Aus dem Leben einer jüdischen Familie

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie
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Edith Stein

Aus dem Leben einer jüdischen Familie

Das Leben Edith Steins: Kindheit und Jugend

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Aus den Erinnerungen meiner Mutter

Aus der Welt der beiden Jüngsten

Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie

Vom Werdegang der beiden Jüngsten

Von den Studienjahren in Breslau

Aus dem Tagebuch zweier Mädchenherzen

Von den Studienjahren in Göttingen

Aus dem Lazarettdienst in Mährisch-Weisskirchen

Vom Rigorosum in Freiburg

Impressum neobooks

Vorwort

Die letzten Monate haben die deutschen Juden aus der ruhigen Selbstverständlichkeit des Daseins herausgerissen. Sie sind gezwungen worden, über sich selbst, ihr Wesen und ihr Schicksal, nachzudenken. Aber auch vielen andern jenseits der Parteien Stehenden hat sich durch die Zeitereignisse die Judenfrage aufgedrängt. Sie ist z.B. in den Kreisen der katholischen Jugend mit großem Ernst und Verantwortungsbewußtsein aufgegriffen worden. Ich habe in diesen Monaten immer wieder an eine Unterredung denken müssen, die ich vor einigen Jahren mit einem Priester und Ordensmann hatte. Es wurde mir darin nahegelegt aufzuschreiben, was ich als Kind einer jüdischen Familie an jüdischem Menschentum kennengelernt habe, weil Außenstehende so wenig von diesen Tatsachen wüßten. Vielerlei andere Aufgaben hinderten mich damals, diesen Vorschlag ernstlich aufzugreifen. Als im letzten März mit der nationalen Revolution der Kampf gegen das Judentum in Deutschland einsetzte, fiel er mir wieder ein. „Wenn ich nur wüßte, wie Hitler zu seinem furchtbaren Judenhaß gekommen ist“, sagte eine meiner jüdischen Freundinnen in einem jener Gespräche, in denen man um Verständnis dessen, was da über einen hereinbrach, rang. Die programmatischen Schriften und Reden der neuen Machthaber gaben Antwort darauf.

Wie aus einem Hohlspiegel blickt uns daraus ein erschreckendes Zerrbild an. Mag sein, daß es in ehrlicher Überzeugung gezeichnet wurde. Mag sein, daß die einzelnen Züge lebenden Modellen nachgebildet wurden. Aber ist das jüdische Menschentum schlechthin die notwendige Auswirkung des „jüdischen Blutes“? Sind Großkapitalisten, schnoddrige Literatur und die unruhigen Köpfe, die in den revolutionären Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine führende Rolle spielten, die einzigen oder auch nur die echtesten Vertreter des Judentums? In allen Schichten des deutschen Volkes werden sich Menschen finden, die diese Frage verneinen: sie sind als Angestellte, als Nachbarn, als Schul- und Studiengefährten in jüdische Familien hinein gekommen; sie haben dort Herzensgüte, Verständnis, warme Teilnahme und Hilfsbereitschaft gefunden; und ihr Gerechtigkeitssinn empört sich dagegen, daß diese Menschen jetzt zu einem Pariadasein verurteilt werden. Aber vielen andern fehlen diese Erfahrungen. Vor allem wird der Jugend, die heute von frühester Kindheit an im Rassenhaß erzogen wird, die Gelegenheit dazu abgeschnitten. Ihnen gegenüber haben wir, die wir im Judentum groß geworden sind, die Pflicht, Zeugnis abzulegen.

Was ich auf diesen Blättern niederschreiben will, soll keine Apologie des Judentums sein. Die „Idee“ des Judentums zu entwickeln und gegen Verfälschungen zu verteidigen, den Gehalt der jüdischen Religion darzulegen, die Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben — Zu all dem sind Berufene da. Und wer sich darüber unterrichten will, der findet eine ausgebreitete Literatur vor. Ich möchte nur schlicht berichten, was ich als jüdisches Menschentum erfahren habe; ein Zeugnis neben andern, die bereits im Druck vorliegen oder in Zukunft erscheinen werden: wem es darum zu tun ist, sich unbefangen aus Quellen zu unterrichten, dem will es Kunde geben.

