Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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5

Die Türklingel riss Tanja aus ihren Gedanken. Sabine stand wie erstarrt am Fenster. Tanja wartete, ob sie reagierte, doch das tat sie nicht. Also erhob sie sich und öffnete die alte, massive Eichentür.

Vor ihr stand ein Hüne von einem Mann. Schwarze Haare kräuselten sich über seiner breiten Stirn, ein Dreitagebart betonte ein starkes Kinn. Stahlgraue Augen blitzten unter dunklen Augenbrauen hervor. In der einen Hand hielt er lässig seine Anzugjacke, in der anderen seinen Dienstausweis. Sein Hemd war bis zur Hälfte geöffnet und gab die Sicht auf eine behaarte Brust frei.

So sieht also ein Hauptkommissar in Frankreich aus, überlegte Tanja. Dabei überlegte sie zu lang. Das merkte sie, als er sie mit einem leichten, französischen Akzent fragte: „Sind Sie Madame Sabine Radek?“

„Oh. Äh… Nein.“ Verdammt, warum stammelte sie? „Sabine Radek ist im Haus.“

Um die Tür ohne peinliches Kopf Anstoßen zu passieren, musste er sich bücken. Tanja schaute ihm dabei interessiert zu. Er ging ihr voraus in die geräumige Küche, die durch sein Eintreten plötzlich klein wirkte.

Sabine stand an einen der Schränke gelehnt, bleich und zitternd.

„Commandant Jean-Yves Vallaux. Ich bin von der Direction Interregional de Police Judiciaire Strasbourg hierher beordert worden“, stellte er sich vor. „Und wer sind Sie?“

„Das ist Sabine Radek“, erklärte Tanja, „die Mutter des vermissten Mädchens.“

„Das habe ich mir gedacht“, erwiderte der große Mann mit einem amüsierten Grinsen. Bevor er noch etwas anfügen konnte, sprach Tanja hastig weiter: „Es stört Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich an Frau Radecks Stelle Ihre Fragen beantworte?“ Auf das Schweigen des Commandants fügte sie erklärend an: „Sie fühlt sich nicht gut.“

„Sind Sie, wie sagt man bei Ihnen, l’infirmière?“

„Nein, das bin ich nicht“, stellte Tanja klar und warf trotzig ihre langen, dunklen Haare zurück. „Ich bin nicht Sabines Pflegerin, ich bin Tanja Gestier, Kriminalkommissarin der Landespolizeidirektion Saarbrücken.“ Sie trug extra dick auf, in der Hoffnung, dass es gut klang. Aber schon der nächste Satz machte ihr klar, dass der Commandant durch diese Äußerung nicht zu beeindrucken war.

„Von meiner Dienststelle in Strasbourg ist mir nichts über eine Verbindungsbeamtin aus Saarbrücken mitgeteilt worden.“

„Verbindungsbeamtin?“ Tanja ahnte, dass sie mit dieser Frage ihre Unwissenheit verraten hatte. Aber jetzt war sie heraus.

„Die Stimme aus Deutschland?“

„Die Stimme aus Deutschland“, wiederholte Tanja begriffsstutzig.

„Wir haben es hier mit einem Verbrechen in Frankreich zu tun, dessen Opfer aus Deutschland stammt“, erklärte er endlich genauer.

Jetzt verstand Tanja. Wenn sie sich weiter so anstellte, konnte sie ihren Einsatz in Frankreich schnell wieder vergessen.

„Ihre Kollegen haben wohl noch nichts über meine Rolle in diesen Ermittlungen erfahren“, bluffte Tanja in ihrer Not.

„Oh. Le Juge d’Instruction hat sich bereits über den Fall informiert. Ich werde ihn wohl über sein Versäumnis aufklären müssen.“

„Wer ist der Juge d’Instruction?“ Tanja ahnte Schlimmes.

„Der Untersuchungsrichter, der das Verfahren überwacht.“

Der große Mann grinste immer noch. Dabei zogen sich seine vollen Lippen auf der linken Seite nach oben, was anzüglich wirkte. Tanja bemühte sich, diesen Ausdruck zu übersehen. Besser war es, sich jetzt darum zu kümmern, dass ihr der Fall nicht aus den Händen glitt. Und das konnte ihr nur gelingen, indem sie umgehend nach Saarbrücken fuhr. Dort musste sie alle Hebel in Bewegung setzen, um als Verbindungsbeamtin eingesetzt zu werden. Nur welche Hebel waren dafür nötig? Sie fühlte sich so hilflos, kannte sich mit den Regelungen der deutsch-französischen Zusammenarbeit der Polizei nicht aus.

