Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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10

Der Stamm des Kastanienbaums maß einen Durchmesser von einem Meter. Es war nur ein Baum unter vielen, die die Straße säumten. Doch Jean-Yves fühlte sich wie magisch angezogen. Er ging darauf zu, umrundete den Stamm und sah nichts, keine Einkerbung, keine Risse in der Rinde, nichts.

Ihr Tod hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen.

Er spürte den Schmerz unerwartet heftig. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, in dieses Dorf zurückzukehren.

Damals hatte er endlich Hoffnung gefasst, gemeinsam einen Weg gefunden zu haben, um miteinander glücklich zu sein. Seine Frau wollte ihr Leben verändern, hatte sie ihm mitgeteilt. Anstatt Verdacht zu schöpfen, hatte er sich gefreut. Was war er nur für ein Idiot gewesen? Wie hatte er nur so blind vertrauen können?

Er schüttelte seinen Kopf.

Über Vertrauen hatte er damals keine Sekunde nachgedacht. Nur an ihre wiederkehrende Lebensfreude. Irrtümlicherweise hatte er sie auf sich selbst bezogen.

Und was war dabei herausgekommen? Ihre Leiche in den Blechteilen eines fremden Autos, das sie so fest umschlossen hatte, dass die Feuerwehr ihre Überreste heraus schweißen musste.

Innerlich aufgewühlt wandte er sich ab. Er sah in bedauernde Gesichter. Das fehlte noch. Mitleid war das Letzte, was er jetzt brauchte. Alle Kollegen hatten um den Zustand seiner Ehe gewusst, aber niemand hätte sich je gewagt, ihn darauf anzusprechen. Und das war auch besser so. Sogar jetzt noch – Jahre später – spürte er wieder das gleiche kollektive Mitleid. Brummig wies er sie an, weiter nach Annabel zu suchen.

Emsig drehte sich jeder in eine andere Richtung und ging seiner Arbeit nach. Die Felder wurden systematisch in breiten Reihen abgegangen. Sie durchstreiften Wälder, durchsuchten Ruinen, leerstehende Häuser, Wassergräben, Hundehütten und sogar den Kindergarten, der abends menschenleer war.

Hundestaffeln rückten an.

Winseln und Bellen der deutschen und belgischen Schäferhunde erfüllten die Felder. Von Annabel keine Spur.

Die Sonne ging unter. In der Dunkelheit mussten sie ihre Arbeit abbrechen. Ein Blick zum Himmel gab Jean-Yves das ungute Gefühl, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Das fehlte noch. Wie lange konnte es ein vierjähriges Mädchen bei stürmischem Herbstwetter draußen aushalten?

11

Behrendt saß in Tanjas Büro - auf Tanjas Platz. Das war kein gutes Zeichen. Solange Heinrich Behrendt nur Kriminalhauptkommissar und ihr Vorgesetzter gewesen war, hatte ihre Zusammenarbeit reibungslos funktioniert. Doch seit er ihre Mutter geheiratet hatte, traten ständig Spannungen auf – sei es zwischen ihnen beiden oder von Seiten der Kollegen, die diese Verbindung argwöhnisch beobachteten. Vermutlich befürchtete jeder, Tanja könnte aus dieser familiären Verflechtung Vorteile für ihre Karriere ziehen. Dabei lagen die Dinge genau umgekehrt. Behrendt würde einen Teufel tun und seine Stieftochter bevormunden. Umso trauriger war es für Tanja, dass ihr niemand von den Kollegen glauben wollte. Es wurde Zeit, dass sich ihre Arbeitsbedingungen wieder verbesserten. Denn sie liebte diese Arbeit und wollte auf keinen Fall damit aufhören. Also hoffte sie weiterhin darauf, fernab der Kollegen in Frankreich ermitteln zu dürfen, wo der Abstand ihr Gelegenheit geben würde, über alles nachzudenken. Doch so, wie Behrendt gerade aussah, ahnte sie, dass sie ihre Hoffnungen schnell begraben konnte. Sein schütteres Haar stand wie elektrisiert vom Kopf ab, während er ein Stück Papier in seinen Händen drehte. Seine Brille saß auf seiner Nasespitze, damit er Tanja über den Rand hinweg besser sehen konnte. So verfolgte er jede ihrer Bewegungen, bis sie sich endlich auf dem Besucherstuhl vor ihrem eigenen Schreibtisch niederließ.

„Sagt dir der Name Daniela Morsch etwas?“, fragte er anstelle eines Grußes.

