Buch lesen: «Lourdes»

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Émile Zola

Lourdes

Inhaltsverzeichnis

LOURDES

Erster Tag

I

II

III

IV

V

Zweiter Tag

I

II

III

IV

V

Dritter Tag

I

II

III

IV

V

Vierter Tag

I

II

III

IV

V

Fünfter Tag

I

II

III

IV

V

Impressum

LOURDES
Erster Tag

I

Als die Pilger und die Kranken, die in dem dahinrollenden Zuge dicht gedrängt auf den harten Bänken des Wagens dritter Klasse saßen, das Ave maris Stella beendigten, das sie bei dem Verlassen des Orleansbahnhofs angestimmt hatten, sah Marie, die sich, von fieberhafter Ungeduld ergriffen, halb von ihrem Schmerzenslager aufgerichtet hatte, aus dem Fenster.

»Ah, die Befestigungen!« rief sie trotz ihres Leidens in freudig erregtem Tone. »Wir sind jetzt aus Paris heraus, wir sind abgefahren!«

Ihr gegenüber saß ihr Vater, Herr von Guersaint, und lächelte über die Freude seiner Tochter, während der Abbé Pierre Froment, der sie mit brüderlicher Zärtlichkeit betrachtete, sich in seiner liebevollen Besorgnis vergaß und ganz laut sagte:

»Und von jetzt an noch bis morgen früh, denn wir werden erst um drei Uhr vierzig in Lourdes sein. Über zweiundzwanzig Stunden Fahrt!«

Es war halb sechs Uhr; die Sonne ging soeben strahlend auf in der Klarheit eines wunderbaren Morgens. Es war ein Freitag, der 19. August. Aber schon kündigten am Horizonte kleine schwarze Wolken einen furchtbaren Tag gewitterschwangerer Hitze an. Und die Sonnenstrahlen fielen schräg durch die Abteile des Wagens und erfüllten sie mit goldigem, tanzenden Staube.

Marie, die wieder in ihren Schmerz zurückgesunken war, murmelte:

»Ja, zweiundzwanzig Stunden. Mein Gott! Wie lange ist das noch!«

Ihr Vater half ihr, sich wieder in dem engen Behältnis zurechtzulegen, einer Art Dachrinne, in der sie nun schon seit sieben Jahren lebte. Man hatte eingewilligt, ausnahmsweise die vier Räder als Gepäck mitzunehmen, die sich auseinandernehmen ließen und dazu dienten, sie fortzubewegen. So eingeschlossen zwischen die Bretter dieses rollenden Sarges nahm sie drei Plätze auf der Bank ein. Sie lag einen Augenblick ruhig da mit geschlossenen Augenlidern, mit ihrem abgemagerten und erdfahlen Gesichte, das trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch kindliche Zartheit bewahrt hatte. Sie sah noch reizend aus in der Umrahmung ihrer wunderbaren blonden Haare, Haare einer Königin, vor denen selbst die Krankheit Achtung hatte. Sie trug ein sehr einfaches Kleid von geringer schwarzer Wolle, und an ihrem Halse hing die Karte mit ihrem Namen und der Ordnungsnummer. Sie hatte selbst diese ärmliche Einfachheit gewünscht, da sie den Ihrigen, die nach und nach in große Bedrängnis geraten waren, keine Kosten verursachen wollte. So kam es, daß sie sich hier in der dritten Klasse befand, in dem weißen Zuge, in dem Zuge der Schwerkranken, dem schmerzerfülltesten der vierzehn nach Lourdes gehenden Züge, an dem Tage, an dem sich außer den fünfhundert gesunden Pilgern gegen dreihundert von Schwäche erschöpfte und von Schmerzen gepeinigte Kranke herandrängten, um Frankreich von einem Ende zum andern zu durchqueren.

Verstimmt darüber, daß er sie betrübt hatte, fuhr Pierre fort, Marie mit den zärtlichen Blicken eines älteren Bruders zu betrachten. Er hatte soeben sein dreißigstes Lebensjahr erreicht und sah bleich und zart aus, seine Stirn war breit. Nachdem er alle Vorbereitungen zur Reise getroffen hatte, hielt er es auch für seine Pflicht, sie zu begleiten, und hatte sich deshalb als Aushelfer in die Brüderschaft von NotreDame de Salut aufnehmen lassen. Er trug auf seiner Soutane das rote, orangegelb geränderte Kreuz der Sänftenträger. Herr von Guersaint selbst hatte nur an seinem grauen Tuchrocke das scharlachrote Pilgerkreuz befestigt. Er schien entzückt über die Reise, seine Augen schweiften überall umher, und er konnte seinen liebenswürdigen und zerstreuten Vogelkopf nicht stillhalten. Obgleich er schon die Fünfzig überschritten hatte, sah er noch recht jugendlich aus.