„Ich muss zuerst nach Hause fahren, bevor ich hier mit meiner Arbeit beginnen kann“, erklärte sie so lässig, wie es ihr gerade möglich war.

„Wirklich?“ Wieder dieses Grinsen.

„Ja. Warum?“

„Als Verbindungsbeamtin sind Sie hier unentbehrlich.“

Jetzt nahm er sie auch noch auf die Schippe. Tanja kochte innerlich. „Keine Sorge. Ich werde zurückkommen.“

„Lassen Sie mich nicht zu lange warten.“

„Was wird hier gespielt?“, fragte Sabine dazwischen. „Ich kann es nicht fassen. Annabels Leben ist in Gefahr und Sie haben nichts Besseres zu tun, als meine Freundin anzubaggern.“

Erschrocken wich Jean-Yves Vallaux zurück. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er hob beide Hände als Entschuldigung, doch diese Geste sah Sabine nicht mehr. Sie brach in Tränen aus, ging zu Boden und schüttelte sich vor Weinkrämpfen.

„Am besten fahre ich sofort los und kümmere mich um alles.“ Tanja beugte sich erschrocken zu ihrer Freundin herunter und meinte: „Du musst zu einem Arzt gehen. Du brauchst etwas zur Beruhigung.“ An den Commandant gewandt fragte sie: „Gibt es in Potterchen einen Arzt?“

„Nein. Der Nächste ist in Sarre-Union. Und ich bezweifle, dass der noch erreichbar ist.“

„Dann komm mit mir nach Saarbrücken“, schlug Tanja vor.

„Nein. Ich bleibe hier“, stellte Sabine klar.

6

Im Büro der Kriminalpolizeiinspektion in Saarbrücken herrschte eine Betriebsamkeit, die Tanja sofort das Schlimmste ahnen ließ. Sollte dort die Hölle los sein, würde sie niemals die Möglichkeit bekommen, im Elsass nach der Tochter ihrer Freundin zu suchen.

Milan Görgen, ihr Teampartner, sah sie als Erster. Sofort sprang der Kollege von seinem Platz auf und eilte ihr entgegen. „Unser Dienststellenleiter fühlt sich auf den Schlips getreten, weil du eine ausländische Behörde auf ihn losgelassen hast, ohne ihn vorzuwarnen.“

„Ich habe was?“ Tanja verstand gar nichts.

„Die Kripo in Strasbourg hat sich bei ihm gemeldet und nach der Entsendung einer Verbindungsbeamtin namens Tanja Gestier gefragt.“ Milan grinste, wodurch seine lange Nase noch länger wirkte und sein ganzes Gesicht mehr an einen Lausbuben, denn an einen erwachsenen, fast fünfzigjährigen Kriminalkommissar denken ließ.

Tanja stieß die angehaltene Luft aus. Dieser Mistkerl von Commandant. Er hatte sie ins offene Messer rennen lassen.

Sie steuerte ihr Büro an.

„Deine Kaffeemaschine muss zurzeit für den Abteilungskaffee herhalten“, rief Milan und folgte ihr. „Der Automat ist kaputt.“

„Das heißt also, dass ich mir jetzt einen Kaffee holen kann. Das ist alles, was mich gerade interessiert.“

„Was ist im Elsass passiert?“

Tanja schenkte sich in. Sie fühlte sich aufgewühlt. Leider schaffte es der Kaffee nicht, diesen Zustand zu mildern. Im Gegenteil. Sie verhaspelte sich ständig, während sie versuchte, Milan die wenigen Einzelheiten mitzuteilen, die sie bisher in Erfahrung gebracht hatte.

„Es geht dir also nur um einen Freundschaftsdienst?“

„Für mich ist es mehr“, murrte Tanja. „Die Tochter meiner Freundin ist im gleichen Alter wie Lara. Sie ist in einem fremden Land spurlos verschwunden. Da kann ich nicht einfach stillsitzen und hoffen, dass alles gut ausgeht.“

„Aber in Frankreich gibt es doch auch Polizei.“

„Klar. Aber Sabine vertraut mir mehr als denen.“

„Dazu kann ich dir nichts sagen. Mit der Arbeit der französischen Polizei kenne ich mich nicht aus“, gestand Milan.