„Nein. Sollte er?“

„Allerdings. Wenn du eine gute Kriminalkommissarin sein willst, musst du mehr darüber wissen.“ Diese Spitze saß. „Daniela Morsch verschwand vor zwei Jahren in Potterchen.“

Tanja erschrak.

„Das Kind war damals zwei Jahre alt. Es wurde nie gefunden.“

Tanja spürte, wie ihr schummrig wurde. Sie starrte ihren Chef und Stiefvater fassungslos an.

„Ich bin mit dem Vater des Kindes verabredet“, sprach Behrendt weiter. „Er ist alleinerziehend. Leider geht es ihm seit dem Verschwinden seiner Tochter nicht so gut, wie ich erfahren habe. Er kann seiner Arbeit nicht mehr nachgehen, ist Hartz IV-Empfänger.“

„Warum du?“, fragte Tanja misstrauisch. „Ist das nicht die Aufgabe von Dieter Portz?“

„Weil ich nicht an meinem Stuhl festgewachsen bin“, antwortete Behrendt pikiert. Er lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück, nahm seine Brille ab und rieb sich über die Nasenwurzel, während er weitersprach: „Ich mache das nicht, um dich zu ärgern. Ich mache mir Sorgen um dich, weil ich befürchte, dass du dich aus einem Gefühl der Loyalität heraus in einen Fall stürzt, der dich überfordern könnte.“

„Du behandelst mich wie ein kleines Kind, seit ich den Fall der verschwundenen Annabel übernehmen will. Warum?“, fragte Tanja in einem patzigen Tonfall.

„Weil es mir nicht egal ist, was mit dir passiert.“

Tanja schluckte. Diese Worte trafen sie unvermittelt. Damit brachte er etwas zum Ausdruck, was sie bei ihren hitzigen Diskussionen um ihren Auslandseinsatz nicht bedacht hatte: Gefühle. Sie war ihm nicht egal. Diese Information brachte sie aus dem Konzept. Hatte sie bisher überreagiert und seine Reaktionen falsch interpretiert? Hatte sie ihm seit seiner Heirat ihrer Mutter Unrecht getan? Sie entschuldigte sich für ihre Schroffheit.

„Die Franzosen wenden andere Arbeitsmethoden an als wir“, sprach Behrendt nach der kurzen Unterbrechung weiter. „Du kennst dich damit nicht aus. Ich auch nicht. Deshalb wissen wir nicht, was auf dich zukommt.“

„Heißt das, mein Antrag auf den Einsatz als Verbindungsbeamtin wurde genehmigt?“

Behrendt nickte.

Tanjas Augen leuchteten auf.

Wo war der Kapuzenmann? Sie fror ganz fürchterlich.

Sie schlang ihre dünnen Arme um ihren Körper. Damit versuchte sie, sich selbst zu wärmen. Aber es gelang ihr nicht. Sie wollte einen Schritt nach vorne wagen, um zu sehen, ob er wieder am hellen Rund über ihr stand und lauerte. Aber ihre Beine fühlten sich steif an. Sie konnte sich kaum bewegen. Sie versuchte es trotzdem, fiel dabei hin. Der Schmerz war schrecklich. Sie weinte leise, wollte auf keinen Fall, dass der Kapuzenmann sie hörte. Dann könnte er sie finden und schnappen. Sie schaute nach oben.

Das Rund, an welchem er eben noch gestanden hatte, war gar nicht mehr hell. Im Gegenteil. Jetzt war es dunkel. Es gab kein Licht mehr. Hastig atmete sie ein und aus. Die Luft brannte in ihrer Lunge. Es war noch genug davon da. Das beruhigte sie.

Sie stellte sich auf ihre zitternden Beine und streckte ihre Hände nach oben. Der Ausgang lag viel zu hoch. Da kam sie nicht dran. Sollte sie laut um Hilfe rufen? Bei dem Gedanken spürte sie schon wieder diese schreckliche Angst, der Kapuzenmann könnte sie hören.

Er war überall. Er wartete auf sie.

Und wenn er wusste, wo sie steckte, kam er sie holen. Nein. Sie durfte nicht rufen. Sie durfte keinen Laut von sich geben. Sie musste ganz still bleiben, damit der Kapuzenmann sie nicht fand.

In der Stille hörte sie ein ganz leises Rieseln unter ihren Füßen. Was war das?

