Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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7

Lacy Marshalt saß in seinem Frühstückszimmer und verglich ein Foto mit der Momentaufnahme eines unternehmenden Pressefotografen, die in einer Zeitung wiedergegeben war: ein junges Mädchen, das in Begleitung eines Polizisten und einer Gefängniswärterin ein Auto verließ.

Tonger kam hereingeschlüpft.

»Haben Sie geklingelt, Lacy?«

»Ja, vor zehn Minuten. Und nun ein für allemal: ich verbitte mir diese Anrede!«

Der kleine Mann rieb sich vergnügt die Hände.

»Ich hab' einen Brief von meinem Mädel bekommen«, sagte er. »Sie ist in Amerika und gut bei Kasse – wohnt in den ersten Hotels. Ein schlaues Kind!«

Lacy faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite.

»Mrs. Elton wird gleich hier sein. Sie kommt durch die Hintertür. Erwarte sie dort und führe sie durch den Wintergarten in die Bibliothek. Wenn ich klingle, bringst du sie auf demselben Weg wieder zurück.«

Als Dora kaum fünf Minuten später in der Bibliothek erschien, stand Lacy vor dem Kaminfeuer.

»Ich habe meine liebe Not gehabt, um herzukommen«, sagte sie. »Konnte es denn nicht nachmittags sein? Ich mußte Martin allerlei vorlügen. Gibt es denn nicht wenigstens einen Kuß?«

Er neigte sich zu ihr und streifte ihre Wange mit den Lippen.

»Was für ein Kuß!« spottete sie. »Nun, und –?«

»Dieser Juwelenraub! Die Polizei scheint anzunehmen, daß das angeklagte junge Mädchen deine Schwester ist?«

Sie schwieg.

»Ich weiß natürlich, daß du eine Diebin bist. Ich kenne Stanford von Südafrika her, und er gehört zu deiner Bande. Aber dieses Mädchen – ist sie auch daran beteiligt?«

»Du weißt, wie weit sie beteiligt ist«, erwiderte sie unmutig. Sie war schließlich nicht unter soviel Gefahren hierhergekommen, um über Audrey zu sprechen. »Übrigens stand hinten ein Mann und beobachtete das Haus, als ich herkam. Er sah aus wie ein Gentleman, hager und vornehm, und er hinkte –«

»Was?« Lacy packte sie am Arm. Er war bleich geworden. »Du belügst mich!«

Sie riß sich erschrocken los.

»Was soll denn das heißen?«

»Ach, es sind die Nerven! Sie ist also deine Schwester?«

»Meine Stiefschwester«, murmelte sie.

»Ihr hattet verschiedene Väter?«

Sie nickte.

Er schwieg eine Weile und lachte dann unheimlich auf.

»Und sie geht ins Gefängnis – um dich zu retten? – Nun, mir kann es recht sein. Ich habe Zeit.«

8

Audrey war fest geblieben, hatte ihre Schwester nicht verraten und war zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt worden. An einem trüben Dezembermorgen wurde sie wieder aus dem Holloway-Gefängnis entlassen. Sie ging in der Richtung nach Camden Town davon, stieg in eine Straßenbahn und fuhr zum Euston- Bahnhof.

Ihr Gesicht war ein wenig schmaler geworden, und die Augen blickten ernster, aber es war die alte Audrey, die sich in einem Restaurant eine große Portion gebratener Nieren mit Ei bringen ließ. Neun Monate lang hatte das monotone Leben im Gefängnis sie zermürbt. Zweiundsiebzig Stunden in der Woche hatte sie mit dem Abschaum der Unterwelt verbracht, ohne auf das Niveau dieser Leute herabzusinken, und ohne sich ihnen maßlos überlegen zu fühlen. In bitteren Nächten hatte sie verzweifeln wollen, weil man ihr solches Unrecht angetan hatte.

Trotzdem kam ihr Doras Handlungsweise nicht unnatürlich vor. Sie war immer rücksichtslos und egoistisch gewesen. Nur daß ihre Schwester im Charakter soviel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatte, schmerzte Audrey.

Mit einem Seufzer stand sie auf und ging nach der Kasse, um zu bezahlen.

