Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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Sabine nickte schwach. Sie rieb über ihre schmerzenden Augen, blickte hoch und fand bestätigt, was der Bürgermeister gesagt hatte. Bewaffnet mit Stöcken gingen Fremde über die Felder, schoben Gras zur Seite, klopften den Boden ab, riefen dabei immer wieder Annabels Namen.

Konnte sie dieser Anblick wirklich beruhigen? Wer waren diese Leute? Wollten sie wirklich das Beste für ihr Kind? Wie sollte Sabine diesen Menschen vertrauen, wo sie hier doch nur eine Fremde war?

Mit zitternden Knien erhob sie sich und setzte ihre eigene Suche fort.

Dämmerung brach herein und noch immer keine Spur von Annabel. Plötzlich ergriff ein naheliegender Gedanke von ihr Besitz: Was wäre, wenn Annabel zum Stall zurückgekehrt wäre und dort nach ihr suchte? Diese Vorstellung ließ einen Funken Hoffnung aufblitzen. Sofort wendete Sabine und stolperte den langen Weg zurück. Sie überquerte die Schienen und steuerte den Stall an. Aber ihre Hoffnung, dass Annabel dort auf sie wartete, löste sich schnell in Nichts auf. Keine Menschenseele hielt sich dort auf. Nur die Pferde, deren Kaugeräusche den Stall erfüllten.

Blieb noch die Hoffnung, dass sie in das Haus Nummer zwölf in der Rue de la Gare zurückgekehrt war. Sie passierte eine große Ruine. Der Anblick dieses baufälligen Gemäuers ließ sie innehalten. Die morsche Holztür war nur angelehnt, also kein Hindernis, um dort hineinzugelangen. Sie zog sie einen Spaltbreit auf und quetschte sich hindurch. Vor ihren Augen war nur ein brüchiger Boden übersät mit Unrat zu sehen. Links von ihr lehnte eine Leiter an der Wand, die auf eine Zwischenetage führte. Sabine stieg hoch und rief mehrmals Annabels Namen. Aber dort war sie nicht.

Sie verließ die Ruine und schlug den Weg zur Rue de la Gare ein, die zu ihrem Haus Nummer zwölf führte. Ein gut gepflegtes Eckhaus war direkt an die Ruine angebaut. Ein seltsamer Anblick. Darin befand sich das Restaurant mit dem Namen „Chez Ernest“.

Ernest? Hieß so nicht der Bürgermeister dieses Dorfes?

Die halb zerfallene Mauer, die das Restaurant mit dem benachbarten Haus auf der anderen Seite verband, brachte sie zum Staunen. Die Unregelmäßigkeiten zwischen gepflegten und vernachlässigten Gemäuern irritierten sie. Diese Mauer endete mit einem Stacheldraht am oberen Rand, womit verhindert wurde, dass jemand drüber kletterte. Ein verrostetes Tor bezeugte, wo früher mal der Eingang gewesen war. Sabine rüttelte daran, aber es ließ sich keinen Millimeter verschieben.

Was verbarg sich dort? Das musste sie unbedingt wissen.

Durch die Gitter des Tores blickte sie auf die Äste einer Eiche, die bis auf wenige rostbraune Blätter vom Herbstwind kahlgefegt worden war. Mit ihrem dicken Stamm und den knorrigen Ästen hob sie sich bedrohlich vom dunklen, regenschweren Himmel ab. Runensteine ragten verstreut aus hohem, wild gewachsenem Gras und Efeu empor. Jahrhunderte von Wind und Regen hatten auf ihnen Spuren hinterlassen. Die Beschriftungen waren verwittert und kaum lesbar. Eingefasst wurden sie von niedrigen Steinmauern der Umfriedung.

Ein alter, vernachlässigter Friedhof lag dort vor ihr. Ein Schaudern überlief sie. Dort würde sich Annabel bestimmt nicht aufhalten. Die linke Seite des verwahrlosten Areals grenzte an den baufälligen Schuppen, den sie ergebnislos nach ihrer Tochter abgesucht hatte. Sie wollte sich wegdrehen, als ihr ein Mann in gebückter Haltung auffiel. Er legte Blumen auf eines der alten Gräber. Er bemerkte sie, erhob sich und drehte sich um. Dicke Brillengläser ließen seine Augen übergroß aussehen. Sabine erschrak. Seinen Mund verzog er abwechselnd zu einem Lachen und zu einer Kaubewegung. Kleine, vorstehende Zähne und dunkelrotes Zahnfleisch am Oberkiefer entblößten sich, Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln.