12

Nach erfolgloser Suche mittels Hundestaffel, DRS und Hubschrauber gab Jean-Yves Vallaux Großalarm. Die Police National stellte eine zentrale Einheit zur Verfügung. Als Büro diente vorübergehend das Gebäude der Gendarmerie in Sarre-Union. Sie sandten Kollegen in die benachbarten Gemeinden Sarreguemines in Lothringen und Drulingen im Krummen Elsass aus, um dort ebenfalls nach dem Kind zu suchen. Die einzige Mitarbeit, die Jean-Yves bisher noch nicht hatte mobilisieren können, war die der Einwohner von Potterchen. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sie von der Dringlichkeit der Suchaktion zu überzeugen. Einerseits hatten einige von ihnen bereits ihre Schuldigkeit getan. Aber das konnte nicht alles gewesen sein. Es ging um ein kleines Mädchen, das immer noch spurlos verschwunden war. So etwas konnte eine kleine Gemeinde wie Potterchen nicht einfach kalt lassen.

Er ahnte, woran es lag. Sie kannten ihn. Deshalb sahen sie es nicht ein, sich seinen Anweisungen zu fügen. Auch seine Versuche, Pascal Battiston zu den Ereignissen während des Ausrittes zu befragen, waren an den ständigen Spannungen zwischen den beiden Männern gescheitert. Ein Zustand, der Jean-Yves grämte. Das Leben eines Kindes durfte nicht an den Launen dieses unfähigen Reitlehrers, der gleichzeitig der Schwiegersohn des Bürgermeisters und der Sekretär der Mairie war, scheitern. Aber gegen diesen Mann war Jean-Yves machtlos – auch wenn er es sich selbst nicht eingestehen wollte. Sein ganzes Leben, sein Handeln und sein Fühlen in Potterchen waren bisher von Pascal Battiston beherrscht worden. Wie es aussah, hatte sich daran nichts geändert, kaum dass er zurückgekehrt war.

Sein letzter Ausweg war der verzweifelte Versuch einer Gemeindebesprechung, zu der er sämtliche Dorfbewohner in die Mairie von Potterchen eingeladen hatte.

Diese Hürde wäre überwunden. Nun stand er vor der Nächsten.

Enorme Wut stieg ihn ihm hoch, als er im Büro der Mairie ausgerechnet Pascal Battiston begegnete. Er ahnte, dass dieser Mann mit seiner ungebetenen Anwesenheit seine Autorität untergraben wollte. Das durfte Jean-Yves nicht zulassen. Nun galt es, keine Emotionen zu zeigen, denn damit spielte er diesem Gernegroß nur in die Hände.

 

Sie standen sich gegenüber, ihre Gesichter auf gleicher Höhe.

Jean-Yves sprach so ruhig wie möglich: „Ich habe die Mairie für eine polizeiliche Besprechung reservieren lassen.“

„Ich weiß.“ Die Hochnäsigkeit des Gemeindesekretärs provozierte ihn.

„Deshalb bitte ich Sie, mir diesen Platz zu überlassen.“

„Das ist mein Platz. Also habe ich jedes Recht, hierzubleiben.“

Jean-Yves spürte, wie sein Geduldsfaden riss. „Sie sind hier nur die Sekretärin“, rutschte es ihm heraus. „Also gehen Sie bitte zu den anderen Dorfbewohnern.“

„Wir können es ja darauf ankommen lassen und herausfinden, wer hier mehr Mann ist: Sie oder ich“, kam es scharf zurück. Die wenigen anwesenden Dorfleute lauschten dem Streitgespräch gespannt. Jean-Yves ärgerte sich über seinen Lapsus. Pascal Battiston hatte genau unter die Gürtellinie getroffen. In Boshaftigkeit war dieser Mann nicht zu schlagen. Aus Angst, es könnte zu viel enthüllt werden, reagierte Jean-Yves darauf mit Schweigen.

Der Raum füllte sich, bis er fast aus den Nähten platzte.

Dem Commandant blieb keine andere Wahl, als sich wieder an den Gemeindesekretär zu wenden: „Können wir in einen Schulraum ausweichen?“

„Davon haben Sie nichts gesagt.“

Jean-Yves spürte den starken Wunsch, diesem Mistkerl ins Gesicht zu schlagen und mit einem einzigen Schlag die Hochnäsigkeit auslöschen. Aber er befand sich hier in seiner Funktion als Commandant. Also reagierte er höflich: „Ja, sehen Sie nicht, dass der Platz für die vielen Menschen nicht reicht?“

Gemurmel setzte ein. Jean-Yves konnte den Auslöser dafür lange nicht erkennen, bis ein kleiner Mann mit dunklen Haaren und Schnauzer vor ihm stand: der Bürgermeister.