In der benachbarten Wagenabteilung hatte sich trotz des heftigen Schüttelns, das der armen Marie Seufzer entpreßte, Schwester Hyacinthe erhoben, die bemerkte, daß das junge Mädchen ganz in der Sonne lag.

»Herr Abbé, ziehen Sie doch den Vorhang herunter! Wir müssen es uns so bequem wie möglich machen und uns in unserem kleinen Reiche nach Möglichkeit einzurichten suchen.«

In dem schwarzen Gewand der Ordensschwester, das durch die weiße Haube, den weißen Schleier und die große weiße Schürze etwas gemildert wurde, war Schwester Hyacinthe bei ihrer heldenmütigen Tätigkeit immer heiter. Ihre Jugend sprach aus ihrem kleinen, frischen Munde und strahlte aus der Tiefe ihrer schönen blauen, immer zärtlich blickenden Augen hervor. Sie war vielleicht nicht hübsch, aber anbetungswürdig, zart, schlank, mit der Brust eines Knaben unter ihrem Schürzenlatz, eines braven Knaben mit schneeiger Haut, übersprudelnd von Gesundheit, Frohsinn und Unschuld.

»Aber die liebe Sonne löst uns schon ganz auf! Ich bitte Sie, gnädige Frau, ziehen Sie auch Ihren Vorhang herunter!«

In der Ecke neben der Schwester saß Frau von Jonquière und hielt auf ihren Knien ihre kleine Reisetasche. Sie zog langsam den Vorhang herunter. Brünett und kräftig, war sie noch immer eine angenehme Erscheinung, obgleich sie schon eine Tochter von vierundzwanzig Jahren hatte, Raymonde, die sie aus Anstandsrücksichten mit zwei anderen freiwilligen Krankenpflegerinnen, Frau Desagneaux und Frau Volmar, in der ersten Klasse hatte fahren lassen. Sie war Leiterin eines Saales in dem Hospital NotreDame des Douleurs in Lourdes und verließ ihre Kranken nicht. Außen an der Wagentüre hing das vorschriftsmäßige Plakat, auf dem unter ihrem eigenen Namen die Namen der beiden Schwestern von Mariä Himmelfahrt geschrieben standen, die sie begleiteten. Als Witwe eines ruinierten Mannes lebte sie mit ihrer Tochter bescheiden von vier bis fünftausend Frank Rente in einem Hofe der Rue Vaneau und war von einer unerschöpflichen Wohltätigkeit. Sie widmete ihre ganze Zeit und Tätigkeit dem Hospital NotreDame de Salut, dessen rotes Kreuz sie auf ihrem halbseidenen Karmelitergewand trug, und zu dessen tätigsten Anhängerinnen sie gehörte. Sie war von stolzer Gemütsart, liebte es, umschmeichelt und geliebt zu werden; und zeigte sich stets hochbeglückt über diese alljährliche Reise, die ihre Leidenschaft und ihr Herz befriedigte.

»Sie haben recht, Schwester, wir wollen es uns bequem machen. Ich weiß nicht, warum ich mich mit dieser Tasche herumplage.«

Sie stellte sie neben sich unter die Bank.

»Warten Sie«, sagte Schwester Hyacinthe, »Sie haben den Wasserkrug auf den Knien. Er belästigt Sie.«

»Ach nein, ganz gewiß nicht! Lassen Sie ihn nur! Er muß doch irgendwo seinen Platz haben.«