Sabine wollte weitergehen. Doch sie hielt inne. Warum sollte sein Aussehen ein Grund sein, diesen möglichen Augenzeugen nicht zu befragen?

„Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Es ist vier Jahre alt, hat lange blonde Haare, blaue Augen und trägt einen Jeansoverall.“

„Pauvre fille.“ Das Gesicht verzog sich augenblicklich zu einer traurigen Fratze. „Fille riche.“ Er zog eine lachende Grimasse und wandte sich ab.

Sabine war völlig außer sich. Mit diesem Kerl hatte sie nur Zeit verschwendet. Wie eine Irre rannte sie los, steuerte die Mitte der Dorfstraße an. Dort hatte sie den besten Überblick. Alles, was sich ihr auf der Suche nach ihrem Kind in den Weg stellen wollte, beachtete sie nicht. Autofahrer mussten zusehen, wie sie Sabine passierten, ohne sie umzufahren. Dabei schleuderte sie jedem die Frage nach ihrem Kind entgegen. Kaum begegnete ihr ein Mensch vor einem der Häuser oder an geöffneten Fenstern, keuchte sie: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“ Doch immer nur erntete sie Kopfschütteln oder bedauernde Mienen. Also rannte sie weiter und weiter und weiter. Irgendwo musste ihr Kind doch sein. „Annabel.“, schrie sie immer wieder den Namen ihrer Tochter. Doch es kam keine Antwort.

Dunkelheit brach herein. Und mit ihr der Schrecken, der in Sabine immer größer wurde. Wie fühlte sich ihr kleines Mädchen jetzt? Annabel hatte Angst im Dunkeln. Sie hatte Albträume. Sie kroch immer zu ihrer Mutter ins Bett, weil sie ihren Schutz suchte. Und jetzt? Jetzt lag sie irgendwo allein und ungeschützt da und hatte niemanden.

Sabine brach in Tränen aus, rannte aber unbeirrt weiter.

Jemand steuerte direkt auf sie zu. Erschrocken bremste sie ab, riss die Augen weit auf und schaute in das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes. Seine Haltung war leicht gebückt. Er grinste. Sollte er etwas wissen?

„François kann Ihnen nicht helfen“, sprach er hastig mit halb verschluckten Vokalen.

„Ich will nichts von François, ich will meine Tochter finden“, knurrte Sabine und wollte ihren Weg fortsetzen. Aber der Alte war noch nicht fertig. Die eine Hand stützte er auf seinen Stock, als sei er zu schwach, ohne diese Hilfe stehen zu können, doch seine andere Hand hinderte sie mit erstaunlicher Kraft daran, weiterzugehen. Sein Gesicht kam ihrem immer näher. Sie erkannte, dass nur noch ein einziger Zahn seinen Mund zierte.

„Gehen Sie nach Hause. Der Bürgermeister hat die Gendarmerie aus Straßburg benachrichtigt. Von dort ist jemand auf dem Weg hierher.“

„Nur ein Einziger kommt hierher, um meine Tochter zu finden?“

Der Alte nickte und fügte an: „Einer, der was davon versteht.“

Er humpelte auf seinen Stock gestützt davon. Erst jetzt nahm sie den Golden Retriever wahr, den der Alte ausführte. Auch der hatte seine besten Jahre schon lange hinter sich. Struppig, mit weißer Schnauze und krummen Beinen wackelte er hinter seinem Herrchen her.

2

Kriminalkommissarin Tanja Gestier hielt den Blick auf das gerötete Gesicht ihrer Tochter gerichtet. Dabei versuchte sie, sich das Handy zu schnappen, ohne dass Lara wieder einen ihrer Wutanfälle bekam. War vier Jahre bereits ein schwieriges Alter? Tanja wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Lara ganz schön unangenehm werden konnte, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging. Sie konnte es kaum fassen, wie schnell die Zeit vergangen war, seit sie wusste, dass sie Mutter werden würde. Die Unsicherheit und die Angst, als klar war, dass dieses Kind niemals seinen Vater kennenlernen würde, hatten sie damals überwältigt. Ihre Befürchtungen, es niemals zu schaffen, hatten sie ihrer Vorfreude auf dieses Kind beraubt. Aber, wenn man musste, konnte man über sich hinauswachsen. Laras Vater Sebastian war im Einsatz von einer Kugel getroffen worden, die für Tanja bestimmt gewesen war. Sie waren nicht nur ein Ehepaar gewesen, sondern auch beruflich ein Team. Und dann hatte alles mit einem einzigen Knall geendet. Kaum hatte Tanja begriffen, dass Sebastian getötet worden war, erfuhr sie, dass sie ein Kind erwartete. Von der ersten Sekunde an hatte sie gewusst, dass sie das Kind behalten und über alles lieben würde. Es war ein Teil von Sebastian. Auch war ihr klar gewesen, dass es nicht leicht würde, beide Elternrollen zu übernehmen. Doch wie schwierig es schließlich wirklich war, darauf hätte sie sich nicht vorbereiten können.

