Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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16

Mit verkrampften Gesichtszügen stakste Pascal Battiston durch das hohe Gras am Rand der Koppel. Er ärgerte sich darüber, dem Drängen des deutschen Mädchens nachgegeben zu haben. Wie hatte er nur glauben können, dass sie reiten konnte? Die logen doch alle, um auf ein Pferd aufsteigen zu dürfen. Leider hat er seinen Fehler erst erkannt, nachdem das Pony an ihm vorbeigeschossen und im wilden Galopp davon gestürmt war.

Jetzt war es zu spät.

Er spürte, wie die Dorfleute ihn anstarrten, hörte bei jedem Schritt ihr Getuschel. Das Großaufgebot der Police Nationale und der Gendarmerie machte alle nervös. Ihn am meisten. Denn alle arbeiteten unter dem Mann, den er hier nie mehr sehen wollte: Jean-Yves Vallaux.

Gab es in Strasbourg keinen anderen zuständigen Beamten als ausgerechnet Jean-Yves Vallaux?

Seine Wut galt jedoch nicht dem Commandant, sie galt seinem Schwiegervater. Nach außen markierte er den großzügigen Bürgermeister, der den Leuten alles gab, was sie von ihm verlangten, sobald er seine gewünschte Gefälligkeit von ihnen erhielt. Dabei vergaß er, dass er damit den Verdacht erst recht auf seine eigene Familie lenkte. Wie konnte der alte Mann nur so gedankenlos handeln? Er wusste doch am besten, wie viel auf dem Spiel stand.

Das Gras hatte seine Schuhe und Strümpfe durchnässt. Schimpfend wich er auf den Trampelpfad neben den Gleisen aus. Vor ihm ragte die Ruine auf, die sein Schwiegervater in ein Ponyhotel umbauen wollte. Der Plan gefiel Pascal. Ein Ponyhotel übertraf seine kühnsten Erwartungen. Nur beschlichen ihn Zweifel, während er sich das baufällige Haus genauer ansah. Ob seinem Schwiegervater bewusst war, wie viel Arbeit und Geld in dieses Projekt gesteckt werden mussten? Mauerrisse zogen sich durch die gesamte Front. Ächzen und Knarren ertönten vom morschen Dachstuhl. Einzelne zerbrochene Ziegelsteine zierten den Trampelpfad. Die rostige Dachrinne hing herab und wippte mit einem permanenten Quietschen im Wind.

Plötzlich glaubte er, im Innern des Gebäudes eine Bewegung gesehen zu haben.

Mit großen Schritten steuerte er den Eingang an, dessen Tür halb verrottet in den Angeln hing. Wütend schob er das morsche Holzstück zu Seite und schaute hinein. Der Boden war mit Dreck, Mäusekot, alten, rostigen Eisenteilen und zerbrochenem Glas übersät. Zwischen dem Abfall schimmerten dunkle Flecken. Zögernd trat er ein. Ein Blick nach oben verriet ihm, dass das Obergeschoss ebenfalls nur noch teilweise erhalten war. Die Decke wies Einsturzstellen auf, durch die er bis zum Giebel sehen konnte, der schief hing und drohte, jeden Augenblick einzustürzen. Zwischen den noch verbliebenen Ziegeln schimmerten die Wolken hindurch, die über den Himmel jagten.

Seine Idee, hier einen Einbrecher zu vermuten, war lächerlich. Er wollte hinaus.

Da erblickte er etwas Schattenhaftes in seinem Augenwinkel.

Er drehte sich um.

Eine Gestalt stand auf der anderen Seite. Es war zu dunkel, um sie zu erkennen. Reglos verharrte sie.

Wie zwei Raubtiere auf der Lauer standen sie sich gegenüber.