Dann taten sie beide, wie sie gesagt hatten, und richteten sich so bequem wie möglich für einen Tag und eine Nacht mit ihren Kranken ein. Das unangenehme war, daß sie Marie nicht hatten mit in ihre Abteilung nehmen können, da diese Pierre und ihren Vater bei sich hatte behalten wollen. Aber man verkehrte wenigstens gut nachbarlich miteinander und unterhielt sich über die niedere Scheidewand hinweg. Übrigens bildete der ganze Wagen mit seinen fünf Abteilungen, jede zu zehn Plätzen, nur ein einziges Zimmer voll Menschen, gewissermaßen einen fahrenden allgemeinen Saal, den man mit einem Blicke überschauen konnte. Er war mit der nackten gelben Holzbekleidung der Wände und dem weiß angestrichenen Tafelwerk der Decke ein wirklicher Krankensaal und glich auch in der Unordnung und dem Durcheinander einem improvisierten Feldlazarett. Halb verborgen standen und lagen nebeneinander unter der Bank Krüge, Schüsseln, Besen und Schwämme. Da der Zug keinen Gepäckwagen mitnahm, so häuften sich die Gepäckstücke, Mantelsäcke, weiße Holzkisten, Hutschachteln, Säcke, ein elender Haufen, ärmliche, abgenutzte Sachen, mit Bindfaden zugebunden. In der Luft begann diese Platzversperrung von neuem. Dort hingen Kleider, Pakete und Körbe an kupfernen Haken und baumelten ohne Unterlaß hin und her. Und mitten unter all diesem Trödelkram wurden die Schwerkranken, die auf ihren schmalen Matratzen ausgestreckt lagen, von den ächzenden Stößen der Räder hin und her geschüttelt, während die, die sitzen konnten, den Rücken an die Wand lehnten und das bleiche Gesicht in die Hände drückten. Nach der Vorschrift sollte in jeder Abteilung eine barmherzige Schwester sein. Am andern Ende des Wagens befand sich auch eine zweite Schwester von Mariä Himmelfahrt, Schwester Claire des Anges. Gesunde Pilger erhoben sich und fingen schon zu essen und zu trinken an. In einer Frauenabteilung befanden sich zehn Pilgerinnen, alte und junge, eng aneinander gedrückt, alle von derselben traurigen und bemitleidenswerten Häßlichkeit. Und da man es wegen der Schwindsüchtigen, die in der Abteilung waren, nicht wagte, die Fenster herunterzulassen, so entstand bald eine drückende Hitze und ein unerträglicher Geruch, den die Stöße des in voller Schnelligkeit dahinrollenden Zuges nach und nach überallhin auszubreiten schienen.

In Juvisy hatte man den Rosenkranz gebetet. Und es schlug gerade sechs Uhr – man fuhr blitzschnell an dem Bahnhof von Brétigny vorüber – als sich Schwester Hyacinthe erhob. Sie leitete die Andachtsübungen, deren Verlesung die meisten der Pilger in einem Buche mit blauem Einbande folgten.

»Das Angelus, meine Kinder«, sagte sie, wie eine Mutter ihnen zulächelnd, was ihrer Jugend so reizend stand.

Von neuem folgten die Ave aufeinander. Und als sie beendet waren, beobachteten Pierre und Marie voll Teilnahme zwei Frauen, die die anderen beiden Ecken ihrer Abteilung einnahmen. Die eine von ihnen, die zu Mariens Füßen saß, war eine zarte blonde Erscheinung mit dem Aussehen einer Bürgersfrau, etwa dreißig Jahre alt, aber vor der Zeit verblüht. Sie hielt sich bescheiden im Hintergrunde und nahm kaum etwas Platz weg mit ihrem dunklen Kleide, den gebleichten Haaren, ihrer langen, schmerzgebeugten Gestalt, die hoffnungslose Verlassenheit und unermeßliche Trauer atmete. Die andere ihr gegenüber, die auf derselben Bank wie Pierre saß, eine Arbeiterin von gleichem Alter, mit einer schwarzen Haube und einem von Elend und Sorgen entstellten Gesicht, hielt auf ihren Knien ein kleines siebenjähriges Mädchen, das aber kaum vier Jahre alt zu sein schien, so blaß und verkümmert sah es aus. Die Nase war dünn, die Augenlider bläulich und geschlossen in dem wachsbleichen Gesicht. Sprechen konnte das Kind nicht, es hatte nur ein leises Klagen, ein schwaches Stöhnen, das jedesmal das Herz der Mutter zerriß.

»Würde das Kind vielleicht einige Weinbeeren essen?« fragte die bis dahin stumme Dame in zaghaftem Tone. »Ich habe welche in meinem Korbe.«

»Ich danke«, antwortete die Arbeiterin. »Sie nimmt nur Milch und ... Ich habe mich damit vorgesehen und eine Flasche voll mitgenommen.«