Gerade jetzt spürte sie, dass sie dieser Doppelrolle nicht immer gewachsen war.

Noch war Laras Lachen unbekümmert. Wer wusste, wie lange …

Das Handy dudelte unaufhaltsam „Riders on the Storm“ von den Doors. Tanjas Beruf als Kriminalkommissarin ließ sich nicht so einfach mit ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter unter einen Hut bringen. Trotzdem übte sie ihren Beruf weiterhin mit Leidenschaft aus, wobei sie sich selbst einredete, dass Sebastian es so gewollt hätte. Aber sie konnte nichts anderes. Sie liebte den Job, obwohl er sie schon viel gekostet hatte. Und immer noch kostete, denn im letzten Jahr war die leidige Tatsache hinzugekommen, dass ihr Stiefvater die Leitung der Abteilung übernommen hatte, in der sie arbeitete. Der Mann, der ihre Doppelrolle als Mutter und Polizistin nicht guthieß. Seine ständigen Seitenhiebe nervten gewaltig. Aber das spornte Tanja nur noch mehr an.

Doch in Augenblicken wie diesem wurden die Schattenseiten ihres Lebens übermächtig. Tanja ahnte, dass ihre Dienststelle auf dem Handy anrief. Die Kollegen wussten, dass sie es ständig mit sich herumtrug. Endlich gelang es ihr, danach zu greifen. Kaum hatte sie es in der Hand, stieß Lara einen lauten Schrei aus, sodass Tanja nicht verstand, wer am anderen Ende der Leitung war. „Moment bitte“, rief sie und wandte sich zu ihrer Tochter mit der Bitte, sie möge leiser sein. Doch das half nichts. Im Gegenteil: Es wurde noch schlimmer.

„Gestier“, startete sie einen neuen Versuch, das Telefonat entgegenzunehmen.

„Ich bin‘s“, verstand Tanja endlich, nachdem Lara das Wohnzimmer verlassen hatte.

 

„Sabine?“ Tanja war nicht wenig überrascht. Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Durch ihre gleichaltrigen Töchter war aus ihrer Bekanntschaft eine tiefe Freundschaft entstanden, weshalb dieser Anruf in Tanja sämtliche Alarmglocken schrillen ließ. Sabines hysterische Stimme brachte Tanjas Trommelfell fast zum Platzen. Sie wiederholte immer wieder: „Sie ist weg. Sie ist weg.“ Dann sprudelte eine Salve an Worten durch den Hörer an Tanjas Ohr, wie sie sie von ihrer Freundin noch nie gehört hatte. Nur mit Mühe konnte sie alles verstehen, was Sabine teils heulend teils schreiend ausstieß. Was sie verstand und was ihr die Nackenhaare aufstellte, war die Tatsache, dass Sabine sich im Krummen Elsass befand und dort auf unerklärliche Art und Weise ihre Tochter verschwunden war. Sie berichtete von ihrer Suche nach Annabel, von den Menschen vor Ort, die sie nicht verstand, und von einem davon stürmenden Pony. Tanja musste sich selbst zusammenreimen, welches grauenhafte Szenario sich in diesem kleinen Ort abgespielt haben musste.

Im Hintergrund hörte sie Lara rumoren. Den Geräuschen nach war sie noch immer wütend. Doch in diesem Augenblick empfand Tanja ihr Toben als wohltuend. Sie ahnte, dass dieser Anruf etwas Schlimmes einleitete. Sie wagte nicht nachzufragen, was passiert war. Aber das war auch nicht nötig, denn alles sprudelte aus Sabine von allein heraus.