Es war zunächst meine Absicht, die Lebenserinnerungen meiner Mutter aufzuzeichnen. Sie war immer unerschöpflich im Erzählen, und wenn ich auch nicht hoffen konnte, daß ihr in ihrem hohen Alter — sie steht im 84. Jahr — noch die Niederschrift gelingen würde, so wollte ich doch versuchen, mir erzählen zu lassen und ihre Worte möglichst getreu wiederzugeben. Aber auch das erwies sich als sehr schwierig. Es fanden sich nicht genug ruhige Stunden dafür. Ich mußte bestimmte Fragen stellen, um in den Strom der Erinnerungen so viel Ordnung und Klarheit zu bringen, wie für einen fremden Leser zum Verständnis unerläßlich war, und oft war es nicht möglich, greifbare und zuverlässige Tatsachen festzustellen. Ich stelle im Folgenden die kurzen Aufzeichnungen im Anschluß an die Gespräche mit meiner Mutter voran. Darauf soll ein Lebensbild meiner Mutter folgen, wie ich es selbst zu geben vermag.

Aus den Erinnerungen meiner Mutter

1.

Der Vater meiner Mutter, Salomon Courant, ist im Jahre 1815 geboren.

Wo seine Familie herstammt, daran erinnert sich meine Mutter nicht mehr; sie meint, von der französischen Grenze. Später wohnten seine Eltern in Peiskretscham O.S. Er war Seifensieder und „Lichtzieher“. Auf seinen Wanderungen kam er ins Haus meiner Urgroßeltern in Lublinitz O.S. Er sah meine Großmutter, die damals 12 Jahre alt war, und sie gefiel ihm gleich. Von da an kam er jedes Jahr. Als sie 17 Jahre alt war, wurden sie verlobt, und im Jahr darauf war die Hochzeit. Das war das Jahr 1842.

Der Urgroßvater, Joseph Burkhard, stammte aus der Provinz Posen, ebenso seine Frau, Ernestine geb. Prager. Im ersten Jahr ihrer Ehe lebten sie in Hundsfeld i.Sch. Als ihr Häuschen dort niederbrannte, gingen sie nach Lublinitz. Der Urgroßvater war viele Jahre Kantor und Vorbeter. Als er diesen Posten aufgeben mußte, richtete er eine Wattefabrik ein. Er hatte einen Beetsaal im eigenen Hause. Dort kamen an den hohen Festtagen alle Schwiegersöhne zum Beten zusammen. Er war ein sehr strenger Vater und Lehrer. Die Enkelsöhne mußten zu ihm kommen, um beten zu lernen. Er schalt viel, schlug aber nie. Und nie ging ein Kind ohne ein Geschenk aus dem Hause. Die Urgroßeltern hatten 11 Kinder, 4 Söhne und 7 Töchter. Vom 70. an wurden die Geburtstage als große Feste gefeiert, zu denen sich möglichst alle Kinder und Enkel einfanden. In einem Tafellied, das ihr Sohn Emanuel zu einer solchen Gelegenheit dichtete, hieß es: „Selten gab’s wohl einen Vater, der seiner Kinder so bedacht, anscheinend rauh und doch voll zarter Sorge über sie gewacht. In den 78 Jahren,/ die Dir heut verflossen sind,/ hast Du Gottes Huld erfahren,/ der Dir gnädig stets gesinnt./ Immer treu steht Dir zur Seite / Großmama in Freud’ und Leide./ Sie schützt Dich und ist auch uns allen so gut,/ vor Unglück und Kummer hält sie uns in Hut“. Dies hat ein Enkelsohn, Jakob Radlauer, gedichtet, der Sohn der ältesten Tochter Johanna, der Liebling der ganzen Familie. Er lebte als hochangesehener Kaufmann in Breslau und starb vor einigen Jahren als Greis von 85 Jahren, nachdem er seine beiden Söhne im Weltkrieg verloren hatte. (Der ältere, Ernst Radlauer, stand bei Ausbruch des Weltkrieges als Jurist im Verwaltungsdienst in Ostafrika. Es gelang ihm, in abenteuerlicher Verkleidung nach Deutschland zurückzukehren, um wichtige Papiere zu retten und ins Heer einzutreten). Die Urgroßeltern lebten als alte Leute in großer Armut, aber sie wußten immer noch etwas für Ärmere zu ersparen. Wenn die Urgroßmutter Kaffee kochte — damals noch eine Kostbarkeit — legte sie jedesmal ein paar Bohnen beiseite und sammelte so die ganze Woche. Jeden Freitag bekam eine arme Frau das Gesammelte. Alle abgetragenen Sachen aus dem eigenen Haushalt und aus denen der verheirateten Töchter wurden sorgfältig ausgebessert, um sie an Arme zu verschenken. Bei diesen Näharbeiten mußten die kleinen Enkelinnen tüchtig helfen. Die Großmutter versammelte sie um sich, leitete sie zur Arbeit an und wachte streng darüber, daß alles mit der größten Sorgfalt gemacht wurde. Von 6 Jahren an mußten die Kinder Säume nähen, die größeren bekamen die langen Nähte anvertraut. Ganze Aussteuern für befreundete Familien wurden in dieser Nähschule gearbeitet.