Auf einmal drehte sich sein Gegenüber um und rannte davon. Die Person lief gebückt. Mehr konnte Pascal nicht erkennen. „Bleiben Sie stehen!“, rief er, erreichte damit aber nichts. Hastig nahm er die Verfolgung auf. Er durfte nicht zulassen, dass sich hier jeder herumtrieb, wie es ihm beliebte. Das war Privatbesitz und das sollten die Dorfleute kapieren. Wenn es sein musste, auch auf die unfreundliche Art. Er war zu allem entschlossen, während er die geduckte Gestalt verfolgte. Er wählte den direkten Weg quer durch die Ruine. Schnell verkürzte er den Abstand zu dem Flüchtenden. Da knackte es verdächtig unter seinen Füßen. Erschrocken blieb er stehen, schaute nach unten. „Merde“, entfuhr es ihm. Die dunklen Flecken waren Wasserflecken. Er stand genau auf einer dieser brüchigen Stellen. Der Boden gab nach. Beherzt sprang er zur Seite und verhinderte so, dass er eine Etage tiefer landete. Seine Beine brachen durch den morschen Boden. Es gelang ihm, sich mit den Ellenbogen am stabilen Rand abzufangen. Geräuschvoll rieselte und schepperte es unter ihm. Verzweifelt strampelte er. Aber er trat nur ins Nichts. Er blickte suchend umher, ob es etwas gab, woran er sich aus dem Loch herausziehen konnte. Nichts. Nur lose Eisenstangen. Was er außerdem sah, war sein eigener Hund, ein schwarzweißer Mischling. Schwanzwedelnd lief er auf sein Herrchen im Boden zu und leckte ihm genussvoll über das Gesicht.

„Hau ab!“, brüllte Pascal, was der Hund als Aufforderung verstand, noch wilder zu lecken.

*

Tanja passierte die letzten Häuser der Dorfstraße. Kalter Westwind fuhr ihr ins Gesicht. Kniehohes Gras bog sich vor ihren Augen wie dahin brandende Wellen. Links von ihr erstreckten sich die Gleise, rechts lag die Ruine mit rotem löchrigem Ziegeldach. Einzelne Eichenbohlen ragten aus dem First und warfen lange Schatten über den Trampelpfad und die Gleise. Vertrocknete Grasbüschel wirbelten vor dem Eingang auf und umkreisten die rissigen Mauern. Das sollte mal ein Ponyhotel werden? Sie staunte über den waghalsigen Plan des Bürgermeisters. Schimmelpilze zogen sich über die Fassade, Wasserflecken weichten den Beton auf. Sträucher wucherten aus dem Inneren und ragten durch das Mauerwerk nach außen. Der heftige Wind heulte durch jede Ritze. Ein merkwürdiges Brummen mischte sich darunter. Außerdem Krachen und Poltern. Tanja steuerte neugierig den Eingang an. Die Tür - oder das, was noch davon übrig war - lag zersplittert auf dem Boden. Vorsichtig stieg sie über die Trümmer und schaute in das düstere Innere. Das merkwürdige Brummen entpuppte sich als Hundebellen. Wenn das alles war…

Sie drehte sich um, wollte weitergehen.

Da hörte sie noch etwas.

Ein deutliches „Merde.“

Das kam von keinem Hund.

„Ist hier jemand?“

Zu ihrer Überraschung erhielt sie eine Antwort: „Oui, Madame. Ici.“

Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah sie ihn. Ein Mann steckte im Boden.

Halluzinierte sie?

Nein, da steckte wirklich jemand zwischen Dreck, Eisengittern und Beton. Seine Ellenbogen hielt er auf die Ränder des Einsturzloches gestützt. Das sah beängstigend aus. Er schimpfte etwas, was Tanja nicht verstand. Vermutlich wollte er den Hund loswerden, der immer wieder über sein Gesicht schleckte. Vorsichtig näherte sie sich dem Fremden, stieß den Hund mit der Ferse weg, griff nach einer rostigen Eisenstange, die sie ihm entgegenhielt. Hastig zog sich der fremde Mann daran hoch und eilte hinaus ins Freie.

