Aus dem Leben einer jüdischen Familie

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Zu häuslichen Arbeiten hatten wir wenig Neigung und liebten es gar nicht, wenn wir zum Staubwischen oder Geschirrabtrocknen kommandiert wurden. Je mehr die Studien uns in Anspruch nahmen, desto mehr ließ man uns davon frei; nicht zu unserm Vorteil, denn es ergab sich daraus eine Einseitigkeit der Ausbildung, die ich später noch oft bedauern sollte.







2.






Zu den großen Ereignissen des häuslichen Lebens gehörten neben den Familienfesten die hohen jüdischen Feiertage: vor allem das Peßach- (Paschafest) zeitlich etwa mit Ostern zusammenfallend, sowie das Neujahrsfest und der Versöhnungstag (Im September oder Oktober je nach der Verschiebung des jüdischen zum gregorianischen Kalender). Es ist den meisten Christen nicht bekannt, daß das „Fest der ungesäuerten Brote“, die Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, noch heute so gefeiert wird, wie der Herr es mit den Jüngern feierte, als er das allerheiligste Altarsakrament einsetzte und von ihnen Abschied nahm. Es wird zwar kein Osterlamm mehr geschlachtet, seit der Tempel zu Jerusalem gefallen ist, aber noch immer verteilt der Hausherr unter den vorgeschriebenen Gebeten das ungesäuerte Brot und die bitteren Kräuter, die an die Trübsal der Verbannung erinnern, segnet den Wein und liest den Bericht über die Befreiung des Volkes aus Ägypten vor. Mit der eigenwilligen Konsequenz, die dem jüdischen Geist eigen ist, sind die Festbräuche ausgebaut worden: eine ganze Woche lang wird kein gesäuertes Brot und auch sonst nichts Gesäuertes genossen oder auch nur im Haus geduldet. Natürlich braucht eine vielköpfige Familie einen großen Vorrat an ungesäuerten Broten („Mazzen“). Sie werden in großen Bäckereien nach bestimmten Vorschriften und „unter Aufsicht des Rabbinats“ hergestellt. Wir bekamen sie schon einige Zeit vor dem Fest in großen Rollen von braunem oder grauem Papier, sie durften aber vor dem ersten „Sederabend“ (nach der festen Ordnung genannt, nach der das Mahl gehalten wird) nicht angerührt werden. Am Rüsttage vor dem Fest wird das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Es wird alles Gesäuerte entfernt, die letzten Brotkrumen werden zusammengefegt und verbrannt. Damit nicht genug: es wird alles Geschirr auf den Speicher oder in den Keller gebracht und dafür anderes herbeigeholt, das das ganze Jahr geruht hat und nun gründlich gesäubert werden muß. (In meinen Kinderjahren wurde das alles bei uns so gehalten; später haben die liberalen älteren Geschwister meiner Mutter manches „abgehandelt“). Die Hausfrauen haben an solchen Rüsttagen viel Arbeit und sind froh, wenn der Abend und damit das Fest endlich anbrichen. (Die jüdischen Feste beginnen am Vorabend, wenn der erste Stern am Himmel steht).



Wir Kinder freuten uns natürlich immer sehr auf diese Unterbrechung des Alltagsdaseins, begrüßten die Töpfe und Schüsseln, die wir ein Jahr lang nicht gesehen hatten, und freuten uns auf die guten Gerichte, die es nun während dieser Zeit gab. Allerdings wurde die Woche doch recht lang, und es war wiederum ein Fest, wenn das langentbehrte Butterbrot zum erstenmal wieder auf den Tisch kam. Wir freuten uns auch auf die Abende mit der feierlichen Speisefolge und den vielen Gebeten. Ich hatte dabei eine besondere Rolle: Die Liturgie des Sederabends enthält eine Reihe von Fragen, in denen das jüngste Kind sich erkundigt, warum an diesem Abend alles so anders sei als an andern Abenden. Der Hausherr antwortet darauf und erklärt den Sinn der einzelnen Bräuche. Später, als ich schon „aufgeklärt“ war, begrüßte ich es, daß Neffen und Nichten da waren, die mich ablösten. Überhaupt litt die Weihe des Festes darunter, daß nur meine Mutter und die jüngeren Kinder mit Andacht dabeiwaren. Die Brüder, die anstelle des verstorbenen Vaters die Gebete zu sprechen hatten, taten es in wenig würdiger Weise. Wenn der ältere nicht da war und der jüngere die Rolle des Hausherrn übernehmen mußte, ließ er sogar deutlich merken, daß er sich innerlich über all dies lustig machte.