In den letzten Lebensjahren führten die Urgroßeltern keinen Haushalt mehr. Das Essen wurde ihnen von den Großeltern gebracht. Das ganze Leben hindurch hatte der Urgroßvater seine Frau zärtlich geliebt, nie geduldet, daß sie eine grobe Arbeit anrührte. In seiner letzten Krankheit wurde er von der Wahnidee geplagt und faßte Verdacht gegen sie, sodaß man sie schließlich aus dem Haus nehmen mußte. Er starb mit 89 Jahren. Seitdem lebte die Urgroßmutter bei ihrer Tochter Adelheid Courant, meiner Großmutter. Sie war schon leidend, als sie herüberzog und ist viele Jahre von ihrem Schwiegersohn und den Enkelinnen mit der größten Liebe und Sorgfalt gepflegt worden — ihre Tochter hat sie lange überlebt. Bis zuletzt war sie geistig völlig rege, sie ließ sich gerne vorlesen — dazu wurden noch die Urenkelinnen angestellt, die am Ort lebten oder zu den Ferien kamen — und folgte mit dem größten Interesse. Sie wurde 95 Jahre alt; sie mußte körperlich sehr viel leiden und fühlte sich auch sehr bedrückt durch die viele Mühe, die sie verursachte. Meine Mutter hat sie immer eine „wahrhaft fromme Frau“ genannt. In der Synagoge und auf dem Friedhof betete sie mit der größten Sammlung und Innigkeit, ebenso am Freitagabend, wenn sie die Sabbatlichter anzündete und die dazugehörigen Gebete sprach. Am Schluß pflegte sie hinzuzufügen: „Herr, schicke uns nicht so viel, wie wir ertragen können“.

 

Meine Großmutter, Adelheid Burkhard, war von Kindheit an gewöhnt, viel zu arbeiten. Sie und ihre Schwester Johanna mußten die jüngeren Geschwister hüten. Und weil das kleine Gehalt, das ihr Vater als Kantor hatte, für den Unterhalt der großen Familie nicht ausreichte, mußten sie sehr zeitig aufstehen, um in den frühen Morgenstunden feine Handarbeiten zu machen und dadurch etwas zu verdienen.

Als die Großeltern heirateten, eröffneten sie eine kleine Kolonialwarenhandlung. Nach der Anschaffung der Waren blieben ihnen als „Barvermögen“ 25 Pfennige. Das Geschäft richtete sich durch den Fleiß und die Tüchtigkeit beider in kürzester Zeit sehr gut ein. Alle Unternehmungen berieten sie gemeinsam, die Bücher wurden immer von der Großmutter geführt; ohne sie zu befragen, hätte der Großvater nichts unternommen. Als das Geschäft sich vergrößerte, wurden die jüngeren Geschwister Burkhard zur Hilfe herangezogen und arbeiteten unter der Leitung ihrer Schwester. Fast jedes Jahr kam ein Kind zur Welt. Das älteste starb als Säugling, die andern 15 sind alle herangewachsen, und die meisten haben ein hohes Alter erreicht. Von diesen 15 Kindern war meine Mutter das vierte.

Wie die Großmutter ihre eigenen Eltern hoch in Ehren gehalten und ihnen alle Liebe erwiesen hatte, so erntete sie von ihren Kindern die größte Verehrung und Liebe. Alle Töchter wurden vom Alter von 4 Jahren an zur Arbeit angehalten, zur Hilfe im Geschäft, das sich von Jahr zu Jahr vergrößerte, zum Haushalt, den sie später abwechselnd führten, und zu Handarbeiten. Den Anfangsunterricht erhielten die älteren Geschwister in der öffentlichen Schule (meine Mutter von 5 Jahren an in einer katholischen Volksschule). Später begründete mein Großvater für seine vier Ältesten und die Kinder von noch drei andern jüdischen Familien eine Privatschule.