Tanja folgte ihm.

Der Mann war groß und dünn und mit Dreck und Staub bedeckt. Er klopfte sich unter Schimpfen und Fluchen ab und griff mit verbissener Miene nach einem Stock, mit dem er den Hund vertrieb.

Tanja beobachtete ihn dabei und staunte über die Brutalität. Schnell ahnte sie, dass sie gerade Pascal Battiston gerettet hatte, den Mann, mit dem sie sprechen wollte.

„Merci beaucoup.“ Er entblößte lange weiße Zähne zu einem aufgesetzten Lächeln.

„Keine Ursache.“

„Wer sind Sie?“

„Ich bin Tanja Gestier, eine Freundin von Sabine Radek. Und Sie?“

Er verzog sein schmales Gesicht zu einer Grimasse und presste ein undeutliches „Pascal Battiston“ heraus. Er reichte Tanja seine langgliedrige Hand. Dabei ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern. Während Tanjas Miene grimmiger wurde, wich seine Verärgerung einem anzüglichen Grinsen.

„Sie haben mir das Leben gerettet. Das ist ein Anlass zu feiern. Was halten Sie davon, auf dieses Ereignis mit mir anzustoßen?“

Auch wenn es eine Anmache war, hoffte Tanja, so mit diesem Mann ins Gespräch zu kommen. Also folgte sie ihm.

Er führte sie zum Reitstall, überquerte den Hof und steuerte einen kleinen Raum an, der außerhalb der langen Stallgasse lag. Der Raum entpuppte sich als kleine, enge Reiterstube. Siegerpokale standen auf dem einzigen Schrank. Urkunden über Turniererfolge zierten die Wände. Der Geruch nach Leder und Pferden hing in der Luft. Notdürftig wusch er sein verschmiertes Gesicht. Anschließend stellte er einen Crémant d'Alsace auf den Tisch, ließ den Korken knallen und schenkte in zwei langstielige Gläser ein. Tanja würde nichts davon trinken, sondern nur so tun als ob. Sie spürte, dass er etwas im Schilde führte. Also war ein klarer Kopf umso nötiger. Sie behielt jede seiner Bewegungen im Auge.

Schon geschah es.

Während sie anstießen, griff er nach hinten und drehte unauffällig den Schlüssel im Türschloss um.

17

Während Jean-Yves über die Dorfstraße zum Wohnsitz des Bürgermeisters ging, sah er vor seinem geistigen Auge Bilder von kleinen Mädchen, wie sie fröhlich auf Ponys ritten, lachten, ihre langen Haare im Wind flattern ließen.

Zwei dieser Mädchen waren jetzt wie vom Erdboden verschluckt. Was war mit ihnen geschehen? Welches Geheimnis lauerte in diesem Dorf?

Ausgerechnet zu dieser Zeit wollte der Bürgermeister ein Ponyhotel errichten, mit dem er Familien mit Kindern anlockte. Die Vorstellung, das Ponyhotel könnte als Köder für reitbegeisterte Mädchen dienen, ließ ihn innerlich erstarren. Er liebte Kinder viel zu sehr, um bei diesem Gedanken distanziert bleiben zu können.

„Salut, Jean-Yves. Ça va?“

Der Gruß riss ihn aus seinen Gedanken.

„Kommscht maije? S’isch dahemm immer noch am scheensde, gell?“

Erschrocken schaute Jean-Yves auf und direkt in das faltige Gesicht des Dorfältesten. Das fehlte noch. Wer in dessen Fänge geriet, kam so schnell nicht wieder weg. Der war stolz darauf, der älteste Mann im Dorf zu sein und brüstete sich mit stundenlangen Erlebnisberichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch heute legte Jean-Yves keinen Wert darauf, sich das anzuhören. Er kannte schon alles und hatte keine Zeit zu verlieren.