Wohin sollte sie sich nun wenden? Zuerst zu Dora, um sich zu vergewissern, ob sie ihr auch nicht mit ihren Gedanken unrecht getan hatte. Aber bei Tag wäre ein Besuch nicht angebracht gewesen. So machte sie sich denn auf die Wohnungssuche, mietete schließlich ein hochgelegenes Hinterzimmer und machte sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg.

In der Curzon Street wurde sie von demselben Mädchen empfangen, das ihr bei ihrem ersten Besuch geöffnet hatte.

»Mrs. Elton ist nicht zu sprechen«, erklärte sie schnippisch.

Aber Audrey trat ruhig ein.

»Gehen Sie nach oben und sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich hier bin.«

Das Mädchen eilte hinauf, und Audrey folgte ihr. In der Wohnzimmertür kam ihr Dora in großem Abendkleid entgegen.

»Wie kannst du dich unterstehen, hierherzukommen?« fragte sie wütend.

Audrey trat ins Zimmer und schloß die Tür.

»Ich wollte mir deinen Dank holen«, sagte sie schlicht. »Ich habe etwas Törichtes – etwas Wahnsinniges getan, weil ich Mutter vergelten wollte, was ich ihr schuldig war.«

»Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«

Martin mischte sich ins Gespräch.

»Daß Sie die Stirn haben, hierherzukommen! Sie versuchten, uns ins Verderben zu ziehen. Sie haben Ihre – haben Mrs. Elton mit Schande bedeckt und erscheinen nun hier ganz einfach im Haus. Verdammt unverfroren!«

»Wenn du Geld brauchst, so schreibe!« rief Dora und stieß die Tür auf. »Solltest du dich noch einmal hier zeigen, so lasse ich einen Polizisten rufen.«

»Das kannst du jetzt schon tun«, entgegnete Audrey kühl. »Ich bin zu gut bekannt mit Polizisten und Gefängniswärtern, um mich durch solche Drohungen einschüchtern zu lassen, liebe Schwester.«

Dora machte die Tür rasch wieder zu.

»Wenn du es denn durchaus wissen willst – wir sind keine Schwestern«, sagte sie leise und tückisch. »Du bist nicht einmal Engländerin! Dein Vater war Mutters zweiter Mann – ein Amerikaner! Und er sitzt lebenslänglich verurteilt in Kapstadt!«

Audrey tastete nach einer Stuhllehne.

»Das ist nicht wahr!«

»Es ist wahr!« zischte Dora. »Mutter erzählte es mir, und Mr. Stanford kennt die ganze Geschichte. Dein Vater kaufte Diamanten und erschoß den Mann, der ihn verriet. In Südafrika ist der Ankauf von Diamanten ein Kapitalverbrechen, und er brachte Schande über Mutter. Sie nahm einen anderen Namen an und kehrte nach England zurück. Du hast nicht einmal ein Recht auf den Namen Bedford! Sie haßte den Mann so, daß sie alles änderte.«

Audrey nickte.

»Und Mutter verließ ihn natürlich«, sagte sie halb zu sich selbst. »Sie blieb nicht in seiner Nähe, um ihn zu trösten und sein schweres Los zu erleichtern. Sie verließ ihn einfach. Wie ihr das ähnlich sieht!«

Ihre Worte klangen weder boshaft noch erbittert, denn sie hatte die Gabe, Tatsachen objektiv und leidenschaftslos zu betrachten. Langsam hob sie den Blick, bis sie Doras Augen begegnete.

»Ich hätte nicht ins Gefängnis gehen sollen. Du bist es nicht wert. Und Mutter ebensowenig. «

»Du unterstehst dich, so von unserer Mutter zu sprechen!« schrie Dora wütend.

»Ja, sie war auch meine Mutter. Aber sie steht nun jenseits meiner Kritik und deiner Verteidigung. Wie heiße ich denn dann in Wirklichkeit?«

»Das kannst du selbst herausbringen!« höhnte Dora.

9

Dick Shannon bewohnte ein Stockwerk am Haymarket, und am Tag nach Audreys Entlassung aus dem Gefängnis waren Inspektor Lane, Steel und er selbst dort versammelt.

»Sie haben sie verfehlt?« fragte der Inspektor.

Dick seufzte und nickte.