Meine Mutter wurde schon mit 12 Jahren aus der Schule genommen, um zu Hause zu helfen. Sie bekam aber einige Privatstunden in Deutsch und Französisch. Alle Söhne wurden nach außerhalb, schließlich alle nach Breslau, aufs Gymnasium geschickt; fünf wurden Kaufleute, zwei Akademiker (Apotheker und Chemiker).

Der Religionsunterricht wurde von dem jüdischen Lehrer in der Schule erteilt. Es wurde etwas Hebräisch gelernt, aber zu wenig, um später selbständig übersetzten und mit Verständnis beten zu können. Die Gebote wurden gelernt, Teile aus der Heiligen Schrift gelesen, manche Psalmen (deutsch) auswendig gelernt. Meine Mutter sagt, daß sie mit der größten Begeisterung diesem Unterricht beigewohnt habe. Es sei ihnen immer eingeprägt worden, daß sie jede Religion achten, niemals gegen eine fremde etwas sagen sollten. Die Knaben wurden, wie schon früher erwähnt, vom Großvater in den vorgeschriebenen Gebeten unterrichtet. Am Sonnabend nachmittag nahmen beide Eltern alle Kinder, die zu Hause waren, zusammen, um mit ihnen Vesper- und Abendgebet zu beten und es ihnen zu erklären. Das tägliche Schrift- und Talmudstudium, wie es in früheren Jahrhunderten als Pflicht jedes jüdischen Mannes galt und bei Ostjuden auch heute noch häufig gepflegt wird, war im Hause meiner Großeltern nicht mehr üblich. Aber alle gesetzlichen Vorschriften wurden aufs strengste beobachtet.

(Ich lasse nun folgen, was mir aus früheren Erzählungen meiner Mutter und meiner Geschwister in Erinnerung geblieben ist und was ich selbst miterlebt habe).

Über dem Sofa in unserm Wohnzimmer hängen die Bilder meiner Großeltern. Das feine, zarte Gesicht meiner Großmutter, von einem weißen Häubchen umrahmt, ist sehr ernst und spricht von viel Leiden. Sie starb lange vor meiner Geburt; was ich von ihr weiß, stammt also nur aus Erzählungen. Aber ich glaube, sie innerlich zu kennen und herauszufühlen, welche ihrer Töchter und Enkelinnen ihr besonders gleichen und was vielleicht in mir selbst von ihr herstammen mag. Noch heute klingt ehrfürchtige Scheu aus der Stimme meiner Mutter, wenn sie von ihr spricht. Die Kinder liefen mit ihren kleinen Nöten eher zum Vater als zu ihr. Zu meiner Großmutter ging man, wenn man ernsten Rat brauchte: nicht nur Mann und Kinder und Geschwister, auch viele Freunde. Adlige Damen von den großen Gütern der Umgegend fuhren oft in ihren Wagen vor, um sie zu besuchen und rechneten es sich zur Ehre an, sie als Freundin zu haben.

Mein Großvater guckt munter und humorvoll auf den Beschauer herab. An ihn habe ich noch eigene Erinnerungen. Er starb, als ich fünf Jahre alt war. Er war ein kleiner, lebhafter Mann. Wenn er uns in Breslau besuchte, zog er aus seinen Taschen für jedes Kind eine Tafel Schokolade. Aber auch die fremden Kinder auf der Straße wußten, daß er immer etwas für sie bei sich hatte. Wenn bei großen Familienfesten Torten mit schönen Verzierungen bereitstanden, holte er die kandierten Früchte herunter und steckte sie uns in den Mund. Er war immer voller lustiger Einfälle und unerschöpflich im Erzählen von Witzen. Als hervorragend tüchtiger Kaufmann hatte er sich aus den kleinsten Anfängen heraufgearbeitet, hatte 15 Kinder großgezogen und immer noch für andere, besonders für arme Verwandte, etwas übrig gehabt. Er lebte im eigenen, geräumigen Hause, umgeben von Kindern und Enkeln, und übte eine unbegrenzte Gastfreundschaft. Nicht nur in dem kleinen Städtchen, wo er wohnte, sondern in ganz Oberschlesien war er hochgeachtet. Das größte Vertrauen genoß er bei den Bauern der Umgebung, die am Sonntag zur Kirche und am Mittwoch zum Wochenmarkt in die Stadt kamen und dabei ihre Einkäufe machten. Einmal brachte ihm ein Bauer Geld zum Aufheben. Der Großvater nahm es und sagte: „Wart, ich will dir einen Schuldschein dafür geben“. Er brachte den Schein, der Bauer betrachtete ihn aufmerksam und gab ihn dann zurück: „Heben Sie mir den mit auf“. Die Erinnerung an den alten Herrn Courant ist heute noch bei denen lebendig, die ihn kannten. Vor zwei Jahren besuchte mich öfters eine Dozentin von der pädagogischen Akademie in Beuthen. Als ich meiner Mutter ihren Namen nannte, meinte sie, die Familie stamme sicher aus Lublinitz. Wir stellten fest, daß ihr Vater tatsächlich dort auf gewachsen, aber schon mit 16 Jahren fortgezogen war. Als ich sie einmal zu einem Spaziergang abholte, kam er herein, um mich als Sprößling der Familie Courant zu begrüßen; das sei ja eine der angesehensten Familien der Stadt gewesen, er könne sich gut an den alten Herrn erinnern.