„Ich auch nicht.“

„Das merkt man.“ Milan lachte. „Wie es aussieht, hast du bereits einen Fehlstart hingelegt. Übergangen zu werden, findet unser Vorgesetzter nämlich nicht so toll.“

Kaum hatte er ausgesprochen, wurde die Tür schwungvoll aufgestoßen. Dieter Portz trat mit einer Miene ein, die nichts Gutes verhieß.

„Warum stellst du mich vor vollendete Tatsachen?“, fragte er anstelle einer Begrüßung. Er lehnte sich an den Türrahmen, verschränkte die Arme vor der Brust und wippte mit seinem rechten Fuß, eine Angewohnheit, die immer dann zutage trat, wenn er nervös war. Mit seinen stechend blauen Augen fixierte er Tanja, zeigte mit dem Zeigefinger auf sie und antwortete selbst: „Weil ich dann zustimmen muss, wenn ich mein Gesicht nicht verlieren will.“

Tanja wurde ganz heiß. Mit brüchiger Stimme fragte sie: „Was heißt Gesicht verlieren?“

„Was glaubst du, wer mich über die eigenmächtigen Handlungen meiner Mitarbeiterin in Frankreich aufgeklärt hat?“, stellte Portz in schneidendem Ton eine Gegenfrage. „Nicht Tanja Gestier, wie es der vorgeschriebene Dienstweg wäre. Nein. Der Commissaire Divisionaire von Strasbourg. Und weißt du, was der Commissaire Divisionaire für einen Dienstgrad besitzt? Kriminaldirektor.“

Tanja staunte darüber, in welchen Ebenen der Fall von Annabel Radek in Frankreich gelandet war. Eigentlich ein gutes Zeichen, wäre ihr Chef nicht so stinksauer.

„Ich habe am Telefon so getan, als sei mir der Fall bekannt. Ich konnte schlecht zugeben, dass ich keine Ahnung davon habe, was meine eigenen Leute so treiben.“

Mit nervösen Schritten ging er in dem engen Raum auf und ab, bis er anfügte: „Und mit der nächsten Quizfrage kannst du den Jackpot knacken: Was glaubst du, wer der zuständige Mann dafür ist, deine Genehmigung zur Verbindungsbeamtin beim Leitenden Polizeidirektor unserer hiesigen Landespolizeidirektion zu beantragen?“

„Heinrich Behrend“, antwortete Tanja und wäre am liebsten im Boden versunken, weil Kriminalrat Behrend nicht nur für seine Unerbittlichkeit bekannt war. Er war auch ihr Stiefvater.

„Bingo. Die Kandidatin hat tausend Punkte.“

Tanja spürte, wie ihr Portz’ Vorwürfe zu viel wurden.

 

„Und wie stehen deine Chancen, wenn er mit vollenden Tatsachen überrascht wird?“

Tanja kochte innerlich.

Portz‘ Handy klingelte. Für diese Ablenkung war Tanja gerade sehr dankbar. Nach einem kurzen Wortwechsel legte er auf, warf einen grimmigen Blick auf Tanja und sagte: „Leider halten die Verbrecher im Saarland nicht still, während du in Frankreich ermittelst.“

Laut fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

7

Lara schaukelte mit großem Schwung hin und her. Tanja blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Klein und zart wirkte sie, aber ihr Gesicht drückte Mut und Entschlossenheit aus. Als sie ihre Mutter sah, ging der Übermut mit ihr durch.

„Mama. Schau mal, wie weit ich schon springen kann“, rief sie.

Tanja wollte sie aufhalten, aber da flog ihre Tochter schon durch die Luft, landete genau in Hilde Behrendts kleinem Kartoffelacker und schlug der Länge nach in den Dreck.

Das hatte Tanja kommen sehen. Erschrocken steuerte sie Lara an. Schon geschah das Unvermeidliche. Herzzerreißend begann die Kleine zu weinen.

Tanja zog sie auf die Beine, überprüfte besorgt, ob irgendwelche Knochen gebrochen waren und klopfte ihr den Sand von der Hose. Alles wirkte heil. Bis auf Laras Seelenleben, weil ihre Glanzvorführung danebengegangen war.

Tanjas Mutter kam durch die Terrassentür gelaufen und rief: „Was ist passiert?“

„Lara hat Kunststücke gemacht“, erklärte Tanja, während sie versuchte, ihre Tochter aufzumuntern, damit sie aufhörte, so laut zu weinen.