»Aber da sie vorzeitig entlassen wurde, muß sie sich melden, und das wird man mir sofort berichten. Lassen wir das einstweilen. Wie steht es denn mit Malpas?«

»Er bleibt nach wie vor ein Rätsel«, erwiderte Lane. »Und sein Haus ist ein noch größeres Geheimnis als er. Er bewohnt es ununterbrochen seit Januar 1917, und kein Mensch hat ihn gesehen. Seine Rechnungen bezahlt er prompt, und gleich nach seinem Einzug hat er viel Geld für allerlei neue Anlagen ausgegeben: elektrische Leitungen, Alarmapparate und dergleichen Finessen. Eine große Turiner Firma hat das Haus ausgestattet.«

»Hat er keine Dienstboten?«

»Nein. Das ist das Seltsamste an der Geschichte. Nahrungsmittel kommen nicht ins Haus, woraus hervorgeht, daß er entweder verhungern oder ausgehen muß. Ich habe es von vorn und von hinten beobachten lassen, aber keiner meiner Leute hat den Mann zu sehen bekommen, obwohl sie sonst verschiedene sonderbare Dinge bemerkten.«

»Bringen Sie jetzt das Mädchen herein, Steel«, sagte Shannon, und gleich darauf schob sein Assistent eine stark gepuderte junge Dame ins Zimmer, die sich mißmutig auf einem Stuhl niederließ.

»Miß Neilsen, Berufstänzerin ohne Anstellung?« fragte Dick.

»Ja.«

»Erzählen Sie uns von Ihrem Besuch in Portman Square Nr. 551.«

»Hätte ich gewußt, daß ich gestern nacht, als ich so mitteilsam war, mit einem Detektiv sprach, dann hätte ich nicht soviel gesagt«, entgegnete sie unwillig. »Der alte Mann verlangte von mir, daß ich nebenan bei Mr. Marshalt Spektakel machen und schreien sollte, daß Marshalt ein Schuft wäre. Dann sollte ich ein Fenster einschlagen und mich verhaften lassen.«

»Einen Grund dafür gab er nicht an?«

»Nein. Die Sache paßte mir nicht, und ich war heilfroh, als ich wieder draußen war. War das ein scheußlicher Kerl! Und das Zimmer ganz dunkel! Ein richtiges Gespensterhaus! Türen, die von selbst aufgehen – Stimmen, die von nirgendwoher kommen – ich dankte meinem Schöpfer, als ich wieder auf der Straße stand.«

»Woher kannten Sie denn den Mann?« fragte Dick mißtrauisch.

»Er hatte meinen Namen in den Inseraten gelesen – bei den Stellengesuchen.«

Da weitere Fragen ergebnislos blieben, wurde sie wieder entlassen, und nun berichtete Lane weiter.

»Der Steuerbeamte beschwerte sich, daß er Mr. Malpas nicht zu sehen bekäme. Man glaubte, daß er zu wenig Einkommensteuer zahlte. Als er aber vorgeladen wurde, kam er nicht selbst, sondern sandte statt dessen einen Erlaubnisschein zur Einsicht in sein Bankkonto. Es war das einfachste Konto von der Welt: fünfzehnhundert Pfund jährlich bar eingezahlt und fünfzehnhundert Pfund im Jahr ausgezahlt. Keine Geschäftsquittungen. Nichts weiter als Abgaben, Grundsteuer und größere Summen für laufende Ausgaben.«

 

»Und Besuch kommt nie ins Haus?«

»Nur zweimal im Monat, gewöhnlich an einem Sonnabend. Wie es scheint, ist es jedesmal ein anderer Mann. Die Leute kommen immer erst nach Einbruch der Dunkelheit und bleiben nie länger als eine halbe Stunde. Einmal war es ein Neger, und einer meiner Leute machte sich an ihn heran, konnte aber nichts aus ihm herausbringen.«

»Malpas muß schärfer beobachtet werden«, befahl Dick, und der Inspektor machte sich eine Notiz. »Nehmen Sie einen dieser Besucher unter irgendeinem Vorwand fest und durchsuchen Sie ihn. Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß Malpas nur Almosen verteilt – oder auch nicht!«

Audreys kleiner Geldvorrat schwand dahin, und es war ihr noch nicht gelungen, eine Anstellung zu erhalten. Am ersten Weihnachtstag bestand ihr Frühstück nur aus einer trockenen Brotscheibe und kaltem Wasser.