Noch höher im Rang als dieses Fest stehen das Neujahrs- und Versöhnungsfest. Das Neujahrsfest wird zwei Tage lang gefeiert. Am Vorabend beginnt es wiederum mit einem Festmahl. Die Hausfrau backt dafür (wie für jeden Sabbat) „Barches“, ein feines Weißbrot; aber sonst wird es, auch auf bestimmte vorgeschriebene Weise, zu länglichen Zöpfen geflochten, zu Neujahr dagegen rund geformt. Dieses Brot wird hauptsächlich zum Fleisch genommen. Zum Beginn der Mahlzeit wird es angeschnitten und jeder Tischgenosse erhält ein Stück; die Verteilung geschieht genau nach dem Alter. Ehe man davon kostet, betet man den Segensspruch: Gepriesen seist Du, Gott, Herr der Welt, der Du aus der Erde Speise hervorbringst. An diesem Abend gab es außerdem Honig und die ersten Weintrauben. Meine Mutter nahm nie vor Neujahr welche. Für die Kaffeemahlzeiten wurden große Vorräte von vorzüglichen Kuchen gebacken. Die Gebetsordnung ist für die Neujahrsabende nicht so ausgedehnt wie für die Sederabende; das heisst für die häusliche Feier. In der Synagoge ist am Vorabend wie an beiden Festtagen großer Gottesdienst. Das Judentum hat eine ausgebildete Liturgie, feste Gebetszeiten für jeden Tag und für die hohen Feste eine Gottesdienstordnung, die einen großen Teil des Tages ausfüllt. (Aus dieser Liturgie, die sich aus Psalmen und Schriftlesungen zusammensetzt, ist die Liturgie der Kirche erwachsen). Meine Mutter pflegt am Vorabend nicht den öffentlichen Gottesdienst zu besuchen, sondern betet ihn zu Hause still für sich aus ihrem Gebetbuch mit, nachdem sie andächtig, auch unter den vorgeschriebenen Gebeten und zur vorgeschriebene Stunde, die Kerzen in den hohen silbernen Leuchtern angezündet hat, die den Beginn des Festes ankünden.



Aber am Morgen begibt sie sich in die Synagoge (zu Fuß, weil man an den Festtagen kein Gefährt benützt; denn es ist ja jede Arbeit untersagt, und man darf auch nicht anderer Menschen Arbeit ausnützen) und kommt erst zum Mittagessen zurück. Wir begleiteten sie als Kinder gewöhnlich nicht, holten sie aber mittags ab. Wir trugen dann unsere besten Kleider und Schuhe und fanden uns in dem Vorhof mit vielen andern Kindern zusammen, die festlich geschmückt ihre Eltern erwarteten. Die Schule besuchten wir an den hohen Festtagen nicht. Meine größte Festfreude war es, mit unbeschränkter Zeit ein schönes Buch zu lesen; wir versorgten uns schon immer vorher mit Lesestoff.