„Kunststücke?“

„Ja. Sie wollte mir zeigen, wie toll sie schon fliegen kann. Dabei hat sie die Landung vergessen.“ Tanja lachte. Lara wimmerte unvermindert weiter. „Ich gehe mit meiner Bruchpilotin mal nach oben. Wer weiß, wie viele Schrammen ich unter ihren Kleidern finde.“

„Du wirst jetzt erst einmal hier hereinkommen.“ Dieser Befehl kam von Heinrich Behrendt. Hinter seiner Frau war er in der Tür aufgetaucht. In seiner grauen Weste und dem karierten Hemd sah er eigentlich friedlich aus. Aber sein Kommando-Tonfall warnte Tanja.

Heinrich Behrendt, Kriminalrat des Landeskriminalamtes Saarbrücken, hatte vor einigen Jahren Tanjas Mutter geheiratet, als sie sich im Rahmen von polizeilichen Ermittlungen kennengelernt hatten. So war aus dem gefürchteten Oberhäuptling, wie ihn Tanjas Kollegen gerne nannten, ihr Stiefvater geworden. Das Verhältnis hatte angespannt begonnen und war es auch bis jetzt geblieben. Umso mehr ärgerte sie sich, dass er überhaupt zu Hause war. Gehörte ein Kriminalrat nicht rund um die Uhr ins Kriminalamt?

Sie fühlte sich wie auf dem „Gang nach Canossa“, während sie dem kräftigen Herrn in seine Wohnung ins Erdgeschoss folgte. Sie selbst wohnte im ersten Stock und wäre liebend gerne die Treppe hinauf geflüchtet. Aber das verkniff sie sich. Es war wichtig, den Familienfrieden zu erhalten, denn sie brauchte ihre Mutter Hilde unbedingt. Als alleinerziehende Mutter, die ihrer Arbeit als Kriminalbeamtin nachgehen wollte, war Kinderbetreuung unumgänglich. Und bis jetzt hatte ihre Mutter Lara noch immer ohne ein Wort der Beschwerde zu sich genommen – egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit.

Sie ließ sich im Wohnzimmer nieder, dem Ort, an dem sie immer ihre dienstlichen Gespräche zu Hause führten. Hilde vertrieb sich die Zeit solange mit Lara in der Küche.

„Was glaubst du eigentlich, dort in Frankreich ausrichten zu können?“, stieß Behrendt hervor.

Tanja ahnte, dass diese Frage rhetorisch war. Also schwieg sie.

„Trotz unserer deutsch-französischen Beziehungen hat jedes Land seine eigenen Gesetze und Prioritäten. Die Polizei in Frankreich legt deine Bemühungen, dem Kind zu helfen, als Einmischung aus. Also können wir uns ausmalen, was dir bevorsteht.“

Tanja schluckte.

„Du bist dort auf dich allein gestellt.“

Tanja atmete tief durch, bevor sie eine Reaktion auf den Vortrag zeigte: „Man wird mich dort bestimmt nicht foltern und vierteilen. Ich gehe offiziell als Polizeibeamtin hin und nicht heimlich als Spionin.“

„Was du willst und was du bekommst, ist noch nicht geklärt.“

Tanja sackte tiefer in den Sessel.

Doch Behrendt war noch nicht fertig: „Und täusche dich mal nicht in den Franzosen. Sie waren eine der vier Besatzungsmächte nach dem Krieg. Du weißt, welches Gebiet zu den französischen Besatzungszonen gehörte.“

„Das war 1945 - nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Tanja stöhnte. „Seitdem ist viel Wasser die Saar runtergelaufen.“

„Eine solche Vergangenheit schüttelt kein Mensch einfach ab. Unsere gemeinsame Geschichte mit Frankreich wirkt sich auch auf die Mentalitäten der Menschen im Grenzgebiet aus. Nicht überall in Frankreich sind wir Deutschen willkommen. Und umgekehrt genauso.“

„Ich will dort nicht leben, sondern arbeiten“, beharrte Tanja. Es war das erste Mal, dass sie sich gegen Behrendt durchsetzen musste. Bisher hatte sie der Einfachheit halber immer nachgegeben. Doch das war ihr jetzt nicht möglich. Zu viel lag ihr daran, ihr Versprachen Sabine gegenüber zu halten. „Es ist doch nur für diesen einen Fall.“

„Der dich innerlich viel mehr mitnimmt, als gut für objektive Ermittlungen sein kann.“

Behrendt durchschaute aber auch alles.