 

Mit einem freundlichen Kopfnicken legte der Commandant einen Zahn zu. Hoffentlich spürte der Dorfälteste nicht, dass er vor ihm floh. Ihn sollte man sich trotz allem nicht zum Feind machen. Das würde zu Getratsche im ganzen Dorf führen.

„Häscht’s awwer eilig? Muschde noo dem Maidle aus Dütschland suche?“

„Genau das“, entgegnete Jean-Yves.

„Dann awwer g’schwind. V’lleischt isch ihm noch zu helfe.“ Zum Glück gab sich der Alte damit zufrieden. Auf seinen Stock gestützt trottete er weiter. Sein übergewichtiger Golden Retriever wackelte hinter ihm her.

Durch dichte Reihen hochgewachsener Bäume lag das Wohnhaus des Bürgermeisters so verborgen, dass Jean-Yves es erst sah, nachdem er um die langgezogene Linkskurve aus tiefem Schatten in grelles Sonnenlicht hinaustrat. Vor ihm spiegelte sich die Villa aus Ziegelstein in einem dezenten Beige, eingefasst mit Rot und Anthrazit. In den gleichen Farben bestachen die Rahmen der vielen gleichförmigen Fenster. Die brüchige Fassade setzte sich gegen ausgedehnte, akribisch gepflegte Rasenflächen ab, durchzogen mit geschwungenen Kieswegen. Nicht die Verwitterungsspuren gaben dem Haus seine traurige Aura, sondern seine Geschichte. Seit Generationen befand es sich im Besitz der Familie Leibfried. Mit dem Bürgermeister hatte es das Schicksal weniger gut gemeint. Sein einziges Kind, ein Mädchen, war krank zur Welt gekommen. Geistige Behinderung sagten die Leute im Dorf. Niemand bekam die Tochter jemals zu sehen. Dabei war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Schultheiß des Dorfes neben Reichtümern eine Vorzeigefamilie haben sollte. Also musste ein Schwiegersohn her, der die Tradition der Fortpflanzung einhielt. Und genau der war eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht. Wo hatte die behinderte Frau ihn kennengelernt? Diese Frage beschäftigte die Menschen in Potterchen, da sie wussten, dass der Bürgermeister seine Tochter vor der Welt versteckte. Wie hatte sie unter diesen Bedingungen einen Mann kennenlernen können? Seither fühlten sich alle Dorfbewohner dazu angetrieben, die Familie des Bürgermeisters genau im Auge zu behalten.

Vor allem den Schwiegersohn.

An einem Fenster im obersten Stock tauchte ein Gesicht auf. Ein Kindergesicht umrahmt von goldenen Locken. Jean-Yves riss die Augen weit auf.

Sah er dort Annabel?

Rasch schüttelte er den Gedanken ab. Das war natürlich Fleurette, Ernest Leibfrieds Enkeltochter. Sie galt als „das Wunder von Potterchen“, denn Fleurette war kerngesund und lebensfroh, während ihre Mutter durch einen Gendefekt kaum lebensfähig war. Wann hatte er Ernest Leibfrieds Tochter mal gesehen? Er wusste es nicht. Er kannte nur die Gerüchte, die sich um sie rankten.

Schon Minuten später trat das kleine blonde Mädchen durch die große Haustür und hüpfte auf Jean-Yves zu. Auch ihre Fröhlichkeit verwunderte ihn, da dieses Haus nur Trübsinn umgab.

„Wer bist du?“, rief sie schon von weitem. Ihre Neugier wirkte wohltuend.

„Ich heiße Jean-Yves und will mit deinem Opa sprechen.“

„Worüber willst du denn mit meinem Opa sprechen?“

„Das werde ich ihm dann sagen.“ Jean-Yves amüsierte sich über die Neugier der Kleinen.

„Und was?“

„Du bist ganz schön naseweis“, tadelte Jean-Yves mit einem Lachen.