Zum Abschluss ihres Berichts bat die Freundin: „Tanja. Ich bitte dich, du musst kommen. Du bist Polizistin. Nur du kannst mir helfen.“

„Ich kann in Frankreich nichts ausrichten. Meine Befugnisse enden an der Grenze.“

„Natürlich kannst du. Mehr als diese bornierten Gendarmen, die nicht mal ein Wort Deutsch reden. Du kannst perfekt Französisch.“

„Die Gendarmerie ist aber in Frankreich zuständig. Nicht die Kriminalpolizei von Saarbrücken. Wenn ich dort auftauche, schicken die mich sofort wieder nach Hause.“

„Bitte komm“, flehte Sabine, als hätte sie Tanjas Erklärungen gar nicht gehört. Und wurde mit dem nächsten Satz ihrer Freundin endgültig in die Defensive gedrängt: „Stell dir mal vor, deine Lara verschwindet spurlos?“

„Nein. Lieber nicht.“

„Also. Ich bitte dich.“

Damit hatte sie gewonnen. Obwohl Tanja wusste, dass sie nicht einfach ins Elsass spazieren und dort eigenmächtig ermitteln konnte, sagte sie ihrer Freundin zu.

3

Sabine Radeks Erbe stellte sich als rustikales Sandsteinhaus heraus, dessen schmutziggrauer Verputz teilweise abbröckelte. Es befand sich in einer Linkskurve ein gutes Stück abseits der Straße, mit einem Vorgarten, den ein kleiner, baufällig wirkender Holzzaun einrahmte. Die Scheune auf der linken Seite verdarb den ersten nostalgischen Eindruck. Zerfallen lehnte sie sich an die starke Hauswand zur Ostseite. Breite Risse ließen einen baldigen Einsturz befürchten. Der mit Steinplatten ausgelegte Weg zur Haustür war vom Regen der vergangenen Tage spiegelglatt. Tanja musste aufpassen, nicht zu stürzen.

Kaum hatte sie geklingelt, stand Sabine schon in der Tür. Beim Anblick ihrer Freundin wusste Tanja, dass es richtig gewesen war, hierherzukommen. Sabine sah so schlecht aus, dass es Tanja einen schmerzhaften Stich versetzte. Die Freundin fiel ihr zur Begrüßung in die Arme. Außer Weinen brachte sie keinen Ton heraus.

Es dauerte eine Weile, bis Tanja endlich das Haus betreten konnte. In der Küche wartete eine Überraschung auf sie. In dem mit neuen glänzenden Küchenmöbeln in sanften Terrakottafarben eingerichtetem Raum wartete bereits ein ein Gendarm in dunkelblauer Uniform. Er umrundete den Tisch, der das Zentrum des großen Raums bildete, trat auf Tanja zu und begrüßte sie mit einem knappen Nicken.

„Warum ist der Gendarm hier im Haus?“, fragte Tanja, nachdem Sabine sich endlich ein wenig beruhigt hatte. „Glauben die etwa, du hältst dein Kind hier versteckt?“

„Pssst. Der versteht jedes Wort.“

„Am Telefon sagtest du, die sprechen kein Deutsch“, murrte Tanja.

„Le Commandant ist unterwegs“, mischte sich der Uniformierte mit dunkler Stimme in das Gespräch der beiden Frauen ein.

„Wird der Commandant den Fall übernehmen?“

„Oui, Madame.“

„Komm, ich zeige dir, wo der Stall liegt“, drängte Sabine.

„Das geht doch nicht“, widersprach Tanja. „Der zuständige Beamte ist auf dem Weg hierher. Mit ihm musst du zum Stall gehen. Er ist es, der über alles informiert werden muss.“

„Le Commandant wurde von uns über alles informiert“, meldete sich der Gendarm erneut ohne Aufforderung zu Wort.

„Also. Sieh es dir bitte an.“

„Aber Sabine. Wir müssen doch hier sein, wenn er eintrifft.“

„Bis dahin sind wir längst wieder zurück.“

„Okay. Danach erzählst du mir aber der Reihe nach alles, was passiert ist“, verlangte Tanja und folgte ihrer Freundin.

Sie traten durch die große gläserne Terrassentür in einen verwilderten Garten. Vor Tanjas Augen erschien alles nur noch Grün - in einem wilden Durcheinander. Seitlich davon passierten sie den angebauten Stall, dessen Zustand von hinten genauso marode wirkte wie von vorne.