„Das spielt hier keine Rolle. Es geht um ein vierjähriges deutsches Mädchen. Sabine ist meine Freundin und sie vertraut mir – mehr als der französischen Polizei.“

„Ich bin mir sicher, dass die französischen Kollegen den Vermisstenfall eines vierjährigen Kindes genauso verantwortungsbewusst bearbeiten wie wir“, hielt Behrendt dagegen, was Tanja aber nicht aufhielt. „Trotzdem. Dieter Portz hat alles veranlasst, damit ich als Verbindungsbeamtin rüberfahren kann.“

„Du wirst es nicht glauben, aber dieser Antrag ist auf meinem Tisch gelandet.“

Tanjas Gesicht wurde heiß.

„Ich überlege noch, ob ich den Antrag weiterleite. Und außerdem sei auch dann noch dahingestellt, ob ihm stattgegeben wird.“ Behrendts Widerworte wollten nicht enden. „Die Bürokratie ist nicht immer nur hinderlich. In deinem Fall ist sie sogar nützlich. Denn dabei werden alle Aspekte genau durchleuchtet.“

Durch die Tür zur Küche hörte Tanja ihre Tochter drängeln. Sie wollte eine Etage höher, genau das, was Tanja jetzt auch wollte. Sie stand auf, doch Behrendt war noch nicht fertig. „Wie stellst du dir das vor? Es wird dir nicht gelingen, dort pünktlich Feierabend zu machen und nach Hause zu kommen. Du wirst Überstunden machen müssen und dabei dein eigenes Kind kaum noch sehen.“

„Darüber werde ich wohl mit Mama sprechen“, trotzte sie.

„Deine Mutter ist immer für dich und deine Tochter da. Das weißt du. Aber Lara wird es nicht gefallen, wenn du oft und lange weg bist.“

8

Das Dorf Potterchen erweckte Eindrücke in einer Heftigkeit, dass Jean-Yves fast annehmen könnte, seine Frau würde vor ihm stehen. Hier war ihr Geburtsort, hier war ihr Zufluchtsort. Nicht das Haus in Saverne, das sie gemeinsam angeschafft, restauriert und verschönert hatten. Das Haus, in dem Jean-Yves mit ihr an seiner Seite den Rest seines Lebens verbringen wollte. Hier in Potterchen. Er war dem Irrglauben erlegen, seiner Frau eine Basis der Beständigkeit, der Sicherheit angeboten zu haben, als er sie geheiratet hatte. Ihr Ja-Wort klang noch immer in seinen Ohren wie die schönste Musik. Doch schon wenige Stunden später war die Ernüchterung gefolgt. Sie hatte ihn nicht in das Haus in Saverne begleiten wollen, sondern vorgezogen, bei ihrer Schwester Christelle Servais in Potterchen bleiben. Als sie schließlich seinem Drängen nachgegeben hatte, glaubte Jean-Yves am Zenit seiner Glückseligkeit angekommen zu sein. Dabei waren es seine eigenen Gefühle gewesen, die ihn überwältigt hatten. Ihre Unruhe, die sie schon immer geplagt hatte, wollte sie nicht loslassen.

Inzwischen dachte Jean-Yves, hätte er die Anzeichen früher erkennen müssen. Doch die Veränderungen hatten sich allmählich, ganz unmerklich vollzogen. Er verdankte es seiner Selbstüberschätzung, nicht genügend auf sie geachtet, die subtilen Anzeichen und Andeutungen einfach übersehen zu haben.

Jean-Yves stand an der Rue de la Gare. Sein Blick fiel auf Christelles Haus. Nur wenige Häuser trennten es von dem alten Bauernhaus, das der unglücklichen Mutter gehörte, deren Kind er finden musste. Nur mit notärztlicher Betreuung war es ihm gelungen, die junge Frau nach ihrem Zusammenbruch wieder auf die Beine zu bekommen. Es kam ihm so vor, als zöge er verzweifelte Frauen an. Inzwischen befand sich Sabine Radek auf dem Krankentransport in ihre Heimatstadt Saarbrücken, den er für sie organisiert hatte. Er wähnte diese arme Frau in ihrem Zuhause besser aufgehoben als im Elsass, wo sie niemanden kannte.

Er spürte seinen Schmerz unvermindert stark, den Schmerz des Verlustes. War es wirklich sinnvoll, dass ausgerechnet er in Potterchen ermittelte? Ja, rief er sich ins Gedächtnis. Eine wichtige Aufgabe hatte ihn hierher geführt. Ein Kind brauchte ihn.

Selbst war es ihm nicht gegönnt, eigene Kinder zu haben. Seinem Wunsch, ein Kind zu adoptieren, war seine Frau mit Argwohn begegnet, sodass er sofort wieder von dem Gedanken abgelassen hatte. Aber nichtsdestotrotz liebte er Kinder. Er wollte alles tun, um der kleinen Annabel Radek zu helfen. Die Verzweiflung der Mutter hatte ihn noch entschlossener gemacht.