Der höchste jüdische Feiertag ist der Versöhnungstag: der Tag, an dem einst der Hohepriester ins Allerheiligste eintrat und das Versöhnungsopfer für sich und das ganze Volk darbrachte, nachdem der „Sündenbock“, auf den alle Vergehen des Volkes geladen wurden, in die Wüste hinausgetrieben war. Das alles hat aufgehört. Aber noch heute wird der Tag mit Beten und Fasten begangen, und wer auch nur ein wenig noch auf sein Judentum hält, der geht an diesem Tage zum „Tempel“. Obwohl ich die Leckerbissen der andern Feste keineswegs verschmähte, hat es mich doch immer besonders angezogen, daß man an diesem Fest 24 Stunden und länger keinen Bissen und keinen Schluck zu sich nahm, und ich liebte es mehr als alle andern. Am Vorabend mußte man das Nachtmahl schon am hellen Tage nehmen; denn wenn der erste Stern am Himmel stand, begann der Gottesdienst in der Synagoge. An diesem Abend ging nicht nur meine Mutter hin, sondern die großen Schwestern begleiteten sie, und auch die Brüder betrachteten es als Ehrenpflicht, nicht zu fehlen. Die herrlichen alten Melodien dieses Abends locken sogar Andersgläubige herbei. Am nächsten Morgen stand meine Mutter etwas später auf als sonst (ihre gewöhnliche Zeit ist heute noch halb sechs Uhr), aber immer noch früher als alle andern.



Dann ging sie von Bett zu Bett und nahm von allen zärtlich Abschied, denn sie blieb den ganzen Tag in der Synagoge. Wir blieben möglichst lange im Bett (es war für diesen Fall erlaubt, im Bett zu lesen), unsere Schwester Frieda stand überhaupt nicht auf, weil sie sonst das Fasten nicht vertragen konnte. Wir Kleinen gingen zur Totenfeier in die Synagoge; darauf hielt meine Mutter, weil wir dabei unseres Vaters gedenken sollten. Es brannten auch Tag und Nacht zu Hause zwei große, dicke, weiße Kerzen zum Andenken an unsere Verstorbenen. Abends holte meist einer meiner Brüder die Mutter heim. Es war immer eine große Freude, wenn die ganze Familie sich wieder zusammenfand und wenn alle den Tag gut überstanden hatten. Die Pflicht zu fasten besteht für Knaben vom vollendeten 13., für Mädchen vom 12. Jahre an. Ich hätte mich gern gewissenhaft daran gehalten, man hielt mich aber im 12. Jahr noch zu zart und erlaubte mir nur, bis mittag nüchtern zu bleiben. Vom 13. Jahr an aber habe ich immer ausgehalten, und niemand von uns dispensierte sich vom Fasten, auch als wir alle den Glauben unserer Mutter nicht mehr teilten und uns außerhalb des Hauses nicht mehr an die rituellen Vorschriften hielten.



Für mich hatte der Tag noch eine besondere Bedeutung: ich war am Versöhnungstag geboren, und meine Mutter hat ihn immer als meinen eigentlichen Geburtstag betrachtet, wenn auch der Glückwunsch- und Geschenktag der 12. Oktober war. (Sie selbst feierte ihren Geburtstag nach dem jüdischen Kalender — am Laubhüttenfest —, für ihre Kinder aber hielt sie an diesem Brauch nicht mehr fest). Sie hat auf diese Tatsache großen Wert gelegt, und ich glaube, daß dies mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ihr ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen. Und weil unser Schicksal in eigentümlicher Weise verflochten ist, darum ist es wohl angebracht, daß ich in diesem Lebensbild meiner Mutter von meiner eigenen Entwicklung etwas mehr sage als von der meiner Geschwister.







3.






Meine Eltern wohnten seit anderthalb Jahren in Breslau, als ich am 12. Oktober 1891 zur Welt kam. Im Juli 1893 starb mein Vater. Ich berichtete schon, daß meine Mutter mich auf dem Arm hielt, als er von uns Abschied nahm, um die Reise anzutreten, von der er nicht lebend zurückkehren sollte, und daß ich ihn noch einmal zurückrief, als er sich schon zum Gehen gewandt hatte. So war ich für sie das letzte Vermächtnis meines Vaters. Ich schlief bei ihr im Zimmer, und wenn sie abends müde aus dem Geschäft heimkam, dann war ihr erster Weg zu mir. Ja, wenn ich krank war, nahm sie sich kaum Zeit, den Mantel abzulegen, setzte sich zu mir auf den Bettrand und ließ sich das einfache Abendessen dorthin bringen.