Am folgenden Dienstag erhielt sie jedoch zu ihrer größten Überraschung einen Brief, der nur aus zwei mit Bleistift geschriebenen Zeilen bestand:

»Kommen Sie heute nachmittag um fünf zu mir. Ich habe Arbeit für Sie. Malpas, Portman Square Nr. 551.«

Sie runzelte die Stirne und starrte auf den Zettel. Wer war Malpas, und wie hatte er von ihr erfahren?

Aber Not kennt kein Gebot, und zur angegebenen Zeit stand Audrey, durchnäßt vom Regen, vor dem Haus und klopfte leise mit den Fingern an, da sie keinen Klopfer fand.

»Wer ist da?«

Die Stimme schien aus dem Türrahmen zu kommen.

»Miß Bedford.«

Nach einer kurzen Pause öffnete sich die Türe langsam.

»Kommen Sie herauf – das Zimmer im ersten Stock«, sagte die Stimme.

Die Haustür schloß sich wieder hinter Audrey. Von unerklärlichem Grauen gepackt, wollte sie entfliehen und suchte nach dem Türgriff, aber sie entdeckte keinen. Schließlich bekämpfte sie ihre Angst und stieg die Stufen hinauf. Im ersten Stock bemerkte sie nur eine Tür und klopfte nach einem kleinen Zögern dort an.

»Herein!« Diesmal kam die Stimme von oben.

Einen Augenblick brauchte Audrey noch, um Mut zu sammeln, dann trat sie durch die nur angelehnte Tür ein.

Die Wände des großen Raums waren so dicht mit schwarzem Samt verkleidet, daß man nicht sehen konnte, wo sich die Fenster befanden, und wo die Decke anfing. Der dicke Teppich verschlang jedes Geräusch ihrer Schritte.

Am entfernten Ende des Zimmers saß an dem Schreibtisch eine merkwürdig widerwärtige Gestalt. Das Licht einer Stehlampe, die von einem grünen Schirm bedeckt war, warf einen fahlen Schein auf sie. Der Kopf war kahl, das bartlose Gesicht von tausend Falten bedeckt, die Nase dick. Und das lange, spitze Kinn bewegte sich fortwährend, als ob der Mann mit sich selbst spräche.

»Setzen Sie sich auf diesen Stuhl«, gebot die dumpfe Stimme.

Audreys Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, und sie nahm zitternd hinter dem kleinen Tisch Platz.

»Ich habe Sie kommen lassen, um Ihr Glück zu machen«, murmelte die Stimme. »Schon viele haben auf dem Stuhl dort gesessen und sind als reiche Leute fortgegangen. Sehen Sie, was auf dem Tisch liegt?«

Er mußte wohl auf einen Knopf gedrückt haben, denn plötzlich flammte über ihrem Kopf ein strahlend helles Licht auf, und sie sah ein Bündel Banknoten auf dem Tisch.

»Nehmen Sie es!« sagte der Mann.

Sie streckte zitternd die Hand aus und ergriff das Paket und einen Schlüssel. Das Licht erlosch langsam wieder.

»Ihr Name ist Audrey Bedford, nicht wahr? Nach neunmonatlicher Haft, die Sie wegen Mitschuld an einem Juwelenraub verbüßt haben, sind Sie vor drei Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden?«

»Ja, ich mache kein Hehl daraus. Ich hätte es Ihnen auf jeden Fall gesagt.«

»Sie waren natürlich unschuldig?«

»Ja.«

»Sie sind schlecht angezogen ... das verletzt mein Schönheitsgefühl. Kaufen Sie sich gute Kleider, und kommen Sie nächste Woche zur selben Zeit wieder. Der Schlüssel öffnet alle Türen, wenn die Sperrvorrichtung ausgeschaltet ist.«

Endlich erholte sich Audrey von ihrem Staunen.

»Ich muß aber wissen, welche Pflichten ich zu übernehmen habe«, sagte sie. »Es ist sehr großmütig von Ihnen, mir so viel Geld anzuvertrauen, aber Sie werden einsehen, daß ich es unmöglich annehmen kann, ohne zu wissen, was Sie von mir verlangen.«

»Ihre Aufgabe besteht darin, einem Mann das Herz zu brechen!« lautete die Antwort. »Gute Nacht!«

Sie fühlte einen kühlen Luftzug und drehte sich um.

Die Tür stand offen, und Audrey wußte, daß sie entlassen war.