Die Dorfstraße war so wenig befahren, dass sie ohne Besorgnis auf ihrer Mitte gehen konnten. Tanja dachte, dass es hier sehr schön sein könnte, wenn da nur nicht diese Geschichte mit Annabel wäre.

Eine gefällte Birke säumte an einer Stelle den Bürgersteig. Einige Häuser weiter entdeckte Tanja abgesägte Äste einer Buche, die aufgetürmt am Straßenrand lagen. An der Weggabelung fiel ihr Blick auf das Eckhaus, ein Restaurant mit dem Namen „Chez Ernest“. Teure Autos standen auf dem kleinen Parkplatz davor. Direkt neben dem Restaurant sah es jedoch ähnlich aus wie hinter Sabines Haus: ein halb zerfallenes Mauerwerk, das nur noch an vereinzelten Stellen mit dem Hauptgebäude verbunden war; das Dach hing schief, von unten zog Nässe in die Steine.

„Hier ist sie rechts reingelaufen.“ Sabines Stimme riss Tanja aus ihren Beobachtungen. „Ich weiß nicht, wie sie den Stall so schnell finden konnte.“

Wie ein Wasserfall sprudelten die Worte aus Sabine heraus. Wieder schilderte sie in allen Einzelheiten die quälende Suche nach Annabel und ihre Hilflosigkeit, als sie das davon stürmende Pony gesehen hatte. Sie folgten der scharfen Rechtskurve, bis sie vor einer Reitanlage standen. Sie war klein, wirkte ungepflegt. Der strenge Geruch nach Pferdedung schwängerte die Luft. Schlammlöcher erschwerten ihnen den Weitermarsch.

„Ich glaube, ich habe genug gesehen“, erklärte Tanja. „Wie Pferde in einem Stall aussehen, weiß ich.“

Sabine schaute Tanja eine Weile zweifelnd an, bevor sie fragte: „Hilfst du mir bei der Suche nach Annabel?“

Tanja setzte an, ihrer Freundin zu erklären, warum das nicht möglich war, aber das wollte Sabine nicht hören.

Auf dem Rückweg fragte sich Tanja fieberhaft, wie sie es anstellen sollte, damit sie hier vor Ort ermitteln durfte. Sie wagte sich nicht, Sabine ins Gesicht zu schauen. Der Schmerz, der sich darauf abzeichnete, die Hoffnungen, die Sabine mit Tanjas Eintreffen verband, das alles konnte Tanja kaum ertragen.

Um sich erste Eindrücke der Umgebung zu verschaffen, schaute sie sich um. Sie musste vorbereitet sein, denn – egal wie sich ihr Chef in dieser Angelegenheit entscheiden würde – wusste sie jetzt schon, dass sie hier nach Annabel suchen wollte. Fachwerkhäuser standen Steinhäusern gegenüber. Scheuneneingänge waren zu Garagen umfunktioniert. Hier und dort parkten Traktoren, das Muhen von Kühen erfüllte die Dorfstraße. Doch zu Tanjas Erstaunen roch es nicht nach dem Dung von Kühen, sondern nach Verbranntem. Sie schaute sich suchend um und entdeckte zwischen zwei Häusern Flammen, die aus einer Tonne schlugen und hellen Rauch erzeugten. Dieser Rauch verbreitete sich immer mehr, wurde immer dichter, bis Tanja den Eindruck bekam, durch eine Nebelwand zu schauen. Sie beobachtete die wenigen Dorfbewohner auf der Straße und erkannte schnell, dass sich niemand daran störte. Im Gegenteil. In Gespräche vertieft standen sie grüppchenweise zusammen und starrten Tanja und Sabine neugierig hinterher.

4

Jean-Yves Vallaux legte behutsam den Hörer auf. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das auch seine Augen erreichte. Ein zufriedenes Lächeln, so zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Obwohl der Anlass traurig war. Ein vierjähriges Mädchen war in Potterchen spurlos verschwunden. Ein deutsches Mädchen. Die Kriminalpolizei - La Direction Interregional de Police Judiciaire - in Strasbourg hatte bei der Vergabe der Ermittlungen sofort an ihn gedacht, weil er in Saverne lebte und dem Krummen Elsass am nächsten war.

Aber das war nicht der einzige Grund.