„Wir gehen in eines der Klassenzimmer“, schlug Le Maire vor und wedelte mit einem Schlüssel. Jean-Yves nickte zustimmend. Es war das erste Mal, dass er mit diesem Mann einer Meinung war.

Gemeinsam überquerten sie den kleinen Schulhof und betraten das Schulgebäude durch eine schmale Tür. Das Klassenzimmer war für Grundschüler eingerichtet. Die fest montierten Tische und Bänke waren gerade einmal für Sechs- bis Zehnjährige geeignet. Den Erwachsenen blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben.

Langsam kehrte Ruhe ein.

Jean-Yves wollte gerade mit der Besprechung beginnen, als die Tür nochmals aufgerissen wurde. Verärgert richtete er seinen Blick auf den Störenfried und traf auf Tanja Gestier. Sofort schlug sein Herz schneller. Also würde sie mit ihm gemeinsam an dem Fall arbeiten. Der Gedanke gefiel ihm. Mit einem Lächeln bat er sie, den Platz neben ihm einzunehmen. Er stellte den Neuzugang als Verbindungsbeamtin aus Deutschland vor, womit das neugierige Getuschel, das seit ihrer Ankunft den Raum beherrschte, noch weiter anschwoll. Immer wieder glaubte er, den Namen seiner Frau zu hören. Er warf einen Blick auf Tanja und ahnte, was in den Köpfen der Dorfbewohner vor sich ging. Ihr ebenmäßiges Gesicht, eingerahmt von langen dunklen Haaren, konnte auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, er habe sie in anderer Absicht hierher bestellt. Wie borniert und kleingeistig diese Menschen doch waren. Zum Glück wurde es wieder ruhiger. Gleichzeitig beruhigte auch er sich.

Endlich konnte die Besprechung beginnen.

„Wir haben den Umkreis des Dorfes weiträumig abgeriegelt – und zwar die Nachbardörfer Harskirchen, Willer, Keskastel, Hinsingen, Bissert und Altwiller“, begann Jean-Yves zu sprechen. Die Leute murmelten. „An sämtlichen Ortsausgängen stehen Posten der Police Nationale und führen Kontrollen durch. Die ersten Suchtrupps haben nichts gefunden. Sollte jemand aus dem Dorf bereit sein, nach dem Kind zu suchen, soll er sich bitte bei den Brigadiers melden und sich einer Gruppe von Fachleuten anschließen, um keine zusätzlichen Spuren zu hinterlassen, die später ausgewertet werden müssen.“

„Wir wären ja schön blöd“, murrte eine alte Frau mit langen grauen Haaren. „Und du erntest hinterher die Lorbeeren für die Arbeit, die wir gemacht haben?“

Das nahm Tanja zum Anlass, sich zu äußern: „Hier habe ich ein Foto von Annabel Radek.“ Sie ging durch die Reihen und verteilte die Kopien. „Das Mädchen ist vier Jahre alt. Es hat blonde, lockige Haare, ist einen Meter und zehn Zentimeter groß. Es ist schlank und trug zuletzt, bevor es verschwand, einen blauen Jeansoverall und einen Anorak mit rosa Elefanten darauf. Sie ist ein lebenslustiges und liebenswertes Mädchen. Sie liebt Pferde, weshalb sie zu dem Reitstall in Potterchen gelaufen ist. Das war am Freitag, dem 12. Oktober. Dort hat man sie auf ein Pony aufsteigen sehen, von dem sie runterfiel und nicht mehr gefunden wurde. Das ist das Letzte, was wir von ihr wissen. Die Mutter von Annabel ist jedem für seine Hilfe dankbar. Sie kann leider nicht hierbleiben. Sie ist vor Kummer krank geworden. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum sie zu Hause bleiben muss. Falls sich jemand bei ihr meldet und etwas über das Kind aussagen will, muss sie erreichbar sein.“ Damit gelang es Tanja, den Unwillen der Dorfbewohner zu brechen. „Wenn Sie dieses Kind gesehen haben - egal wie banal Ihnen die Situation auch erscheinen mag – sagen Sie uns bitte Bescheid. Wir sind für jeden Hinweis dankbar.“

Jean-Yves war froh für diese Geste. Ihm wäre so etwas nicht eingefallen. „Das war gut“, flüsterte er.

Schon begannen die Fragen aus dem Publikum.

„Welches Auto hat Frau Radek gefahren?“, meldete sich ein Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Sogar sein großer Hut schimmerte in dieser düsteren Farbe, den er sich nicht bemüßigt fühlte, für diesen Anlass vom Kopf zu nehmen.