 



Ihre Gegenwart verscheuchte aber auch bei mir alle Leiden und Schmerzen. Als ich 7 Jahre alt war, durfte ich für die Weihnachtsferien mit Erna nach Lublinitz fahren. Am Heiligen Abend bekam ich heftige Schmerzen und konnte von dem guten Weihnachtskarpfen nichts mehr herunterschlucken. Der Arzt stellte eine Infektion fest, und ich mußte die ganzen Ferien als Patientin zubringen. Da meine Mutter ihr Geschäft nicht im Stich lassen konnte, schickte sie meine Schwester Else, um mich zu pflegen. Am Sonntag aber war sie selbst, ohne Anmeldung, plötzlich da. Weil es mir in dem großen Schlafzimmer im Giebel etwas einsam war, hatten mich die guten Tanten heruntergeholt und auf das Sofa im gemütlichen Eßzimmer gebettet. Als meine Mutter plötzlich im Türrahmen stand, war ich mit einem Sprung an ihrem Hals und blieb dann auf ihrem Schoß, bis sie am Abend wieder heimfahren mußte.



Trotz dieser innigen Verbundenheit war meine Mutter nicht meine Vertraute — so wenig wie sonst jemand. Ich machte für den äußeren Betrachter unbegreifliche, sprunghafte Umwandlungen durch. In den ersten Lebensjahren war ich von einer quecksilbrigen Lebhaftigkeit, immer in Bewegung, übersprudelnd von drolligen Einfällen, keck und naseweis, dabei unbezähmbar eigenwillig und zornig, wenn etwas gegen meinen Willen ging. Meine älteste Schwester, die ich so sehr liebte, hat ihre junge Erziehungsweisheit vergeblich bei mir angewandt. Ihr letztes Mittel war, mich in eine dunkle Kammer zu sperren. Wenn diese Gefahr drohte, legte ich mich steif auf den Boden, und meine zarte Schwester konnte mich nur mit äußerster Anstrengung aufheben und forttragen. In dem finstern Gefängnis ergab ich mich keineswegs in mein Schicksal, sondern schrie aus Leibeskräften und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür, bis meine Mutter schließlich sagte, dies könne man den Mitbewohnern des Hauses nicht zumuten, und mich befreite.