In den letzten Jahren war mein Großvater halsleidend (ein Blasenleiden) und suchte öfters das Bad Salzbrunn auf. Ich erinnere mich, daß wir ihn dort besucht haben. Auch an seinen 80. Geburtstag erinnere ich mich, zu dem meine Mutter meine Schwester Erna und mich mitnahm. Es war eins jener großen Feste, wie sie in unserer Familie als Ausdruck kindlicher Liebe und verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit üblich sind; das erste, an dem ich teilnehmen durfte. Im Jahr darauf starb mein Großvater. Er wurde 83 Jahre und war nur wenige Wochen wirklich krank.”

2.

Haus und Geschäft wurden von seinem jüngsten Sohn und zwei unverheirateten Töchtern übernommen und in seinem Sinn weitergeführt. Das Haus blieb der Mittelpunkt der weitverzweigten und weit verstreuten Familie. „Ich fahre nach Hause“, sagte meine Mutter noch als alte Frau, wenn sie in ihre Heimat fuhr. Und für uns Kinder war es die größte Ferienfreude, wenn wir zu den Verwandten nach Lublinitz fahren durften. Der Direktor, der den Geographieunterricht in unserer Schule gab, erkundigte sich jedesmal nach den großen Ferien, was für Reisen man gemacht hätte, und quittierte mit ironischem Lächeln, wenn man nicht weiter als bis Lublinitz gekommen war. Aber das störte uns nicht. In dem kleinen Städtchen hatten wir die größte Freiheit. Wir wurden nicht viel beaufsichtigt, wir sollten es nur gut haben und vergnügt sein. Schon in dem großen Haus konnte man sich ganz anders bewegen als in der engen Mietwohnung, die wir in unsern Kinderjahren in Breslau hatten. Jeder Winkel war einem schon vertraut und mit jedem feierte man Wiedersehen. Da war der große Laden mit den verlockenden Bonbonkrausen, den Schokoladenvorräten und den Schubladen, in denen Mandeln und Rosinen zu finden waren. Es stand uns alles offen; wir waren aber von zu Hause streng gewöhnt und es bedurfte erst wiederholten Zuredens, bis wir uns trauten, selbst etwas zu nehmen. Daneben war das Eisengeschäft, das hauptsächlich das Reich meines Onkels war. Auch da gab es verlockende Dinge, von denen wir gewöhnlich etwas zum Abschied geschenkt bekamen: Taschenmesser, Scheren und dergleichen. Am Wochenmarkt, wenn die Bauern hereinströmten und gar nicht genug Hände da sein konnten, durften wir später auch etwas helfen. Wie stolz war man, wenn man ein paar Brocken Wasserpolnisch aufgeschnappt hatte, um sich mit den Bauern zu verständigen, oder gar, wenn einem die Bedienung der Kasse anvertraut wurde! Abends saß man plaudernd auf den Stufen der Ladentür oder ging um den „Ring“ spazieren: dort saßen auf den Bänken vor den Häusern alte Bekannte, und in der Mitte stand zwischen hohen Bäumen der heilige Johannes. Am Sonnabend wurden wir manchmal in die Synagoge mitgenommen.

