farnen kennen sich diese „Mountain-Horses“ bestens aus. Zwischendurch hält David zwar oft an, um den Pferden Verschnaufpausen zu geben, aber dennoch geht es flott vorwärts, bis wir am frühen Nachmittag ein Hochplateau erreichen und hinter einer Baumgruppe eine Rast einlegen, bei der die Packpferde aber nicht entlastet werden. Um uns herum Latschenkiefern, Sträucher, blühende Lupinen und andere Frühlingsblumen, verstreute Fichten, einzeln oder in Gruppen und vom Wind zerzaust, und kleine Schneeflecken auf nahen Hügeln und in Mulden. Hier und dort schimmerte ein kleiner, flacher See, ganz in der Nähe huscht ein Bach als Wasserfall über seine Gesteinskante, und weit am Horizont leuchten die weißen Spitzen der Küstengebirge. Und nachdem die Pferde am Bach ihren Durst stillen konnten, haben auch die drei bis vier Liter Kaffeewasser im „Billy“, der großen, schwarzen Eisenkanne, über dem Lagerfeuer gekocht, so dass es Zeit ist, Brote und Obst auszupacken, die Tasse zu füllen und sich einen Stein als Sitzplatz zu suchen.

Nach einer knappen Stunde mahnt David zum Aufbruch, und wir reiten nun im alpinen Gebiet durch die „Schwarzen Berge“. Für die Pferde ist es leichter, und der freie Blick erfasst auch den Tsitsuti Peak, die höchste Erhebung der Rainbow Mountains, doch bis dorthin ist es noch weit. Hier und dort umgehen wir sumpfige Stellen, reiten in den Tälern durch dichte, hohe Weidenbüsche, die die Reiter meist komplett verdecken. Durch sie wird aber ebenso direkt geritten, wie durch Bäche und Flüsse. Das gilt erst recht für die blühenden Bergwiesen, auch wenn mir die bunte Blumenpracht richtig Leid tut. Unsere Pferde denken da ganz anders, denn sie haben eine Vorliebe für Lupinen und schnappten auch während des Gehens immer wieder nach ihnen. Wir sind aber rundum zufrieden, lassen uns einfach dahintragen, genießen den Moment, die herrliche Natur und ihre Stille, die nur vom Schnauben der Pferde und dem Knirschen des Sattelleders unterbrochen wird. Und mit jedem Pferdeschritt rückt die Zivilisation etwas weiter weg, die Natur näher heran. Man wird aber gleichzeitig aufmerksamer und sieht viele kleine Dinge, an denen man im hektischen Alltag achtlos vorübereilt. Richtig angekommen ist man in Kanada aber erst dann, wenn sich die Weite auch in den eigenen Gedanken breit macht. Doch das scheint bei uns recht schnell zu gehen, denn wir fühlen uns schon jetzt so richtig wohl. Gegen Abend biegt David in ein kleines Wäldchen ein, dass am rechten Talhang unser nächtliches Quartier sein wird. Viele Fotos und Filmmeter bringen wir von diesem ersten Tag nicht mit, doch lag das nicht an den Motiven, sondern daran, dass der Weg das Ziel war, und man nicht überall anhalten kann.

Im Wäldchen empfängt uns eine Lichtung, und dort verraten vier dicke, quadratisch um die Feuerstelle angeordnete Baumstämme das „Wohnzimmer“, in das auch gleich Leben einziehen wird. Vorerst sind aber die Pferde an der Reihe. Trensen abnehmen, an einem Baum anbinden und absatteln. Kontrolle und Pflege folgen später, wenn David und Paul die Packpferde entladen haben. Kisten und Packsäcke werden unter einem Baum abgestellt, Seile und Gurte kommen daneben auf einen Haufen, und die Sättel bekommen sofort ihren Extraplatz für die Nacht. Vorrang beim Abladen haben die grünen Küchenkisten und das Feuergestell, das sich Joyce auch sofort schnappt und aufbaut. Links und rechts stellt sie einen der beiden nach oben gegabelten, schweren Eisenständer auf, hängt an beiden jeweils das Ende einer Doppelkette ein, die einen großen rechteckigen Feuerrost als Kochstelle für Pfannen und Töpfe unter sich trägt. Eine waagerecht in die Gabelungen eingeklickte Eisenstange stabilisiert die Konstruktion und erlaubt den „Billys“, den großen Wasserkannen für Tee und Kaffee, ihren Platz direkt über dem Feuer einzunehmen. Und während unsere Gastgeberin zum nahen Bach eilt, das mitgebrachte Nass durch die tragbare Filteranlage schickt, drei oder vier Hände voll Kaffee in eine der Eisenkannen gibt – der Tee kommt in einem Leinensäckchen in eine zweite- ist David schon beim Feuermachen. Wir holen inzwischen unsere beiden „Duffel Bags“ und das Zelt vom großen Haufen und bringen auch die Satteltaschen, das Regenzeug und unsere Foto- und Filmausrüstung zum ausgesuchten Übernachtungsplatz, während die dicken Satteldecken als Sitzkissen auf den Baumstämmen um die Feuerstelle abgelegt werden. Danach, und vor dem Zeltaufbau, machen sich die meisten von uns nützlich, fällen kleinere, dürre Bäume, hacken Holz, holen frisches Wasser vom Bach, unterhalten das Feuer oder helfen Joyce bei der Einrichtung ihrer „Küche“. Mittelpunkt ist dort die Tischplatte, deren zwei breite, gehobelte Bretter mit ihren Enden in die Schienen einer Hängevorrichtung geschoben werden, deren Ketten links und rechts an einem Baum ihre Haken finden. Die Konstruktion, unter der sich noch ein Hängeregal befindet, passt durch seine variablen Ketten zwar zwischen die meisten Bäume, doch wird dieses Camp in den Schwarzen Bergen auch bei vielen Touren angesteuert und könnte die Mindestmaße geliefert haben. Wir werden hier sogar zwei Nächte verbringen, denn morgen reiten wir ohne Packpferde in die Regenbogenberge und kommen am Abend wieder zurück. Man kann sich also richtig häuslich einrichten.

Genres und Tags
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
22 Dezember 2023
Umfang:
698 S. 48 Illustrationen
ISBN:
9783957444042
Rechteinhaber:
Автор
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