Einige Gendarmen zogen von Haus und Haus, um Befragungen nach Annabel durchzuführen. Immer, wenn sie Jean-Yves sahen, gaben sie ihm ein Zeichen, dass sich nichts Neues ergeben hatte.

Er überquerte die Dorfstraße, betrat das Haus Nummer Zwölf, dessen Haustür er nur angelehnt hatte, und folgte dem Flur bis zur Küche. Dabei erinnerte er sich an die Polizistin Tanja Gestier. Ihre ungeschickten Versuche, ihre illegitime Einmischung hier vor Ort zu kaschieren, amüsierten ihn. Sollte es ihr gelingen, offiziell an dem Fall zu arbeiten, wäre Jean-Yves zufrieden. Tanja Gestier hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Frau. Weder im Aussehen noch in ihrem Verhalten. So konnte er auf eine unbefangene Zusammenarbeit hoffen und vielleicht sogar angenehme Ablenkung erfahren.

Die Türklingel lenkte ihn von seinen Gedanken ab.

Sollte die Polizistin schon zurückgekehrt sein?

Erwartungsvoll öffnete er.

Aber es kam anders. Die Mannschaft der CRS (Companie Republicains de Sécurité) stand vor ihm. Die Suche nach Annabel Radek konnte mit Verstärkung fortgesetzt werden.

9

„Der vorgeschriebene Amtsweg muss eingehalten werden“, verkündete Portz. „Für den Fall deines Einsatzes als Verbindungsbeamtin werden zuerst die Haftungsfragen geklärt. Außerdem wird die finanzielle Belastung der Notwendigkeit deiner Präsenz im Elsass gegenübergestellt. Egal, ob du nun die Stieftochter des Kriminalrates bist oder nicht. Das dauert.“

Diese Spitze hatte kommen müssen. Tanja atmete tief durch, um nicht darauf zu reagieren, weil sie genau wusste, dass sie damit Öl ins Feuer gießen würde. Und Portz wartete nur auf eine solche Gelegenheit. Also stieß sie aus: „Bedenken die hohen Herrschaften auch, dass es sich um das Leben eines vierjährigen Kindes handelt?“ Sie kam gerade aus dem Krankenhaus. Sabine hatte einen totalen Nervenzusammenbruch erlitten. Der Anblick ihrer Freundin haftete immer noch schwer an Tanjas Gemüt.

„Oh ja. Die Polizei in Frankreich ist auch noch da. Die sitzen nicht nur bei ihrem Café au Lait, sondern haben bereits mit der Suche nach dem Kind begonnen“, gab Portz zurück. „Auch über Untätigkeit von unserer Seite brauchst du dich nicht zu beklagen. Denn wir haben inzwischen herausgefunden, dass der Vater des verschwundenen Kindes Winzer in Perl-Sehndorf ist.“ Portz grinste böse, als er anfügte: „Du siehst, auch wir arbeiten unermüdlich.“ Tanja hätte ihren Chef erwürgen können, so ärgerte sie sich. „Du wirst jetzt mit Milan in das Winzerdorf fahren und mit ihm sprechen. Wer sagt uns, dass der Vater keine Rolle bei dem Verschwinden seines Kindes spielt? Da es in dem Scheidungsfall einen Sorgerechtsstreit geben hat, dürfen wir nichts ausschließen.“

Tanjas schlechte Laune bekam neue Nahrung. Wenn das so weiterging, konnte sie es kaum noch erwarten, für eine Weile ins angrenzende Frankreich abzutauchen.

*

Auf dem Parkplatz steuerte Milan Görgen einen Dienstwagen an, der durch seine sportliche Form ins Auge stach. In seinem Silbergrau blitzte der Audi A6 herausfordernd, als warte er nur darauf, seine Stärke zu beweisen. Er wollte auch das Steuer übernehmen, doch die Gelegenheit gab ihm Tanja nicht. Dieses Geschoss wollte sie selbst fahren. Da sie an der Reihe war, blieb Milan nichts anderes übrig, als ihr den Schlüssel zu überreichen. Sein langes Gesicht, das er dabei zog, sprach Bände.