Mitunter wurde ein Spaziergang in den Wald gemacht und ein Besuch auf dem schönen Friedhof am Walde, wo unsere Großeltern begraben liegen und in kleinen Kindergräbern Geschwister, die lange vor unserer Geburt gestorben sind. Den Höhepunkt der Ferienfreuden bedeutete eine Wagenfahrt zu Verwandten in einer andern oberschlesischen Kleinstadt. Am meisten zog uns aber doch in die Heimat unserer Mutter die Liebe zu ihren Geschwistern. Der Onkel war etwas kurz angebunden, aber immer gut und freundlich. Seine Frau und die jüngere unserer beiden Tanten standen den getrennten Haushalten vor. Sie überboten sich an jugendlichem Übermut, an Witzen und Neckereien; mit ihnen konnten wir Kinder wie mit unseresgleichen verkehren. Dagegen schauten wir mit Ehrfurcht zu unserer Tante Mika (Friederike) auf; sie nahm den Platz im Hause ein, den einst die Großmutter innehatte, führte die Bücher, war die Beraterin des Onkels in allen geschäftlichen Angelegenheiten und die Vertraute aller ihrer Geschwister, der älteren wie der jüngeren, und später auch ihrer Neffen und Nichten. Wir besitzen ein Jugendbild von ihr, das von einer wunderbaren Anmut, mädchenhaften Reinheit und tiefem Ernst ist. Sie war die Einzige im Hause, die den Glauben der Eltern bewahrt hatte und für die Erhaltung der Tradition sorgte, während bei den andern der Zusammenhang mit dem Judentum von der religiösen Grundlage losgelöst war. Sie stand einsam in ihrer andersgearteten Umgebung, und ihr Geist sehnte sich hinaus über die engen Schranken der häuslichen und geschäftlichen Angelegenheiten und des Kleinstadtlebens. Sie las gern, machte zu den Familienfesten — gemeinsam mit einer andern Schwester — kleine Theaterstückchen, in denen die Personen mit scharfem Blick und liebevollem Humor gezeichnet waren, besuchte bei Aufenthalten in Breslau oder andern größeren Städten gern das Theater. Einer ihrer Brüder, der wie sie unverheiratet geblieben war, pflegte sie auf seinen Sommerreisen mitzunehmen. Als wir heranwuchsen, wurden auch unsere Besuche für sie bedeutungsvoll. Sie ließ sich gern von unsern Studien erzählen, forschte nach unsern Ansichten über dies und jenes und ließ es, wo es ihr nötig schien, auch an Ermahnungen und Tadel nicht fehlen. Übrigens waren wir etwas zu ernst und zu wenig weltfreudig. Sie hatte, wohl als Gegengewicht gegen ihre eigene Schwere, heitere und lebenslustige Menschen gern, hätte uns wohl auch ein sonnigeres Leben, als das ihre es war, gegönnt. Das Ende ihres Lebens hängt aufs engste zusammen mit dem Verlust der oberschlesischen Heimat. Lublinitz liegt nicht weit von der polnischen Grenze. Den ganzen Krieg hindurch kamen Truppentransporte hindurch und meine Tanten betätigten sich eifrig bei der Verpflegung der Soldaten. Manche Nacht haben sie damals auf dem Bahnhof verbracht. Mein Onkel war Vertrauensmann der deutschen Behörden bei der Verteilung der Lebensmittel. Die ganze Familie zog sich durch ihr entschiedenes Eintreten für die deutsche Sache den Haß der Polen zu. Während der Abstimmungszeit wurden alle Kräfte aufgeboten, um ein (im deutschen Sinne) günstiges Ergebnis zu erzielen. Über 50 Abkömmlinge der Familie Courant, die in Lublinitz geboren waren, kamen zur Abstimmung hin. So viel wie möglich wurden im eigenen Hause untergebracht; die übrigen wurden anderswo einquartiert, aber alle täglich am eigenen Tisch aufs beste verpflegt. Das traurige Ergebnis war nach solchen Anstrengungen umso schmerzlicher: Lublinitz wurde polnisch (in der Stadt überwogen die deutschen Stimmen, aber da die Stimmen von Stadt- und Landkreis zusammengezogen wurden, konnte eine polnische Mehrheit errechnet werden), meine Verwandten konnten und wollten nicht daran denken, dort zu bleiben, sie verkauften das Stammhaus unserer Familie und verließen die Heimat.