Und dann erzählte sie, dem Mitteilungsbedürfnis der Elenden nachgebend, ihre Geschichte. Sie hieß Frau Vincent; sie hatte ihren Mann verloren, der, Goldarbeiter von Beruf, an der Schwindsucht gestorben war. Allein geblieben mit ihrer kleinen Rose, die ihre Leidenschaft war, hatte sie Tag und Nacht als Näherin sich abgearbeitet, um sie groß zu ziehen. Da war die Krankheit gekommen. Seit vierzehn Monaten hatte sie das Kind auf ihren Armen gehalten, das immer elender wurde und zurückging und ganz und gar verfiel. Da war sie, die nie zur Messe ging, eines Tages, von Verzweiflung getrieben, in eine Kirche getreten, um Genesung für ihre Tochter zu erflehen; und da hatte sie eine Stimme vernommen, die ihr riet, das Kind nach Lourdes zu bringen, wo sich die Heilige Jungfrau seiner erbarmen würde. Da sie niemand kannte und auch nicht wußte, wie die Wallfahrten eingerichtet waren, so hatte sie nur den einen Gedanken gehabt: zu arbeiten, Geld zur Reise zu sparen, ein Billett zu nehmen und mit den dreißig Sous, die ihr übriggeblieben waren, abzufahren und nur eine Flasche Milch für das Kind mitzunehmen, ohne auch nur daran zu denken, für sich selbst ein Stück Brot zu kaufen.

»Welche Krankheit hat die liebe Kleine denn?« fragte die Dame.

»Oh, der Leib ist sicherlich nur aufgetrieben. Aber die Ärzte haben andere Namen dafür. Zuerst hatte sie nur leichte Leibschmerzen. Dann schwoll der Leib an, und sie litt so schwer, daß es einem die Tränen aus den Augen trieb. Jetzt hat sich der Leib wieder gesenkt, aber sie lebt eigentlich gar nicht mehr, sie hat keine Kräfte mehr, so mager ist sie geworden, und durch das unaufhörliche Schwitzen zehrt sie sich noch ganz ab.«

Die Mutter beugte sich, als Rose stöhnte und die Augen öffnete, bestürzt und erblassend zu ihr nieder.

»Mein Kleinod, mein Schatz, was willst du? ... Willst du trinken?«

Das kleine Mädchen schloß seine leeren Augen wieder, deren mattes Blau man einen Augenblick hatte sehen können. Sie antwortete nicht einmal und lag in ihrem totenähnlichen Zustand zurückgesunken, in ihrem weißen Kleidchen ganz weiß da, eine letzte Koketterie der Mutter, die diese unnötige Ausgabe gemacht hatte in der Hoffnung, die Heilige Jungfrau würde der kleinen Kranken viel gnädiger sein, wenn sie gut und ganz weiß gekleidet wäre.

Nach einem kurzen Stillschweigen fing Frau Vincent das Gespräch von neuem an:

»Und Sie, Sie reisen gewiß Ihretwegen nach Lourdes? Man sieht es Ihnen an, daß Sie krank sind.«

Die Frau fuhr erschreckt zusammen und sank dann schmerzgebeugt in ihre Ecke zusammen, indem sie murmelte:

»Nein, nein! Ich bin nicht krank ... Wollte Gott, ich wäre krank! Ich würde dann weniger leiden.«

Sie hieß Frau Maze und trug in ihrem Herzen einen unstillbaren Kummer. Nachdem sie mit einem lebenslustigen jungen Manne eine Liebesheirat geschlossen hatte, sah sie sich nach Verlauf eines Jahres voll Glückseligkeit verlassen. Ihr Gatte, der in Bijouteriewaren reiste, beständig unterwegs war und viel Geld verdiente, war seit sechs Monaten verschwunden. Er lockte sie von einem Ende Frankreichs zum andern und hatte sogar liederliche Frauenzimmer bei sich. Und sie betete ihn an und litt darunter so furchtbar, daß sie sich der Religion in die Arme warf. Endlich hatte sie den Entschluß gefaßt, nach Lourdes zu gehen, um die Heilige Jungfrau zu bitten, ihren Gatten zu bekehren und ihn zu ihr zurückzuführen.

Frau Vincent fühlte, ohne das richtige Verständnis dafür zu haben, dennoch den großen moralischen Schmerz, und beide fuhren fort, sich anzusehen, die verlassene Frau, die in ihrer Leidenschaft sich zu Tode grämte, und die Mutter, die daran zugrunde ging, daß sie ihr Kind sterben sah.