Seine Schritte hallten durch das fast leere Haus, das nach dem Tod seiner Frau viel zu groß für ihn geworden war. Seine Frau. Ein Seufzer kam ihm über die Lippen. Wie immer, wenn er an sie dachte. Wie immer, wenn seine Gedanken von ihr gefangen genommen wurden. Seine Freunde hatten versucht, ihn zu einem Umzug zu überreden. Das Haus sei viel zu groß für ihn allein. Aber das war das Letzte, was er wollte. Die Macht der Erinnerungen hielt ihn hier fest. Erinnerungen an eine Liebe, die nicht von Leidenschaft oder Temperament bestimmt wurde. Nein, eine Liebe, die tiefer ging. Ihre Zurückgezogenheit war zu seiner Obsession geworden. Das Unberechenbare an ihr zu seinem Fetisch. Diese Frau hatte sein Herz im Sturm erobert. Dabei wusste er bis heute nicht, ob sie seinem Verlangen aus Mitleid oder aus echter Zuneigung nachgegeben hatte. Doch damals hatte das für ihn keine Rolle gespielt. Seine Begierde nach ihr war nicht zu bändigen gewesen. Mit jeder Faser seines Körpers hatte er sich nach ihr verzehrt. Er hatte geglaubt, sein Verlangen würde für sie beide ausreichen. Sein Wunsch sie zu besitzen ging über die Vernunft hinaus, sie selbst entscheiden zu lassen.

Irgendwann hatte er sich eingestanden, dass es gerade ihre Unberechenbarkeit war, die ihn magisch angezogen hatte. Ihre Launenhaftigkeit, immer schwankend zwischen Leidenschaft und Schwermut. Indem er sich selbst in ihre Einsamkeit verbannte, wollte er ihre Mauer durchbrechen, ihr mit seiner Ruhe und Beständigkeit einen Rettungsring hinzuwerfen. Aber sie hatte ihn nicht ergriffen, sich nicht daran festgehalten. Ihre Rastlosigkeit hatte sie ihre ganze gemeinsame Zeit begleitet – eine viel zu kurze Zeit.

Sein Blick aus dem Fenster fing einen Teil der Landschaft ein. Vor den nördlichen Ausläufern der Vogesen zeigte sich trotz grauem Wetter der Hafen von Saverne in seiner schönsten Pracht. Eine Schönheit, die ihn schmerzlich an seine Frau denken ließ. Wie gern hatte sie in ihrem Vorgarten gesessen und den Menschen zugesehen. Immer Beobachterin sein, niemals aktiv am Leben teilnehmen. All seine Bemühungen, sie mitzunehmen, mit ihr gemeinsam in das Leben draußen einzutauchen, waren gescheitert. Niemals waren sie gemeinsam über den Quai geschlendert – ein Eis in der einen Hand, mit der anderen aneinander festhaltend, wie so viele verliebte Paare das taten. Mit ihr konnte er nur zusehen, wie andere das Leben in vollen Zügen genossen. Für sie war das passive Miterleben von Glück das Höchste der Gefühle. Deshalb hatte er diese Momente mit ihr geteilt. Es waren schöne Augenblicke gewesen - damals.

Sie war in Potterchen geboren und aufgewachsen. Ihre Schwester lebte immer noch dort. Vermutlich lag darin der eigentliche Grund, dass er für diesen Fall eingeteilt worden war.

Er warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sein Dreitagebart ließ ihn verwegen aussehen. Das gefiel ihm besser als die Trauermiene, die er immer aufsetzte, wenn er an seine Frau dachte. Außerdem trieb ihn der Gedanke an, dass ein kleines Mädchen seine Hilfe brauchte.

Mit neuer Energie verließ er das Haus. In der angrenzenden Garage glänzte ein dunkelblauer Peugeot 607. Er stieg ein und ließ den V6-Motor leise surren. Mit seinen fast fünf Metern Länge war das rückwärts Manövrieren aus der Garage eine erste Herausforderung für Jean-Yves. Gegenüber seinem Haus grenzte der Canal de la Marne au Rhin unvermittelt an die schmale Straße, was für ihn bedeutete, die Geschwindigkeit seines Wagens zu drosseln, sonst würde er im Wasser landen.

Die schnittige Form des Fahrzeugs ließ ihn ruhig über die Straßen gleiten, der drei Liter Hubraum setzte eine Power frei, die Jean-Yves tief in den Sitz drückte. Er überquerte eine kleine Brücke, passierte das Rohan-Schloss, in dem heute die Museen der Stadt untergebracht waren, und geriet vor dem roten Backsteinbau des Bahnhofs, den kleine Springbrunnen zierten, in einen Stau. Leise surrte der starke Motor unter ihm, ein monotones Brummen, das ihn beruhigte.