Das war es, was meine Angehörigen für gewöhnlich äußerlich an mir beobachten konnten. Aber in meinem Innern gab es noch eine verborgene Welt. Was ich am Tage sah und hörte, das wurde dort verarbeitet. Der Anblick eines Betrunkenen konnte mich tage- und nächtelang verfolgen und quälen. Ich bin später oft dankbar gewesen, daß von meinen Brüdern in diesem Punkte nichts zu befürchten war und daß ich auch keinen andern mir nahestehenden Menschen in diesem schauderhaften Zustand sehen mußte. Es blieb mir immer unbegreiflich, wie man über so etwas lachen konnte, und ich habe in meiner Studentenzeit angefangen, ohne einer Organisation beizutreten oder ein Gelübde abzulegen, jeden Tropfen Alkohol zu meiden, um nicht durch eigene Schuld etwas von meiner Geistesfreiheit und Menschenwürde zu verlieren. Wenn in meiner Gegenwart von einer Mordtat gesprochen wurde, lag ich nachts stundenlang wach, und das Grauen kroch aus allen dunklen Ecken auf mich zu. Ja, ein etwas derber Ausdruck, den meine Mutter in meiner Gegenwart erregt aussprach, schmerzte mich so, daß ich die kleine Szene (eine Auseinandersetzung mit meinem ältesten Bruder) nie vergessen konnte. Von all diesen Dingen, an denen ich heimlich litt, sagte ich niemanden je ein Wort. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß man über so etwas sprechen könnte. Nur selten verriet ich meinen Angehörigen etwas davon; ich bekam nämlich manchmal ohne erkennbare Ursache plötzlich Fieber, und im Delirium sprach ich dann aus, was mich innerlich beschäftigte. Einen solchen Fall haben mir meine Geschwister oft erzählt. Als ich etwa 5 Jahre alt war, las meine Schwester Frieda in der Schule „Maria Stuart“ und durfte dann mit meiner Mutter ins Theater gehen, als das Stück aufgeführt wurde. Es war vorher viel davon die Rede, und ich hatte wie gewöhnlich mehr aufgeschnappt als für mich bestimmt war. Während die beiden im Theater waren, kamen bei mir die Fieberphantasien, und ich rief ein über das andere Mal in großer Erregung: „Schlagt doch der Elisabeth den Kopf ab!“ Ich erinnere mich noch wie nachhaltig dieser Eindruck war. Als ich im nächsten Jahr anfing, zur Schule zu gehen, und so weit war, daß ich Gedrucktes notdürftig lesen konnte, suchte ich mir den richtigen Band von Schillers Werken aus dem Familienbücherschrank, ging damit zu meiner Mutter in die Küche und fragte sie, ob ich ihr „Maria Stuart“ vorlesen dürfte. Sie sagte ganz ernsthaft: „Lies nur“. Wie weit ich damals gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Man kann sich denken, daß solche plötzlich hervorbrechenden Feuergarben meine Angehörigen erschreckten. Man nannte das „Nervosität“ und suchte mich nach Möglichkeit vor Überreizung zu schützen.



Die erste große Umwandlung vollzog sich in mir, als ich etwa 7 Jahre alt war. Ich wüßte keine äußere Ursache zu nennen. Ich kann es nicht anders erklären, als daß damals die Vernunft in mir zur Herrschaft kam. Ich erinnere mich gut, daß ich von da ab die Überzeugung hatte, meine Mutter und meine Schwester Frieda wüßten besser als ich, was für mich gut wäre, und daß ich ihnen in diesem Vertrauen bereitwillig gehorchte. Der alte Eigenwille schien verschwunden, ich war in den folgenden Jahren ein leicht lenksames Kind. Hatte ich mir eine Unfolgsamkeit oder eine ungezogene Antwort erlaubt, so bat ich bald wieder um Verzeihung, obwohl mich das jedesmal die größte Überwindung kostete, und war glücklich, wenn dann der Friede wieder hergestellt war. Zornesausbrüche kamen kaum noch vor; ich erreichte schon früh eine so große Selbstbeherrschung, daß ich fast ohne Kampf eine gleichmäßige Ruhe bewahren konnte. Wie das geschah, weiß ich nicht; ich glaube aber, daß der Abscheu und die Scham, die ich bei Zornesausbrüchen anderer empfand, das lebhafte Gefühl für die Würdelosigkeit eines solchen Sich-gehen-lassens mich geheilt haben.