 

In rasantem Tempo bretterte sie auf die Mainzerstraße und über die vielen Ampeln, die alle im richtigen Augenblick auf Grün umsprangen. Sie steuerte die Autobahn A620 an, auf der sie zum Überholen ausscherte. Rechts von ihnen dümpelte die Saar, dunkelgrau und dreckig. Dahinter lag das Gebäude des Staatstheaters, gelb und prachtvoll. Links hoben sich hoch über der Autobahn die alten Mauern des Saarbrücker Schlosses ab. Unter dem Kreisverkehr der Wilhelm-Heinrich-Brücke wand sich die Autobahn in engen Kurven, was Tanja zwang, das Tempo zu drosseln. Sie ließ die Stadt hinter sich, die Autobahn wurde breiter und lud zum Beschleunigen ein.

Milans Schweigsamkeit kam ihr gerade recht. Sie fühlte sich innerlich sehr angespannt und befürchtete, seine Späße nicht zu vertragen. Der Kollege mit den grünen Augen und den roten Haaren war der Sonnenschein in ihrer Abteilung. Er schaffte es, auch den mürrischsten Kollegen wieder aufzuheitern. Nur würde er sich an ihr heute die Zähne ausbeißen. Und eine Eskalation wollte sie auf keinen Fall riskieren, weil jedes Fehlverhalten ihrem Einsatz in Frankreich hinderlich sein könnte.

Doch Milan bewies ein Timing, das sie ihm nicht zugetraut hätte. Konnte es sein, dass er spürte, wie es in ihr aussah?

Das neue Gebäude der HTW huschte wie ein grauer Baustein links an ihnen vorbei. Der Schanzenberg erhob sich hoch und mächtig vor ihnen, als würden sie geradewegs und ungebremst darauf zurasen. Auf der rechten Seite flogen die blauen Hallen der neuen Saarstahl-Werke vorbei. Tanja beschleunigte hinter der Gersweiler Brücke noch mehr. Ihre Wahrnehmung am Rand ihres Gesichtsfeldes wurde unscharf. Die Straße verschmolz zu einem grauen Asphaltstreifen. In dem Tempo dauerte es nicht lange, bis sie Saarlouis passierte. Danach ging es weiter geradeaus. Wallerfangen mit seinem Limberg, Rehlingen mit seiner Hessmühle, beide bewaldeten Berge säumten die Autobahn auf der linken Seite. Rechts begannen die Saar-Hunsrück-Ausläufer. Dann erreichten sie Merzig. Hinter Schwemlingen verengte sich die Straße. Die endlose Natur zu beiden Seiten verschmolz zu einem grünen Band, bis der Pellinger Berg rasend schnell auf sie zukam. Der kleine Tunneleingang war erst nach einer langgezogenen Kurve zu erkennen. Sie tauchte in die Dunkelheit ein, fuhr sechshundert Meter durch den Berg. Die Helligkeit, die ihr anschließend entgegenschlug, blendete sie. Windmühlen dominierten die Landschaft. Riesengroß erhoben sie sich in den Himmel. Tanja setzte den Blinker und verließ an der Abfahrt Perl-Borg die Autobahn. Aus Wiesen und Wäldern wurden Weinberge. Ein Dorf reihte sich an das nächste, bis sie auf das Schild „Sehndorf“ stießen. Dort bog Tanja rechts ab. Schon nach wenigen Metern waren sie am Ziel. Enge Gässchen gesäumt von Bauernhäusern im lothringischen Baustil taten sich vor Tanjas Augen auf, die gleiche Bauweise, die sie auch im Krummen Elsass zu sehen bekommen hatte. Dieser Teil des Saarlandes lag ebenfalls dicht an der Grenze – um genau zu sein, sogar an zwei Grenzen, die Grenze zu Lothringen und zu Luxemburg.

Milan räusperte sich und meinte: „Sieht hier irgendwie französisch aus.“

„Das habe ich auch gerade gedacht.“

An der Kreuzung mitten in Sehndorf stach ein Haus in aufdringlichem Blau hervor. Daneben stand ein alter Waschbrunnen, der stetig mit fließendem Wasser aus der sprudelnden Marienquelle versorgt wurde. Nach nur wenigen Metern machte Milan sie auf das Weingut von Wilhelm Radek aufmerksam. Es befand sich etwas abseits auf einer Anhöhe. Sein Gegenüber bildete ein zerfallener Holzschuppen. Sie stellten den Wagen direkt davor ab, stiegen aus und klingelten an der Haustür. Ein gebräuntes Gesicht lugte zuerst durch einen Spalt in der Tür, bevor ganz geöffnet wurde. Blassblaue Augen glänzten glasig, ein Bauch wölbte sich unter einem viel zu engen Hemd. Der Mann musterte die beiden eindringlich.