„Ich weiß ja gar nicht, ob mein Opa zu Hause ist.“

„Dann schau doch bitte mal nach.“

„Ist gut. Mach ich.“

Verschwunden war sie. Jean-Yves stand immer noch vor dem schmiedeeisernen Tor und konnte der Kleinen nur nachsehen. Nach einer Weile kehrte sie zurück. Dieses Mal in Begleitung eines schwarzweißen Hundes, der wild herumsprang und laut bellte.

„Opa will wissen, worüber du mit ihm sprechen willst.“

Jean-Yves stöhnte innerlich, setzte trotzdem sein freundlichstes Lächeln auf und sagte: „Bitte deinen Opa, er soll mich hereinlassen, dann sage ich es ihm.“

Mit ihrer neuen Anweisung eilte sie davon, der schwarzweiße Hund lief hinter ihr her.

Das konnte ja lustig werden. Jean-Yves fühlte sich von einem vierjährigen Kind genarrt.

Endlich trat der Bürgermeister vor die Tür. Er stieß eine heftige Schimpftirade in Richtung des kleinen Mädchens aus, das daraufhin rasch im Haus verschwand. Erst anschließend kam er an das Tor, öffnete es und ließ Jean-Yves auf sein Grundstück.

Ernest Leibfried führte Jean-Yves nicht in sein Haus. Auf dem Schotterweg vor dem Haus schlenderten sie nebeneinander her. Kalter Wind pfiff ihnen um die Ohren. Am Himmel zogen sich immer mehr Wolken zusammen. Das Tageslicht verdüsterte sich.

„Worüber möchten Sie mit mir sprechen?“ Die Frage klang unterschwellig feindselig.

Jean-Yves beobachtete den Mann unauffällig. Dieser reichte ihm gerade bis an die Schultern. Sein dunkler Schnurrbart zuckte leicht, als wolle er seine Nervosität unterdrücken. Der schwarzweiße Hund sprang bellend um sie herum, ohne dass der Bürgermeister ihn zur Ruhe rief.

„Über das verschwundene Mädchen Annabel.“

„Darüber kann ich Ihnen nichts sagen.“

„Oh doch, das können Sie“, parierte Jean-Yves. „Annabel kam zu Ihrem Stall und ritt eines Ihrer Ponys. Wie ist es möglich, dass ein fremdes Kind einfach auf einem Ihrer Ponys reiten darf?“

„Viele Kinder reiten auf unseren Ponys. Wie konnte mein Schwiegersohn ahnen, dass dieses Kind nicht aus dem Dorf kommt?“

„Es hat mit Sicherheit anders gesprochen. Hochdeutsch.“

„Uns ist nichts aufgefallen.“

„Aber dann fällt ausgerechnet dieses Kind vom Pony und verschwindet spurlos. Merkwürdiger Zufall, oder?“

„Da fragen Sie mich zu viel. Ich war nicht dabei. Mein Schwiegersohn ist hinter dem Pony her geritten, konnte es aber nicht einfangen.“

“Zumindest konnte er sehen, wo sie runtergefallen ist.“

„Natürlich. An der Stelle haben wir gesucht. Aber da war sie nicht mehr.“

„Direkt nach dem Sturz?“

„Genau. Die Mutter des Kindes hat alles von den Gleisen aus beobachtet. Die können Sie ja auch fragen.“

Jean-Yves erfuhr hier nichts Neues. Seine Zweifel an der Geschichte blieben, egal wie oft und von wie vielen Zeugen er sie zu hören bekam.