 

Mein Onkel zog mit Frau und Kindern nach Oppeln, in den deutschgebliebenen Teil von Oberschlesien, die beiden Tanten gingen nach Berlin, um dort mit ihrem unverheirateten Bruder einen gemeinsamen Haushalt zu begründen. Es war in der Zeit der größten Wohnungsnot. Um ein Unterkommen zu finden, kauften sie selbst ein Haus, konnten aber keine Wohnung darin frei bekommen. Sie hatten ihre Möbel auf dem Speicher stehen und wohnten im eigenen Haus in zwei möblierten Zimmern, die sie ihren eigenen Mietern teuer bezahlen mußten. Die übermäßigen Anstrengungen und Aufregungen der letzten Jahre, der Verlust der Heimat, das Aufhören der gewohnten Arbeit, der Mangel einer geregelten und gemütlichen Häuslichkeit — das alles zehrte die Kräfte meiner Tante auf. Gelegentlich einer Reise nach Schlesien erlitt sie in Breslau einen schweren Schlaganfall. Es dauerte lange, ehe sie wieder zum Bewußtsein kam. Die ganze Familie zitterte um ihr Leben, obgleich die Ärzte sagten, man könne es ihr nicht wünschen, wieder zu erwachen. Nach anfänglicher Lähmung erlangte sie zunächst Sprach- und Sehfähigkeit wieder. Dann kam ein allmählicher Rückgang aller Fähigkeiten.

Sie war nacheinander in verschiedenen verwandten Familien zur Pflege, bis schließlich die meisten ihrer Geschwister zu der Überzeugung kamen, daß die Überführung in ein Krankenhaus nötig sei. Dagegen setzte sich meine Mutter entschieden zur Wehr, und ihre Kinder unterstützten sie darin. Wir sahen, wie sehr die Kranke darunter leiden würde, wenn sie in einer fremden Umgebung leben müßte. Die große Liebe zu ihren Angehörigen, die sie früher in so vielen Wohltaten betätigt hatte, war unvermindert geblieben. Der einzige Dank, der in Betracht kam, war, daß man ihr den Trost ließ, unter vertrauten Menschen zu sein. So nahm meine Mutter sie mit ihrer Schwester Clara, die immer mit ihr zusammengelebt hatte, in unser Haus. Sie hat noch zwei Jahre bei uns gelebt, und meine Mutter hat das langsame Sterben dieser geliebten Schwester, die 10 Jahre jünger war als sie selbst, mit ansehen müssen. Hand und Fuß waren gelähmt, die Sprachfähigkeit nahm mehr und mehr ab; es blieben schließlich nur wenige Worte, die mechanisch wiederholt wurden oder auch beschwörend, weil sie einen Sinn kundgeben sollten, für den kein angemessener Ausdruck gefunden werden konnte. Allmählich versagte nicht nur die Ausdrucksfähigkeit, sondern auch das Verständnis. Es war schließlich sehr schwer zu beurteilen, was überhaupt noch aufgefaßt wurde. Eine beständige Unruhe war in ihr. Man konnte sie nicht mehr ohne Aufsicht lassen, weil sie versuchte aufzustehen und fortzugehen. Offenbar hatte sie das Gefühl, in einer fremden Umgebung zu sein, und wollte nach Hause. Aber der Verfall aller geistigen Fähigkeiten konnte den Kern der Persönlichkeit nicht zerstören. Sie blieb gut und liebevoll, rührend dankbar für jeden kleinen Liebesdienst. Als sie keine Worte mehr fand, dankte sie mit Liebkosungen; in gesunden Tagen war sie damit zurückhaltend gewesen. Sie war 67 Jahre alt, als sie starb. Ich war damals nicht zu Hause. Aber meine Mutter und meine Schwester Rosa sind in der letzten Stunde bei ihr gewesen. Es war eine der großen schmerzlichen Erfahrungen in ihrem langen, leidensreichen Leben.

3.

Meine Mutter war, wie ich schon sagte, das 4. der 15 Geschwister Courant. (Wir haben als Kinder die Namen dieser 15 Geschwister rhythmisch auswendig gelernt wie in der Religionsstunde die Namen der 12 Söhne Jakobs: Bianca, Cilia, Jakob, Gustel, / Selma, Siege, Berthold, Malchen, / David, Mika, Eugen, Emil, / Alfred, Clara, Emma). Von früher Jugend an war sie an unermüdliche Arbeit gewöhnt. Vom 6. Jahr an strickte sie mit ihrer Schwester Selma um die Wette. Der Strickstrumpf gehört bis heute notwendig zu ihr. Wenn sie keine dringendere geschäftliche oder häusliche Arbeit hat, strickt sie und liest dabei. Das war aber zeit ihres Lebens nur eine Erholung. Ich erwähnte schon, daß sie abwechselnd mit ihren Schwestern den großen Haushalt führte und im Geschäft tätig war. Schon mit 8 Jahren war sie so tüchtig, daß die Eltern sie auswärtigen Verwandten im Notfall zur Hilfe schickten. Es war ihr die härteste Arbeit nicht zu schwer, und man schätzte sie so, daß der sonst geizige Onkel ihr zum Dank teure Geschenke machte, z.B. einen Hut, der für eine Dame gepaßt hätte. Mitten im Winter ging sie mit ihm zum Markt und kassierte das Geld ein, während er verkaufte. Es ist sehr charakteristisch, wie dieser Aufenthalt endete: der Onkel ließ sich im Ärger hinreißen, in häßlichen Ausdrücken von ihren Eltern zu sprechen. Das konnte sie nicht ertragen. Sie lief heimlich davon und ließ sich von einem Lastwagen nach Hause mitnehmen.