Jetzt mischte sich Pierre, der ebenso wie Marie zugehört hatte, in das Gespräch. Er wunderte sich, daß die Arbeiterin ihre kleine Kranke nicht hatte in das Hospital aufnehmen lassen. Die Gesellschaft von NotreDame de Salut war von den Augustinern von Mariä Himmelfahrt nach dem Kriege gegründet worden, um für das Wohl von Frankreich und für die Verteidigung der Kirche durch gemeinschaftliches Gebet und durch Wohltätigkeit zu arbeiten. Sie waren es, die die Bewegung der großen Wallfahrten und ganz besonders die nationale Wallfahrt ins Werk gesetzt und seit zwanzig Jahren ohne Unterlaß vergrößert hatten, die jährlich gegen Ende August nach Lourdes ging. So hatte sich eine kluge Einrichtung nach und nach vervollkommnet. Von überall flossen beträchtliche Almosen zusammen. In jedem Kirchspiel wurden Kranke angeworben, mit den Eisenbahngesellschaften Verträge abgeschlossen, ohne die tätige Hilfe der kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt und die Gründung der Hospitalität von NotreDame de Salut zu rechnen. Eine weite Verbrüderung aller wohltätigen Gesellschaften wurde geschaffen, in der Männer und Frauen, meistenteils der vornehmen Welt angehörig, unter Aufsicht von Leitern der Wallfahrten die Kranken versorgten, trugen und über gute Ordnung wachten. Die Kranken mußten eine schriftliche Bitte um Aufnahme in das Hospital einreichen, wodurch sie sämtlicher Kosten für die Reise und den Aufenthalt überhoben waren. Man holte sie von ihrem Wohnort ab und brachte sie wieder dorthin zurück. Sie hatten also nur einige Lebensmittel auf die Reise mitzunehmen. Aber die bei weitem größte Anzahl hatte Empfehlungen von Geistlichen und wohltätigen Leuten, die bei den Eintragungen die notwendigen Identitätsnachweise und ärztlichen Zeugnisse prüften. Außerdem hatten die Kranken nur ihre Plätze einzunehmen und waren unter den brüderlich und schwesterlich sorgenden Händen der männlichen und weiblichen Helfer nichts als trauriges Objekt für Leiden und für Wunder.

»Aber, liebe Frau«, setzte Pierre ihr auseinander, »Sie hätten sich doch nur an den Geistlichen Ihres Kirchspiels zu wenden brauchen. Dieses arme Kind verdient volles Mitleid. Man würde es sofort aufgenommen haben.«

»Das wußte ich nicht, Herr Abbé.«

»Wie haben Sie es denn dann gemacht?«

»Ich habe mir an einem Orte ein Billett gekauft, den mir eine Nachbarin nannte, die die Zeitungen liest, Herr Abbé«

Sie sprach von den Fahrkarten, die man unter die Pilger, die bezahlen konnten, verteilte. Marie, die zuhörte, wurde von tiefem Mitleid ergriffen und schämte sich etwas. Ihr, der es nicht an Mitteln fehlte, war es mit Hilfe von Pierre gelungen, in das Hospital aufgenommen zu werden, während diese arme Mutter und das unglückliche Kind, nachdem sie ihre armseligen Ersparnisse hingegeben hatten, ohne einen Sou blieben.

Ein heftiger Stoß des Wagens entriß ihr einen Schrei.

»O Vater, ich bitte dich, richte mich etwas in die Höhe! Ich kann nicht länger so auf dem Rücken liegen bleiben.«

Als Herr von Guersaint sie aufgerichtet hatte, seufzte sie tief auf. Man war in Etampes, anderthalb Stunden von Paris entfernt, und schon fing bei dem glühenden Sonnenbrande, dem Staub und dem Lärm die Abspannung an, sich geltend zu machen. Frau von Jonquière hatte sich erhoben, um das junge Mädchen über die Scheidewand hinweg durch gute Worte zu ermutigen. Auch Schwester Hyacinthe stand wieder auf und klatschte fröhlich in die Hände, um sich von einem Ende des Wagens bis zum andern Gehör zu verschaffen.

»Auf, auf! Denken wir nicht an unsere kleinen Schmerzen! Wir wollen beten und singen, die Heilige Jungfrau wird mit uns sein!«

Sie fing den Rosenkranz an, dann die Gebete von NotreDame de Lourdes, und alle Kranken und Pilger folgten ihrem Beispiele. Es war der erste Rosenkranz, die fünf freudigen Mysterien, die Verkündigung, die Heimsuchung, die Geburt Christi, die Reinigung Maria und der wiedergefundene Jesus. Dann stimmten alle den Choral: »Betrachten wir den himmlischen Erzengel«, an. Die Stimmen vermischten sich mit dem Rasseln der Räder. Man hörte nur das mächtige Rauschen dieses ohne Unterlaß rollenden Stromes menschlicher Stimmen, das im Hintergrunde des Wagens erstickte.