„Werden Sie trotz der Tragödie bei Ihren Plänen bleiben, ein Ponyhotel zu bauen?“

„Ja. Was hat der Sturz dieses Kindes damit zu tun?“

„Eine ganze Menge“, antwortete Jean-Yves verstimmt über die Kaltschnäuzigkeit dieses Mannes. „Wenn sich herumspricht, dass hier von Zeit zu Zeit kleine Mädchen spurlos verschwinden, wird das die Gäste von Ihrem Hotel fernhalten.“

„Das ist Unsinn und das wissen Sie. Hier verschwinden keine kleinen Mädchen. Wer weiß, was die betreffenden Mütter mit ihren Kindern angestellt haben? Man hört doch immer wieder, zu was manche Mütter fähig sind. Es ist fast nicht zu schaffen, eine mögliche Vorgeschichte aus dem Ausland zu hundert Prozent aufzuklären.“

Jean-Yves spürte, dass sich der Bürgermeister seine eigene Erklärung zu den Fällen zurechtgebogen hatte. Trotzdem nagte ein Gedanke beharrlich an ihm: dass ausgerechnet dort, wo kleine Mädchen verschwanden, ein Ponyhotel gebaut werden sollte. Seine morbide Vorahnung wollte ihn einfach nicht loslassen.

„Das Mädchen, das vor zwei Jahren hier verschwunden ist, hatte keine Mutter mehr. Also kann in dem Fall nicht die Mutter dafür verantwortlich gemacht werden.“ Jean-Yves musste seine Stimme anheben, um den Wind zu übertönen. „Oder sind die Väter ebenfalls zu allem fähig, wenn es um ihre eigenen Kinder geht?“

„Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“

„Doch. Das wissen Sie“, konterte Jean-Yves. „Das Mädchen hieß Daniela Morsch und ist ebenfalls verschwunden, als es - genau wie Annabel Radek – auf Ihr Gelände gelaufen ist, weil es zu den Ponys wollte.“

„Was sollen die Unterstellungen? Ich habe nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun.“

„Wie kann ich das glauben? Beide Mädchen verschwanden, nachdem sie Ihren Stall betreten haben. Und ausgerechnet dieser Stall soll in ein Ponyhotel umgebaut werden. Was passiert mit den Mädchen?“

„Raus hier!“

18

In ihrer Wut schlug Tanja die falsche Richtung ein. Der Mistkerl von Battiston hatte doch tatsächlich geglaubt, sie verführen zu können. Und herausgekommen war dabei nichts, außer der Erkenntnis, dass dieser Mann äußerst unerträglich war und Tanja ihn besser in dem Loch in der Ruine hätte stecken lassen sollen. Anstatt den Weg einzuschlagen, der zurück ins Dorf führte, landete sie auf dem freien Feld.

Was sie dort sah, ließ sie ihre Wut sofort wieder vergessen. Etliche Polizeiwagen mit der Aufschrift „CRS“ standen über die Felder verteilt. Es wimmelte von Männern in dunkelblauen Uniformen, die mit Stöcken, andere mit angeleinten Schäferhunden, das ganze Gelände abschritten. Rufen und Bellen erfüllten die Luft. Sogar das laute Rotorengeräusch eines Hubschraubers mischte sich dazu. Die Suche nach Annabel könnte nicht besser organisiert sein. Sie trat auf den Polizisten zu, der ihr am nächsten stand und fragte: „Gibt es Ergebnisse?“

„Wer sind Sie, dass Sie mir diese Frage stellen?“, kam es unfreundlich zurück.

Tanja erschrak. Sie zog ihren Dienstausweis aus der Gesäßtasche und hielt ihn dem Beamten vor die Nase.

Der uniformierte Mann nickte und antwortete: „Bisher haben wir nichts. Weder ein Kleidungsstück noch sonst etwas, was man dem Kind zuordnen könnte.“

„Das klingt nicht gut.“

„Hoffentlich ist das Mädchen nicht in den Fluss gefallen.“

„In welchen Fluss?“ Tanja horchte auf.

„Dort unten“, der Polizist zeigte auf die Bäume, die die Felder säumten, „fließt die Saar. Sollte sie dort hineingefallen sein, …“

Tanja erschauerte. Sie hatte nicht gewusst, wie nah die Saar war.