„Einen Daihatsu Cuore“, antwortete Tanja.

„Können die Deutschen nicht mal ein Auto fahren, das wir kennen?“, lautete die Reaktion darauf. „Renault oder Peugeot machen doch auch gute Autos.“

„Monsieur Schweitzer“, mischte sich Jean-Yves ein. „Wenn Sie ein Auto gesehen haben, das Sie nicht kennen, dann sagen Sie uns das bitte.“

„Das ist es ja. Ich habe am 12. Oktober ein kleines rotes Auto durch das Dorf fahren sehen. Aber einen Fuore - oder wie auch immer das Auto heißt - kenne ich nicht.“

Sabines Auto war rot, schoss es Tanja durch den Kopf.

„Den ganzen Aufwand hatten wir schon einmal“, murrte wieder die alte Dame mit den langen grauen Haaren. „Zellemols ging es auch um ein düttsches Mädchen.“

„Sie erinnern sich gut“, merkte Jean-Yves an und bemühte sich um Gelassenheit. „Das war vor zwei Jahren. Das Mädchen hieß Daniela Morsch und wurde nie gefunden.“ Wieder entstand Gemurmel. „Damals hat die Gendarmerie von Sarre-Union die Untersuchung geleitet.“

„Und unser Bürgermeister“, fügte die Alte lautstark an. „Warum dürfen wir uns dieses Mal nicht an ihn wenden?“

„Das dürfen Sie, das erschwert aber nur die Arbeit, weil der Bürgermeister alle Informationen an uns weitergeben muss.“ Jean-Yves’ Grinsen gefror in seinem Gesicht.

„Warum?“

„Damals wie heute ging es um ein deutsches Mädchen, das hier bei uns in Frankreich verschwunden ist. Da unsere beiden Staaten der EU nicht nur angehören, sondern bezeichnend durch den Elysée-Vertrag aus dem Jahre 1963 als Antriebsmotor für die Europäische Union angesehen werden und unser deutsch-französisches Verhältnis weiterhin freundschaftlich bleiben soll, ist es ratsam, die Problematik genauso ernst zu nehmen, als sei eines unserer eigenen Kinder vermisst.“ Jean-Yves holte tief Luft. „Und da eine bisherige Aufklärungsquote von null Prozent für die Deutschen nicht hinnehmbar sein dürfte, sieht der Untersuchungsrichter größeren Handlungsbedarf vor.“

„Heißt das, Sie geben dem Bürgermeister die Schuld daran, dass das andere Mädchen nicht gefunden wurde?“

„Nein. Das heißt, dass der Bürgermeister nicht für Polizeiarbeiten qualifiziert ist. Deshalb werden jetzt die Police Nationale, meine Verbindungsbeamtin aus Deutschland und ich die Ermittlungen leiten.“

Die Alte stellte ihre Fragen ein.

Jean-Yves atmete erleichtert aus und sprach weiter: „Das Haus von Sabine Radek – die Nummer Zwölf - ist ab sofort die Anlaufstation für alle Belange, Mitteilungen oder Fragen hier in Potterchen. Unsere Polizeizentrale besetzt für den Zeitraum, den wir für die Suche nach dem Kind benötigen, das Gebäude der Gendarmerie vor Ort in Sarre-Union. Unsere Ansprechpartner sind die beiden Brigadiers Fournier und Legrand aus Sarre-Union.“ Jean-Yves drehte sich zu einem großen und einem kleinen Mann in Uniform, die sich verbeugten. Geraune ging durch die Menge.

„Die aufsichtführende Dienststelle ist La Direction Interregional de Police Judiciaire in Strasbourg unter der Leitung des Juge d’instruction, in dessen Auftrag ich hier bin. Und von Saarbrücken wurde Lieutenant de Police Tanja Gestier als Verbindungsbeamtin vor Ort eingesetzt.“

*

Tanja Gestier und Jean-Yves standen vor dem Gebäude der Mairie und schauten den letzten Dorfbewohnern nach, wie sie in ihre Häuser zurückkehrten. Der Mann ganz in Schwarz steuerte das Nachbarhaus an. Tanjas Blick folgte ihm, während er das Gartentor schloss, die Haustür ansteuerte und verschwand. Es war ein gelbes Haus, durch eine Backsteinmauer mit schmiedeeisernem Ziergitter von der Straße abgetrennt.