Obgleich darin geübt, kam Herr von Guersaint doch niemals zum Schlusse eines Chorals. Bald stand er auf, bald setzte er sich wieder. Schließlich stützte er sich mit den Ellenbogen auf die Zwischenwand und unterhielt sich halblaut mit einem Kranken, der mit dem Rücken gegen diese Zwischenwand in der nächsten Abteilung saß. Herr Sabathier war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, von untersetzter Gestalt, mit einem guten, dicken Gesicht und einem vollständigen Kahlkopfe. Seit fünfzehn Jahren war er gelähmt, Schmerzen litt er nur zuweilen, aber seine Beine waren vollständig gelähmt, und seine Frau, die ihn begleitete, legte sie wie tote Beine von einer Stelle zur andern, wenn sie ihm schließlich so schwer wurden wie Bleiklumpen.

»Ja, mein Herr, wie Sie mich sehen, bin ich ehemaliger Professor der fünften Klasse am Lyceum Charlemagne. Anfangs glaubte ich, es wäre einfach Hüftweh. Dann aber hatte ich brennende Schmerzen, wissen Sie, ungefähr so, als bekäme ich Stiche mit glühenden Degen in die Muskeln. Seit beinahe zehn Jahren bin ich allmählich ganz davon ergriffen worden. Ich habe alle möglichen Ärzte konsultiert, ich habe alle nur erdenklichen Bäder besucht, und jetzt leide ich allerdings weniger, aber ich kann mich nicht in meinem Stuhle rühren. Da bin ich denn wieder zu Gott zurückgeführt worden durch den Gedanken, daß ich zu unglücklich wäre und daß unsere liebe Frau von Lourdes nichts anderes tun könne, als Mitleid mit mir haben.«

Pierre hatte, von Teilnahme ergriffen, sich auch auf die Zwischenwand gestützt und hörte zu.

»Nicht wahr, Herr Abbé, das Leiden ist der beste Erwecker der Seelen? Jetzt ist es schon das siebente Jahr, daß ich nach Lourdes gehe, ohne an meiner Heilung zu verzweifeln. Und dieses Jahr wird mich die Heilige Jungfrau wieder gesund machen, davon bin ich fest überzeugt. Ja, ich rechne darauf, wieder gehen zu können, ich lebe nur noch von dieser Hoffnung.«

Herr Sabathier unterbrach sich, er wollte, daß seine Frau ihm die Beine mehr nach links schieben sollte. Und Pierre betrachtete ihn und wunderte sich, diese Hartnäckigkeit des Glaubens bei einem Gelehrten, bei einem Universitätslehrer zu finden. Wie hatte der Glaube an das Wunder in diesem Gehirn Wurzel fassen und weiter keimen können? Es war wirklich so, wie er selbst sagte: nur die heftigsten Schmerzen erklärten dieses Bedürfnis der Einbildung, diese Blütezeit der ewigen Trösterin.

»Und wie Sie sehen, sind wir, ich und meine Frau, gekleidet wie Arme, denn ich will dieses Jahr nur ein Armer sein, damit die Heilige Jungfrau mich zu den Unglücklichen, ihren Kindern, rechnet... Da ich aber nicht den Platz eines wirklichen Armen einnehmen wollte, so habe ich bei dem Hospital fünfzig Frank eingezahlt, was, wie Sie ja wissen, dazu berechtigt, daß ein besonderer Kranker mitgeführt wird... Ich kenne ihn sogar, meinen Kranken. Man hat ihn mir gleich auf dem Bahnhofe vorgestellt. Es ist ein Tuberkuloser, wie es scheint, und er ist mir sehr krank vorgekommen, sehr krank...«

Es entstand eine Pause.