Allmählich wurde es auch in der inneren Welt lichter und klarer. Gehörtes und Gesehenes, Gelesenes und Selbsterlebtes boten einer regen Phantasie Stoff zu den kühnsten Bauten. Ein großes Ereignis, das mich lange beschäftigte, war der 80. Geburtstag einer Großtante, zu dem aus der weitverzweigten Verwandtschaft wohl 100 Personen geladen waren. Die alte Dame (Frau Johanna Radlauer; ich habe den Namen schon früher erwähnt) hatte selbst ihren jugendlichen Frohsinn noch bewahrt, und ihre vielseitig begabten Kinder und Enkel verstanden es, glänzende Feste vorzubereiten. Auf dem reichhaltigen Programm stand diesmal ein Tanz aus Großmutters Jugendtagen, den 8 Kinderpaare in Kostümen der Zeit aufführen sollten. Die Ballettmeisterin des Stadttheaters, eine Französin, übte ihn ein. Meine Schwester und ich waren eins der Paare; wir waren damals 9 und 7 Jahre alt. Da wir zu den Jüngsten gehörten und in keiner Kindertanzstunde vorgebildet waren, traute man uns nicht viel zu und stellte uns ganz in den Hintergrund. Aber schon in der ersten Probe holte uns Mme. Prochère in die vorderste Reihe. Sie war begeistert von der Fixigkeit, mit der ich ihre Ideen erfaßte und ihnen entsprach. Sie fragte mich öfters, ob ich nicht ganz zu ihr ins Ballet kommen wollte. Ich hielt diese Frage für gar keiner ernsthaften Antwort wert; trotzdem schmeichelte sie meiner Eitelkeit sehr. Erna war etwas steifer; aber das schadete nichts, weil sie der „Herr“ war. Sie bekam einen Frack aus braunem Samt und hellblaue Kniehosen, ich ein Kleidchen aus hellem, geblümtem Stoff, dazu hochfrisierte Haare mit Rosen darin. Man hatte uns angekündigt, daß wir auch geschminkt werden müßten. Dagegen protestierte ich lebhaft und zu meiner Freude erwies es sich an dem Festabend als völlig überflüssig, weil wir alle vor Erregung glühten und keines künstlichen Rots mehr bedurften. Man klatschte uns reichlich Beifall; ich wurde zusammen mit einer Cousine, der man neben mir den Preis der besten Tänzerin zusprach, zu dem greisen Geburtstagskind geführt, um einen besonderen Dank zu empfangen. Dann hob mich mein Onkel David mit beiden Händen empor und stellte mich auf eine Fensterbank, damit alle Menschen in dem großen Saal das winzige Persönchen recht sehen könnten. An diesem Abend guckte ich den Erwachsenen alle Tänze ab und wurde schließlich zu ihnen mit aufgefordert. In den nächsten Wochen brachte mir mein Bruder Arno, der ein guter Tänzer war, zu Hause bei, was mir etwa noch fehlte. Er war damals 22 Jahre alt und von stattlicher Länge, mußte sich also tief herunterbücken, um mit mir zu tanzen. Das störte aber beide Teile nicht. Als wir von jenem strahlenden Fest heimgehen mußten, schenkte mir eine schöne und vielbewunderte Cousine die Schneeglöckchen, die sie im Gürtel getragen hatte. Damit zog ich dann beglückt ab. Am nächsten Morgen fanden es meine großen Schwestern für gut, mir zu berichten, es hätten sich alle Leute über meine koketten Blicke beim Tanzen gewundert. Ich sagte: „Wie lächerlich!“; denn der „Kavalier“, mit dem ich kokettierte, war ja nur meine Schwester Erna. Daß die Siebenjährige den Vorwurf verstand und zurückwies, zeigt genügend, wie es in dem kleinen Köpfchen aussah.