„Ist das der Pfarrer?“

Jean-Yves brach in herzhaftes Lachen aus. „Deine Kombinationsgabe lässt zu wünschen übrig.“

Verärgert brummte Tanja: „Du hast mich gerade geduzt.“

Jean-Yves schaute sie an. Sein Blick war nicht provokant, auch nicht belustigt. Tanja befürchtete schon, er schaute ganz tief in sie hinein.

„Du mich auch.“

Tanja überlief ein Schauer.

Jean-Yves räusperte sich und erklärte: „Er ist kein Pfarrer, er nennt sich Monsieur Schweitzer und gehört zu den Leuten hier im Dorf, die sich unbeliebt machen können.“

Tanja schaute Jean-Yves fragend an, der daraufhin anfügte: „Schau dir mal das Bauwerk hinter seinem Haus an.“

Tanjas Blick folgte seinem Finger. Die gelbe Farbe der Hauswand schimmerte durch die hereinbrechende Dunkelheit. Hinter dem Garten verfinsterte sich die Sicht. Eine hässliche Steinwand ragte in die Höhe. Hohlräume zwischen dicken Gitterstäben waren mit Steinen aufgefüllt. Ein Berg loser Steine lagerte davor und wartete darauf, die restlichen Lücken der grotesken Mauer zu füllen.

„Was ist das für ein monströses Gebilde?“

„Das ist eine Mauer. Damit will Monsieur Schweitzer den Lärm vom Schulhof und vom Kinderspielplatz abschirmen.“

Tanja ging auf den Schulhof. Von dort erkannte sie, wie hoch die Mauer aufragte. Aber das war nicht alles, was sie erschütterte. Hinter den losen Steinen stapelte ein Holzhaufen in Monsieurs Schweitzers Garten, der auf den ersten Blick den Eindruck eines Scheiterhaufens machte.

„Hier leben die Menschen noch wie im Mittelalter: Steinhaufen, Scheiterhaufen.“ Sie stöhnte.

„So schlimm ist Monsieur Schweitzer nun auch wieder nicht. Er macht sich zwar Feinde mit seiner provokanten Mauer. Aber einen Scheiterhaufen hat er deshalb noch lange nicht gebaut. Das ist ein ganz normaler Holzvorrat. Hier wird mit Holz geheizt.“

„Doch nicht mit Reisig“, widersprach Tanja, als hätte sie Ahnung von Holz.

„Das nimmt man zum Anzünden.“

Sie passierten die Kirche, deren rosa Turm in den dunklen Himmel ragte. Die Uhr schlug acht Uhr. Die Glocken setzten zu einem lärmenden Geläut an. Lautes Hundejaulen zog durch die hereinbrechende Nacht und übertönte die Glocken.

Die Geräuschkulisse ließ Tanja zusammenzucken. Sie hielt sich die Ohren zu und schaute sich um. Ihr Blick fiel auf einen Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seine Gestalt war leicht gebückt, sein Gang schwankend. Schwarze fettige Haare klebten an seiner Stirn. Eine dicke Brille und der vorstehende Oberkiefer mit weit auseinander stehenden Zähnen verunzierten sein Gesicht. Kauende Bewegungen machte er, wobei ihm Speichel aus beiden Mundwinkeln tropfte. Dann zog er eine Grimasse, die Tanjas Adrenalinspiegel schlagartig ansteigen ließ.

„Das ist François. Keine Sorge, der ist geistig ein bisschen zurückgeblieben, aber harmlos“, erklärte Jean-Yves auf Tanjas erschrockenen Gesichtsausdruck.

Tanja schüttelte sich. Jean-Yves’ Worte konnten sie keineswegs beruhigen.

Wind frischte auf und heulte an verschiedenen Hausecken auf. Sie folgten der Straße, die an einem alten heruntergekommenen Bauernhof vorbeiführte. Tanja zog ihre Taschenlampe hervor und leuchtete die Trümmer ab.

 

„Falls du hier nach Annabel suchst, kann ich dir versichern, dass die CRS das schon getan hat“, kam es von Jean-Yves. „Hier ist sie nicht.“

„Die Kollegen können doch etwas übersehen haben.“

„Vor allem die französischen Kollegen“, hielt Jean-Yves dagegen.

Tanja drehte sich um. Sie sah Zorn in seinem Gesicht.