»Nun, die Heilige Jungfrau möge auch ihn retten, sie, die alles kann! Und ich werde so glücklich sein, denn sie wird mich mit ihren Wohltaten überschütten!«

Die drei Männer fuhren fort, sich zu unterhalten, indem sie sich von den anderen absonderten und zuerst über Medizin sprachen und dann zu einer Erörterung über romanische Baukunst übergingen, veranlaßt durch einen auf einem Hügel gelegenen Glockenturm, den alle Pilger mit einem Kreuzzeichen begrüßt hatten. Mitten unter diesen armen Kranken, mitten unter diesen durch das Elend stumpfsinnig gewordenen Menschen vergaßen sich der junge Priester und seine beiden Gefährten, von den Gewohnheiten ihres gebildeten Geistes fortgerissen. Eine Stunde verrann, zwei weitere Choräle waren noch gesungen worden, und man hatte die Stationen Toury und Les Aubrais schon passiert, da brachen sie endlich in Beaugency ihre Unterhaltung ab, als sie die Schwester Hyacinthe mit ihrer frischen und klangvollen Stimme das Kirchenlied anheben hörten:

»Parce, Domine, parce populo tuo...«

Das Singen begann von neuem, alle Stimmen vereinigten sich, und wiederum stieg jene Flut von Bitten und Gebeten empor, die den Schmerz erstickt, die Hoffnung neu belebt, und den ganzen Menschen, der von der unablässigen Beschäftigung mit der in so weiter Ferne zu suchenden Gnade und Heilung übermüdet ist, von neuem erweckt und ermuntert.

Als sich Pierre wieder niedersetzte, sah er, daß Marie sehr bleich aussah und die Augen geschlossen hatte. Doch bemerkte er deutlich an ihrem schmerzlich verzogenen Gesicht, daß sie nicht schlief.

»Haben Sie jetzt ärgere Schmerzen?«

»O ja, fürchterliche! Ich werde das Ziel nicht erreichen. Diese fortwährenden Stöße sind...«

Sie stöhnte, öffnete die Augen und fuhr fort, von ihrem Lager aus trotz ihrer zunehmenden Schwäche die übrigen Kranken zu beobachten. In der Abteilung nebenan hatte sich gegenüber von Herrn Sabathier die Grivotte erhoben, die bis dahin wie eine Tote, ohne einen Atemzug zu tun, dagelegen hatte. Sie war ein großes Mädchen, das die Dreißig schon überschritten hatte, lahm und wunderlich, mit einem runden, schmerzentstellten Gesicht, das aber ihre krausen Haare und ihre Flammenaugen fast schön machten. Sie war in höchstem Grade schwindsüchtig.

»Nun, Fräulein«, sagte sie mit ihrer heiseren, kaum verständlichen Stimme, sich an Marie wendend, »wie glücklich würde man sein, wenn man ein kleines bißchen einschlafen könnte. Aber daran ist gar nicht zu denken, diese Räder drehen sich einem ja im Kopfe herum.«

Und trotz der Ermattung, die deutlich beim Sprechen zum Ausbruch kam, ließ sie sich nicht abhalten, Näheres von ihrem Leben zu erzählen.

Sie war Matratzenmacherin und hatte lange Zeit, mit einer ihrer Tanten in Bercy, von Hof zu Hof ziehend, Matratzen gemacht. Die verpestete Wolle, die sie selbst kämmte, hatte ihr in der Jugend ihr Leiden verschafft. Seit fünf Jahren machte sie die Runde in allen Spitälern von Paris. Sie sprach von den großen Ärzten in ganz vertrautem Tone. Die Schwestern von Lariboisière hatten sie, als sie sie von den religiösen Zeremonien leidenschaftlich erregt gesehen hatten, vollends bekehrt und überzeugt, daß die Heilige Jungfrau in Lourdes nur auf sie warte, um sie zu heilen.

»Sie sagten mir, der eine Lungenflügel sei bei mir ganz verloren und der andere nicht viel mehr wert. Wissen Sie, es hatten sich Kavernen gebildet... Zuerst hatte ich nur zwischen den Schultern Schmerzen und beim Husten einen schaumigen Auswurf. Dann magerte ich ab. Es war ein wahrer Jammer. Jetzt bin ich immer von Schweiß gebadet und huste, als wollte es mir die Brust zersprengen. Ich kann aber trotzdem nichts mehr aushusten, so dick ist es... Und wie Sie sehen, kann ich mich gar nicht mehr aufrecht halten, ich esse nicht mehr...«

Ein Erstickungsanfall unterbrach sie, ihr Gesicht wurde ganz schwarzblau.