 

Endlich ging es weiter. Jean-Yves steuerte die Zaberner Steige mit ihren vierhundert Metern Höhe an, ein Zeugnis einer ungeheuren Arbeit, wie ein berühmter Dichter einst seiner Bewunderung Ausdruck verliehen hatte. Während Goethe im achtzehnten Jahrhundert mit seinem Pferd über diesen Pass nach Phalsbourg geritten war, zog er es vor, dessen Spuren mit zweihundertzehn Pferdestärken zu folgen.

Der Ausläufer der Vogesen verlief in steilen Serpentinen über den Pass, wo er das Col de Saverne hinter sich ließ. Aus den malerischen Fachwerkhäusern, die Saverne beherrschten, wurden alte, charakteristische Steinhäuser, die die Hauptstraße säumten. Er verließ das Elsass mit seiner verträumten Route du Vin, durchquerte das lothringische Dorf Danne et Quatre Vents, dem die Bewohner mit viel Witz und Fantasie eine eigene Persönlichkeit zu verleihen suchten. Am meisten erfreute sich Jean-Yves am Anblick eines rosa Schweins aus Plastik in Lebensgröße in einem der Vorgärten der langen Häuserreihe.

Nun erreichte er Phalsbourg. Mitten in der Stadt befand sich das geschichtsträchtige Tor, das Goethe einst durchquert hatte. Doch heute blieb Jean-Yves keine Zeit für kulturgeschichtliche Betrachtungen. Ein vierjähriges Mädchen war verschwunden Ihm blieb keine Zeit, er musste auf direktem Weg weiter zu seinem Ziel.

Das große Internat Saint Antoine zu seiner Rechten prägte Phalsbourgs Stadtbild nachhaltig. Weitere Dörfer folgten, alte Bauernhöfe und Reste von dem, was einst Bauernhöfe gewesen waren, boten sich seinem Auge dar. Hinter einer kleinen Häuserreihe, die als Metting beschildert war, überquerte er die unsichtbare Grenze zum Krummen Elsass.

Die Landschaft veränderte sich, zeigte sich immer weitläufiger. Statt Weinreben beherrschten nun Maisfelder das Bild. Etliche Häuseransammlungen ohne Ortsbezeichnung wurden ihrer Bedeutung als Kuhdörfer gerecht. Weiden voller Kühe in den Farben schwarz-weiß oder rot huschten an seinem immer schneller werdenden Auto vorbei. Gelegentlich nahm er auch Pferdekoppeln und Schafsweiden wahr. Die Sonne zeigte die letzte Kraft des Sommers, der sich seinem Ende zuneigte. Gelegentlich schaute sie hinter dunklen Wolken hervor und ließ alles in freundlichem Licht erstrahlen.

Plötzlich huschte ein großer, bedrohlicher Schatten über sein Auto. Jean-Yves richtete seinen Blick nach oben. Störche zogen am Himmel ihre Bahnen. Er schaute ihnen nach und wünschte sich, einer von ihnen zu sein. Diese Vögel waren schlau genug, zur Winterzeit in den Süden zu fliegen.

In Sarre-Union änderte sich das Bild von neuem. Keine Landwirtschaft, sondern Industriebetriebe stachen hier ins Auge. Eine Saftfabrik, daneben ein Hersteller von Elektrozubehör und im Zentrum der Stadt eine Plastikfabrik – allesamt Garanten für viele Arbeitsplätze im Elsass.

Hinter Sarre-Union bog er links ab. Hier wurde die Straße schmal. Kurz vor Potterchen sah er die Schienen, die das Dorf einrahmten. Rechts lagen Steinquader, die Reste alter Klostermauern. Der Bürgermeister hatte sich immer noch keine Mühe gemacht, dort etwas zu ändern. Jean-Yves schüttelte verständnislos den Kopf. Da erst fiel sein Blick auf die gegenüberliegende Seite. Große Rohre lagerten dort. Bagger parkten daneben. Einige Gräben und Löcher klafften bereits in der nassen Erde. Sollte hier doch noch etwas passieren?

Er überquerte die Schienen. Nur noch wenige Meter und er hatte sein Ziel erreicht.