„Sie können bei der Suche helfen. Hier brauchen wir jeden Freiwilligen.“

Tanja schaute ihr Gegenüber empört an und erklärte: „Ich bin dabei, nach dem Kind zu suchen. Nur an anderer Stelle.“

„Ach? Und wo?“

Die Ironie in seiner Stimme missfiel ihr. „Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, wer ich bin - nämlich als deutsche Verbindungsbeamtin eingesetzt, um die Ermittlungen zu begleiten.“

„Ich habe Sie Pascal Battistons Büro verlassen sehen. Sehen so Ermittlungen aus?“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„So zerzaust…“ Der Uniformierte lachte. „Was tut Pascal Battiston, dass ihm alle Frauen zu Füßen liegen?“

Was ging hier vor? Tanja kochte vor Wut. Sie war gewarnt worden, dass unterschiedliche Mentalitäten aufeinanderprallen würden. Hier geschah genau das. Eine Situation, die ihr fast unwirklich vorkam.

Ihr Handy klingelte.

Für diese Unterbrechung war sie dankbar. Sie stolperte einige Schritte über das Feld, um sich von dem unverschämten Polizeibeamten zu entfernen und hob ab. Doch als sie hörte, wer sich am anderen Ende meldete, war sie sich nicht mehr sicher, ob ihr die Ablenkung gefiel. Sabine Radek rief aufgebracht ins Telefon: „Was soll das, mir die Bullen auf den Hals zu hetzen?“

„Sabine, wovon redest du?“

„Wie eine Elefantenherde sind sie durch meine Wohnung getrampelt und haben nach Annabel gesucht. Was hast du deinen tollen Kollegen über mich erzählt?“

„Seit wann bist du wieder zu Hause?“ Diese Frage beschäftigte Tanja am meisten. Die Verfassung ihrer Freundin war bedenklich. Wie konnten die Ärzte sie in dem Zustand entlassen?

„Ich habe mich heute Morgen selbst entlassen.“

„Ach so.“ Tanja ahnte nichts Gutes. „Meine Kollegen machen nur ihre Arbeit. Es gehört immer dazu, jeden Verwandten des Kindes zu überprüfen – auch die Mutter. Bei Annabels Vater war ich auch.“

„Bei Willi?“ Sabines Stimme überschlug sich. „Ich habe auf deine Hilfe gezählt. Aber anstatt in Frankreich nach Annabel zu suchen, kurvst du im Saarland herum. Wie soll Annabel im Elsass vom Pferd gefallen und in Perl gelandet sein?“

Tanja atmete tief durch. Sie spürte, dass die Bemerkung dieses Franzosen ihr mehr zusetzte, als sie gedacht hatte. Deshalb durfte sie nicht bei ihrer Freundin die Nerven verlieren. Sabine hatte jeden Trost der Welt nötig.

Mit langsamen Schritten war sie während des Telefonats weiter über die nassen Wiesen gegangen und am Ufer der Saar angekommen. Hier im Elsass schlängelte sie sich als schmaler Flusslauf zwischen Wiesen und Bäumen hindurch. An beiden Ufern sah Tanja, wie Männer den Boden abklopften. Hunde schnüffelten emsig alles ab. Ihr Winseln und Bellen wurde von Rufen übertönt, die die Suchenden von allen Seiten ausstießen. Sie fühlte sich bei dem Anblick der Regsamkeit ermutigt. Trotzdem ahnte sie, dass das ein geringer Trost für Sabine war. Ruhig sprach sie ins Handy: „Hier in Potterchen wird alles getan, um deine Tochter zu finden, glaub mir. Jeder Stein wird umgedreht. Hunderte von Polizisten laufen die Wiesen und Felder systematisch ab. Sie haben sogar Hunde dabei. Hubschrauber sind auch im Einsatz. Wir werden Annabel finden.“

 

„Ich komme und schaue mir das selbst an.“

„Tu das nicht!“, rief Tanja, doch die Verbindung war bereits unterbrochen.

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