In meinen Träumen sah ich immer eine glänzende Zukunft vor mir. Ich träumte von Glück und von Ruhm, denn ich war überzeugt, daß ich zu etwas Großem bestimmt sei und in die engen, bürgerlichen Verhältnisse, in denen ich geboren war, gar nicht hineingehörte. Von solchen Träumen sprach ich ebenso wenig wie von den Beängstigungen, die mich früher gequält hatten. Man merkte nur, daß ich verträumt war, und schreckte mich oft auf, wenn ich nicht merkte, was um mich herum vorging. Für diese wuchernde Phantasie war es gut, daß ich früh zur Schule kam und daß der lebhafte Geist solide Nahrung bekam. Als Erna mit 6 Jahren anfing, in die Schule zu gehen, und ich nicht mit durfte, war ich sehr unglücklich. Weil ich nun zu Hause keine Gesellschaft mehr hatte, wurde ich in einem Kindergarten angemeldet. Das hielt ich für tief unter meiner Würde. Es kostete jeden Morgen einen heftigen Kampf, mich hinzubringen. Ich war unliebenswürdig gegen die andern Kinder und schwer zum Mitspielen zu bewegen. Meine Geschwister hatten abwechselnd die unangenehme Aufgabe, mich hinzuführen. Einmal war mein ältester Bruder an der Reihe. Als wir zum Haus herauskamen, merkte ich, daß es etwas regnete. Ich erklärte sofort, ich könnte auf dem nassen Boden nicht gehen, ich wollte umkehren oder er sollte mich tragen. Der gute Paul nahm mich sofort auf den Arm und trug mich den ganzen Weg. Mittags erklärte mir meine Mutter, ein so großes Mädchen müßte sich doch schämen, sich tragen zu lassen. Ob ich mich wenigstens bedankt hätte? Sonst sollte ich das jetzt nachholen. Das kostete wieder schwere Überwindung. Denn mein großer Bruder pflegte alles zu tun, was ich wollte, ohne Bitte und Dank zu beanspruchen. Er konnte mich stundenlang auf seinen Schultern im Zimmer herumtragen, während ich mich an seinen Haaren festhielt; dazu sang er mir unermüdlich Studenten- und Volkslieder vor. Zu seinem und meinem Vergnügen zeigte er mir oft die Bilder in seiner großen Literaturgeschichte und fragte mich, wen oder was sie vorstellten; und in seinem Eifer hielt er dabei die Unterschriften zu, obgleich ich noch nicht lesen konnte.



Als mein 6. Geburtstag herannahte, beschloß ich, dem verhaßten Kindergartendasein ein Ende zu machen. Ich erklärte, daß ich von diesem Tage an unbedingt in die „große Schule“ gehen wollte, und wünschte mir das als einziges Geburtstagsgeschenk; jedenfalls wollte ich ohne dieses keine andern annehmen. Es traf sich, daß in diesem Jahr die Schule nach den Herbstferien am 12. Oktober wieder begann. Immerhin war es nicht ganz einfach, meinen Willen durchzusetzen; denn das Schuljahr lief schon seit Ostern, und ich konnte zwar große Balladen aufsagen und mit meinen Geschwistern „Dichterquartett“ spielen, weil ich alles auswendig wußte, was auf den Karten stand, aber lesen und schreiben konnte ich noch gar nicht.



Meine älteste Schwester ging zum Direktor der Viktoriaschule und bat ihn, mich probeweise aufzunehmen; sie wollte sich dafür verbürgen, daß ich mitkäme. Da sie selbst eine ausgezeichnete Schülerin gewesen war und kürzlich ihr Lehrerinnenexamen bestanden hatte, wurde ich auf ihre Fürsprache hin angenommen. An meinem ersten Schultag fragte mich der gestrenge Herr Direktor, ob ich schon meine Geburtstagsgeschenke bekommen hätte, und der Lehrer, der die unterste Vorschulklasse hatte, brachte mir eine Tüte mit Schokoladenplätzchen mit. Es war anfangs recht schwer, ohne jede Vorübung sofort mit Feder und Tinte zu schreiben und ganze Worte zu lesen. Aber Ostern wurde ich mit den andern versetzt und von da an behauptete ich immer einen der ersten Plätze.

 



Von den Freuden und Leiden des Schullebens habe ich schon erzählt. Ich war eine übereifrige Schülerin. Ich konnte mit hochgerecktem Zeigefingerchen bis zum Katheter vorhüpfen, um nur ja „dranzukommen“. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und Geschichte. Zu Beginn des neuen Schuljahrs verschlang ich immer sofort das neue Lesebuch und das neue Geschichtsbuch. Ich fing schon am frühen Morgen an zu lesen, während mich meine Mutter frisierte. Aufsätze zu schreiben, war mir ein Vergnügen. Da konnte ich doch etwas von dem anbringen, was mich innerlich beschäftigte. Ich hatte auch keine Scheu, sie