„So war das nicht gemeint“, entschuldigte sie sich schnell. „Den deutschen Kollegen passiert so was auch.“

„Okay.“ Jean-Yves gab nach. Seine Gesichtszüge blieben dabei undefinierbar. „Gehen wir doch einfach hinein.“

Der Boden war voller Löcher, durch morsche Bretter halb verdeckt. Heimtückische Fallen. Tanja schauderte bei dem Gedanken, dass ein kleines Mädchen dort hineingefallen sein könnte. Sie hob die Bretter an und leuchtete darunter. Doch Annabel war nicht dort. Sie trat immer tiefer ins Innere des zerfallenen Bauernhauses. Außer Mäusekot, Vogeldreck und Vogelnestern fand sie nichts. Angeekelt stolperte sie wieder hinaus.

Sie setzten ihren Weg fort. Zwischen restaurierten Wohnhäusern tauchten immer wieder leerstehende Gebäude auf. Tanja staunte, wie nachlässig die Immobilien im angrenzenden Frankreich behandelt wurden. Gleichzeitig keimte an jedem dieser verlassenen Baracken die Hoffnung auf, Annabel dort zu finden. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mit ihrer Taschenlampe durch die Fenster zu leuchten.

„Auch hier waren meine Kollegen“, hörte sie Jean-Yves’ Bassstimme hinter sich. „Die CRS sind gleichbedeutend mit der Bereitschaftspolizei in Deutschland. Diese Leute sind dafür ausgebildet, eine Suche gründlich durchzuführen.“

Tanja gab sich geschlagen. Sie steckte ihre Taschenlampe ein und folgte dem Commandant. Windböen bäumten sich orkanartig auf. Ihr schulterlanges Haar flatterte wild um ihr Gesicht. Mit beiden Händen versuchte sie, es zu bändigen, um etwas sehen zu können. Da fiel die Straßenlaterne aus. Alles versank in Schwärze.

Na toll. Sie spürte Unbehagen.

Die Straße machte eine langgezogene Rechtskurve. An der nächsten Straßenlampe gab es wieder Licht. Lothringische Bauernhäuser in den unterschiedlichsten Farben befanden sich zu beiden Seiten. Dazwischen offenbarten sich kleine Koppeln, auf denen Kühe lagen und wiederkäuten. An den Gleisen bogen sie rechts ab. Die Rue de la Gare führte sie zurück zu Sabines Haus. Hier wusste sie wieder, wo sie war, weil sie ihrer Freundin erst vor Tagen zu dem vermaledeiten Reitstall gefolgt war. Vor einigen Häusern standen die Bewohner, die nach der Aufregung der Besprechung noch keine Ruhe fanden. Sie sprachen über das Wetter. Der herbstliche Umschwung hatte die Bauern überrascht. Nicht jedem war es gelungen, in der kurzen Zeit die gesamte Frucht ihrer Ernte in Sicherheit zu bringen. Die Diskussionen erhitzten sich.

Bei Jean-Yves’ und Tanjas Anblick riefen sie. „Bonjour. Ça va?“

Jean-Yves tippte zum Gruß mit der Hand an die Stirn.

„Jetzt noch am Arbeiten?“

„Oh oui, Madame“, antwortete Jean-Yves. „Die Suche nach dem Kind ist rund um die Uhr im Gange.“

„Man kennt dich?“, bemerkte Tanja.

Jean-Yves grinste, blieb jedoch eine Antwort schuldig.

Sie steuerten auf ein Haus zu, das sofort Tanjas Aufmerksamkeit erregte. Ein flaches, langgezogenes Haus in zartem Terrakotta mit Giebelfenstern auf dem Dach prangte im hellen Schein der Straßenlaterne. Braunrote Schwalbenschwanzziegel, braun eingefasste Fenster mit ebenfalls braun eingefassten Türen ließen das Haus wie ein Schmuckstück aussehen. Ein Schornstein ragte in den Himmel.

Ein roter Volvo näherte sich, parkte direkt vor dem Haus und eine blonde Frau stieg aus. Diese Frau war nicht bei der Besprechung im Schulhaus gewesen. Das erkannte Tanja auf den ersten Blick. So eine Schönheit hätte sie wahrgenommen. Ihre langsamen Schritte wirkten graziös. In ihrem Gesicht spiegelte sich große Freude, als ihr Blick auf Jean-Yves fiel.

„Bonjour. Ça va?“ Küsschen rechts, Küsschen links.

Tanja fühlte sich überflüssig.

„Sag nur, dich schickt Strasbourg, um das arme Mädchen zu finden?“

„Genau das.“

„Wie gut für das Kind. Wenn einer sie findet, dann du.“

„Das ist Tanja Gestier, meine Kollegin aus Deutschland“, stellte er vor.