»Das macht nichts. Ich stecke aber doch noch lieber in meiner Haut als in der des Bruders dort in der Abteilung hinter Ihnen. Er hat dasselbe Leiden, aber er ist noch viel schlimmer daran als ich.«

Sie täuschte sich. Es befand sich allerdings in der Abteilung hinter Marie ein junger Missionar, der Bruder Isidor, der auf einer Matratze lag und den man nicht sehen konnte, da er nicht imstande war, sich einen Finger breit emporzurichten. Aber er war nicht schwindsüchtig, er lag hoffnungslos danieder an einer Leberentzündung, die er sich am Senegal geholt hatte. Er war sehr groß und mager und hatte ein gelbes, eingefallenes Gesicht wie von Pergament. Das Geschwür, das sich an der Leber gebildet hatte, war schließlich nach außen durchgebrochen, und die Eiterung, verbunden mit fortwährendem heftigen Fieber, Erbrechen und Phantasieren, raubte ihm alle Kräfte. Nur allein seine Augen lebten noch, Augen voll unendlicher Liebe, deren warmer Strahl sein Gesicht, das dem sterbenden Heiland glich, verklärte. Sonst war es ein gewöhnliches Bauerngesicht, das nur der Glaube und die Leidenschaft adelten. Er war ein Bretone, das jüngste, kränkliche Kind einer sehr zahlreichen Familie, und hatte den geringen Landbesitz in der Heimat seinen älteren Brüdern überlassen. Eine seiner Schwestern begleitete ihn, Martha, zwei Jahre älter als er, die nach Paris gekommen war, um in seinen Dienst zu treten. Sehr bescheiden in ihrer untergeordneten Stellung als Mädchen für alles, hatte sie ihren Platz verlassen, um ihm zu folgen, und verzehrte nun ihre mageren Ersparnisse.

»Ich stand gerade auf dem Perron, als man ihn in den Wagen hob; vier Männer hielten...«

Sie konnte aber nicht weitersprechen; sie bekam einen Hustenanfall, der sie zwang, sich wieder auf die Bank niederzulegen. Sie rang mühsam nach Atem, die roten Äpfelchen auf ihren Backen wurden ganz blau. Sofort richtete ihr Schwester Hyacinthe den Kopf in die Höhe, trocknete ihre Lippen mit einem Leinentuche, das rote Flecken bekam. Frau von Jonquière war in demselben Augenblicke um die Kranke beschäftigt, die ihr gegenüber saß und ohnmächtig geworden war. Sie hieß Frau Vêtu, war die Frau eines kleinen Uhrmachers, der seinen Laden nicht hatte schließen können, um sie nach Lourdes zu begleiten. Sie hatte sich daher in die Hospitalität aufnehmen lassen, um die nötige Pflege zu haben. Die Furcht vor dem Tode hatte sie zur Kirche zurückgeführt, in die sie seit ihrer ersten Kommunion die Füße nicht mehr gesetzt hatte. Sie wußte, daß sie dem Tode unrettbar verfallen war, da der Krebs ihren Magen zerfraß. Schon hatte sie das zitronengelbe, entstellte Aussehen der Krebskranken. Ihr Auswurf war ganz schwarz, als ob sie Kienruß von sich gegeben hätte. Auf der ganzen Reise hatte sie noch kein einziges Wort gesprochen, ihre Lippen waren fest geschlossen, sie litt entsetzlich. Dann war Erbrechen eingetreten, und sie hatte das Bewußtsein verloren. Sobald sie den Mund öffnete, hauchte sie einen entsetzlich stinkenden Atem aus, einen Pestgeruch, der den Magen zum Umwenden brachte.

»Das kann man unmöglich aushalten«, murmelte Frau von Jonquière, die sich einer Ohnmacht nahe fühlte, »es muß etwas Luft gemacht werden.«

Schwester Hyacinthe war gerade damit fertig geworden, die Grivotte auf ihre Kissen zu betten.

»Gewiß, öffnen wir ein paar Minuten das Fenster. Aber nicht auf dieser Seite hier, denn ich habe Angst vor einem neuen Hustenanfall... Öffnen Sie es auf Ihrer Seite.«

Die Hitze wurde immer ärger. Man erstickte fast in der dicken, ekelhaften Atmosphäre. Es war eine wirkliche Erleichterung, als frische Luft hereinkam. Einige Minuten gab es jetzt andere Geschäfte zu besorgen, und eine allgemeine Reinigung fand statt. Die Schwester wusch alle Geschirre und Becken, deren Inhalt sie zum Fenster hinausschüttete, während die zur Hilfe beigegebene Dame mit einem Schwamme den Fußboden auftrocknete. Dann gab es ein neues Geschäft: die vierte Kranke, die sich bisher noch nicht gerührt hatte, ein zartes Mädchen, dessen Gesicht ganz von einem schwarzen Tuche verhüllt war, sagte, sie hätte Hunger.

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Umfang:
720 S.
ISBN:
9783754179185
Verleger:
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Bookwire
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