Wenn große Wäsche im Haus war, standen die Mägde schon in der Nacht auf. Als meine Mutter 10 Jahre war, wollte sie waschen lernen. Obgleich man sie auslachte, stand sie nachts mit auf und ging mit an die Arbeit. Weil sie sich noch nicht darauf verstand, rieb sie sich die Finger wund, und die beißende Seifenlauge verursachte heftige Schmerzen; aber sie biß die Zähne zusammen und hielt aus, und das nächste Mal war sie wieder mit dabei.

Wenn neue Angestellte (oft männliche Verwandte) im Geschäft anzulernen waren, wurden sie meiner Mutter anvertraut. In dem arbeits- und kinderreichen Hause ging es sehr fröhlich zu. Es wurde gescherzt, gelacht und gesungen. Besonders, wenn die studierenden Brüder und Vettern zu den Ferien nach Hause kamen, und bei den großen Familienfesten, Geburtstagen und Hochzeiten, war bewegtes, lustiges Leben. Meine Mutter hat als Kind etwas Klavierspielen gelernt; später war keine Zeit mehr dazu, aber ein paar Takte des Straußschen Walzers „Wein, Weib, Gesang“ kann sie noch heute auswendig spielen. An ihrem 70. Geburtstag hat sie noch mit ihrem ältesten Enkelsohn, und das Jahr darauf bei der Hochzeit meiner Schwester Erna mit dem Bräutigam Walzer getanzt.

Als meine Mutter meinen Vater kennen lernte, war sie 9 Jahre alt. Aus dieser Zeit stammt auch der älteste Brief von ihm. Er und seine Schwestern haben die briefliche Verbindung aufrecht erhalten. In den Briefen der späteren Jahre tauchen allmählich Anspielungen auf, die zeigen, wie sehr sie eine Verlobung wünschten. Die Familie meines Vaters hat auch nach seinem Tode stets eine große Verehrung und Anhänglichkeit für meine Mutter bewahrt. Sie war 21 Jahre, als sie heiratete. Mein Vater war damals in der Holzhandlung S. Steins Witwe in Gleiwitz tätig. Inhaberin der Firma war meine Großmutter Johanna Stein geh. Cohn. Sie war eine ebenso strenge wie zärtliche Mutter. Keins ihrer Kinder wagte ihr zu widersprechen, selbst wenn sie offenkundig irrte. Meine Mutter wurde von ihr sehr geschätzt und durfte es am ehesten wagen, einmal eine abweichende Überzeugung zu äußern. So nahm sie sich um ihren jungen Schwager Leo an, als er der Mutter die „Schande“ antun wollte, Schauspieler zu werden. Sie nahm ihn bei sich auf, als seine Mutter ihn nicht mehr im Hause dulden wollte; und da sie ihn nachts aufstehen und seine Rollen deklamieren hörte, überzeugte sie sich von der Echtheit seines Berufs und suchte zwischen ihm und der Großmutter zu vermitteln. (Er ist später als Lustspieldichter und Bühnenleiter unter dem Namen Leo Walter Stein bekannt geworden. Einige seiner Bühnenwerke — „Die Ballerina des Königs“, „Liselotte von der Pfalz“ — sind sogar ihres nationalen Gehalts wegen für würdig befunden worden, auf den deutschen Bühnen des dritten Reichs aufgeführt zu werden). Meine Großmutter war keine Geschäftsfrau, wie es meine Mutter war. Sie verließ sich auf einen Geschäftsführer, der sie betrog, und ließ sich durch niemanden überzeugen, daß er ihr Vertrauen nicht verdiente. Das bewog meine Eltern schließlich, die geschäftliche Verbindung zu lösen und Gleiwitz zu verlassen. Sie gingen in die Heimat meiner Mutter, um mit der Unterstützung ihrer Eltern ein eigenes Geschäft zu beginnen.