„Ich bin Christelle Servais.“ Sie trat auf Tanja zu und begrüßte sie mit distanzierter Herzlichkeit. Tanjas Augen hafteten an Christelles Gesicht. Ihre großen Augen strahlten Stolz aus, ihre Haltung war kerzengerade, ihre Bewegungen bedacht. Blondes langes Haar rahmte ihr schmales Gesicht ein, dessen Züge Tanja an die Schauspielerin Catherine Deneuve denken ließen.

„Ich bin Grundschullehrerin hier im Dorf“, erklärte Christelle.

„Aus der Grundschule kommen wir gerade“, erwiderte Tanja .

„Ich konnte an der Besprechung nicht teilnehmen. Ich musste heute zu einer Fortbildung nach Sarre-Union.“

Regen setzte ein.

Ohne jede Vorankündigung begann es wie aus Eimern zu gießen. Damit war das Gespräch binnen Sekunden unterbrochen. Christelle eilte in das schöne Bauernhaus, Jean-Yves und Tanja liefen die letzten Meter zu Sabines Haus.

Dunkel hob sich die Fassade mit der alten Scheune im Dämmerlicht ab. Hohe Bäume bogen sich im Wind, als wollten sie sich auf dem Haus niederlegen. Tanja zog den Ersatzschlüssel hervor, den sie von Sabine bekommen hatte. Damit sperrte sie die Haustür auf.

Im Inneren war es klamm und kalt.

„Ich werde heizen“, beschloss Jean-Yves sofort.

Verblüfft fragte Tanja: „Heißt das, dass du hier wohnen willst?“

„Klar. Hier gibt es Zimmer genug für uns beide“, antwortete Jean-Yves. „Hier ist die Anlaufstelle für die Dorfbewohner und die Kollegen, die wir in Drulingen, Sarreguemines und Sarre-Union eingesetzt haben. Es muss also immer jemand hier sein.“

„Heißt das, dass du auch einen Schlüssel zu diesem Haus bekommen hast?“

„Genau das.“ Jean-Yves ließ einen einzelnen Schlüssel an einem Lederetui vor ihren Augen hin und her baumeln.

Tanja fühlte sich überrumpelt.

„Außerdem will ich mir unnötige Wege ersparen. Bis Saverne sind es über dreißig Kilometer.“

Genau aus dem Grund wollte Tanja hier übernachten. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie ließ ihren Blick schweifen, sah die großen Zimmer, die Dusche, die Treppe nach oben und gab sich innerlich einen Ruck. Der Commandant hatte recht mit seiner Behauptung, hier sei für beide genügend Platz. Also ließ sie ihn das Feuer schüren. In der Zwischenzeit schaute sie sich in dem Haus genauer um. Der Boden der unteren Zimmer bestand aus sandfarbenen Steinplatten, die Decke wurde mit starken, dunklen Holzbohlen gestützt. Es sah anheimelnd aus. Die Zimmer im ersten Stock waren klein, mit Teppichboden ausgelegt, die Decke ebenfalls mit Holzbohlen gestützt. Vier Zimmer, die zu einem quadratischen Flur in der Mitte führten. Alle waren komplett möbliert. Sabines Erbe war bezugsfertig.

Tanja entschied sich für ein Zimmer zur Dorfstraße, das mit einem großen Doppelbett ausgestattet war, bevor Jean-Yves Ansprüche darauf stellen konnte. Hier würde sie sofort mitbekommen, sollte sich jemand anschleichen.

Jean-Yves rief nach einer Weile: „Der Kamin ist an.“

Tanja trat die schmale Steintreppe hinunter. Sie fand Jean-Yves im Wohnzimmer. Er saß dicht vor dem Kamin und rieb sich die Hände.

Tanja entschied sich für das zerschlissene Sofa und legte sich der Länge nach darauf. Die Wärme, die das Feuer spendete, tat wohl. Sie spürte, wie augenblicklich große Müdigkeit über sie kam.

„Was weißt du über den Vermisstenfall von vor zwei Jahren?“ Mit dieser Frage unterbrach Jean-Yves’ dunkle Stimme die Stille.

Sie überlegte eine Weile, bis sie eine Gegenfrage stellte: „Hängt der alte Fall mit unserem zusammen?“

„Ich glaube ja.“

Tanja berichtete ihm das wenige, was sie von Behrendt erfahren hatte, worauf Jean-Yves nickte und meinte: „Finden wir heraus, was damals passiert ist.“

„Und wo ist da der Zusammenhang – außer, dass beide Mädchen in Potterchen verschwunden sind?“