Schnell zückten sie ihre Ausweise. Milan fragte: „Sind Sie Wilhelm Radek?“

„Oh ja“, schnaufte er. „Sie sind an der richtigen Adresse.“ Hastig rieb er sich über seinen fast kahlen Kopf, als wollte er seine Frisur in Ordnung bringen. Das Hemd steckte er schnell in den Hosenbund, aus dem es gleich wieder herausrutschte. „Meine Straußwirtschaft mit so reizender Gesellschaft zu öffnen, das übersteigt meine kühnsten Erwartungen.“ Dabei haftete sein Blick an Tanja, deren dunklen Haare vom Wind zerzaust wurden.

„Die reizende Gesellschaft kommt von der Polizei“, stellte Tanja klar.

„Welch eine Verschwendung“, kam es von dem Mann. „Trotzdem dürfen Sie reinkommen und meinen Wein kosten. Sie werden es nicht bereuen.“

Sie betraten ein Gewölbe, dessen Wände durch groben Strukturputz in einem dunklen Beige hervorstachen. Tische und Stühle aus massivem Nussbaumholz bildeten den Mittelpunkt des Raums. Weinflaschen in verschiedenen Größen und Farben dekorierten die kleine Theke direkt neben dem Eingang. Wilhelm Radek wählte eine Flasche Wein aus dem großen Sortiment und stellte Gläser dazu.

„Federweißer“, verkündete er stolz. „Gerade fertiggestellt. Ein Muss.“

Tanja ließ ihn nicht einschenken. „Ich bin im Dienst.“

„Wenn der ganz frisch ist, ist noch kein Alkohol drin“, meinte Milan mit einem Leuchten in den Augen.

„Stimmt. Er hat gerade erst angefangen zu gären“, bestätigte Radek und zwinkerte dem Kriminalbeamten zu.

Tanja ließ sich überzeugen.

„Sehr vernünftig“, flötete Radek. „Auf Brünette stehe ich besonders. Mit Ihrem Pferdeschwanz sehen Sie zum Vernaschen süß aus.“

„Unterlassen Sie Ihre Annäherungsversuche!“, entgegnete Tanja unfreundlich. „Ich bin nicht zum Vergnügen hier, sondern wegen Ihrer Tochter.“

„Bleib locker, Tanja“, murmelte Milan. „Der Mann hat Geschmack.“

Der Blick, den Tanja ihrem Kollegen zuwarf, ließ Milan sofort verstummen.

Grinsend hatte Wilhelm Radek die beiden beobachtet. Dann schenkte er ein helles, trübes Gebräu in die Gläser. Sie stießen an und kosteten davon. Es schmeckte erfrischend und süß - wie Traubensaft. Blitzschnell schoss Tanja Hitze ins Gesicht. Soviel zu dem Versprechen, in Federweißer sei kein Alkohol. Als von Wilhelm Radek immer noch keine Reaktion auf ihre letzte Bemerkung kam, fügte sie an: „Ihre Tochter Annabel. Klingelt da was bei Ihnen?“

„Nein. Sabine nahm das Kind nach der Scheidung mit. Wir hatten uns geeinigt. Deshalb klingelt da nichts bei mir. Na, wie schmeckt mein Federweißer?“

„Ihre Tochter wird vermisst.“, lautete Tanjas Antwort.

Endlich reagierte Radek. Mit offenem Mund starrte er Tanja und Milan an.

„Warum weiß ich davon nichts?“

„Das würde uns auch interessieren“, gab Tanja zurück.

„Sabine hat mich nicht angerufen. Und in der Zeitung stand auch nichts von einem vermissten Kind.“

„Annabel ist in Frankreich verschwunden. Vermutlich deshalb.“

„In Frankreich?“

„Ihre Ex-Frau hat dort ein Haus geerbt. Wissen Sie nichts davon?“

„Das ist ja die Höhe. Warum meldet sich Sabine nicht bei mir?“

„Haben Sie Besuchsrecht bei Ihrer Tochter?“ Tanja spürte Unbehagen. Wilhelm Radeks Verhalten gab ihr Rätsel auf. Milan verhielt sich ganz still neben ihr. An seinen Reaktionen erkannte sie, dass ihn dieser Fall wenig interessierte. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr dem Inhalt seines Glases.

„Natürlich. Aber nicht regelmäßig, weil ich das von Berufs wegen nicht einhalten kann.“

„Wann haben Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“

“Das ist leider schon viel zu lange her.“