Hastig eilte sie die Treppe hinunter. Als sie den Schlüssel in das winzige Loch stecken wollte, entglitt er ihren zitternden Fingern und fiel zu Boden. Sie suchte danach und fand dicht daneben einen nußgroßen Kieselstein, an dem ein Klümpchen roten Siegellacks mit dem deutlichen Abdruck eines Petschafts klebte. Sie nahm sich vor, den sonderbaren Gegenstand nächste Woche wieder mitzubringen, und steckte ihn in ihre Handtasche. Gleich darauf stand sie wieder auf der Straße.

Ein Mietauto kam vorbei und hielt auf ihren Wink hin am Bordstein an. Schon wollte sie einsteigen, als sie plötzlich eine Frau in durchnäßtem Pelzmantel bemerkte, die sich taumelnd bemühte, den Klopfer des Nachbarhauses in Bewegung zu setzen. Trotz ihres Abscheus vor betrunkenen Frauen erregte diese Jammergestalt doch Audreys Mitleid, und sie wollte auf sie zugehen, um ihr behilflich zu sein. Aber im gleichen Moment wurde die Haustür aufgestoßen.

»Was soll denn das heißen?« rief ein ältlicher Mann. »Wer macht hier einen solchen Spektakel vor dem Haus eines Gentlemans? Gehen Sie weg oder ich hole einen Polizisten!«

Es war Tonger. Die Betrunkene schwankte auf ihn zu und brach zusammen. Er schleuderte sie ins Haus und schlug die Tür zu.

»Das ist Mr. Marshalts Haus«, meinte der Chauffeur. »Er ist der afrikanische Millionär. Wohin soll ich Sie bringen?«

10

Martin Elton war mit seiner Frau im Theater und schlenderte während einer Pause im Foyer umher. Er stammte aus gutem Haus, war aber durch Spiel, Wetten und manche andere Dinge allmählich immer mehr heruntergekommen. Nur ab und zu nickte ihm noch jemand aus der Ferne zu, und der einzige, der ihn anredete, war ihm unwillkommen.

»Abend, Elton! Na, wie geht's? Stanford soll ja in Italien sein, wie ich höre? Haben Sie was vor?« fragte Slick Smith.

»Nein.«

»Kürzlich von Marshalt gehört?«

»Ich weiß nicht viel von ihm.«

»Aber ich. Er ist auch ein Dieb, und wenn er etwas stiehlt, bleibt gewissermaßen eine Lücke zurück. Aber da klingelt es schon – auf Wiedersehen!«

Als Martin und Dora nach Hause kamen, wandte sie sich im Wohnzimmer ungeduldig an ihn.

»Was hast du denn, Bunny? Diese Launen sind wirklich unausstehlich!«

»Hast du etwas von deiner Schwester gehört?« entgegnete er und warf ein Scheit in den Kamin, bevor er sich niederließ.

»Nein, und hoffentlich höre ich auch nie wieder von ihr! Die winselnde Gefängnisratte!«

»Ich habe sie nicht winseln hören. Und ins Gefängnis haben wir sie gebracht.«

Sie schaute ihn verwundert an.

»Du hast sie doch selbst geradezu aus dem Haus gejagt, als sie das letztemal hier war!«

»Ja, das weiß ich. Aber London ist ein verteufelter Platz für alleinstehende junge Mädchen ohne Geld und Freunde. Ich wollte, ich wüßte, wo sie ist.«

»Überlassen wir sie dem Schutz Gottes«, erwiderte Dora spöttisch.

Aber Martins Augen wurden klein und lauernd.

»Wenn du dich so gegen deine Schwester benimmst, wie würde es dann wohl mir ergehen, wenn du einmal in aller Eile zwischen mir und deiner eigenen Sicherheit wählen müßtest?« fragte er langsam.

»Sauve qui peut – das ist mein Wahlspruch«, erklärte sie lachend.

Er warf seine Zigarre ins Feuer und stand auf.

»Dora«, sagte er dann mit eisiger Stimme, »Lacy Marshalt ist kein wünschenswerter Bekannter.«

Sie musterte ihn erstaunt.

»Ist er unehrlich?« entgegnete sie harmlos.

»Es gibt viele unehrliche Männer, mit denen eine Dame nicht in einem reservierten Zimmer bei Shavarri dinieren darf.«

»Ach, du hast spioniert? Marshalt kann unter Umständen sehr nützlich für uns sein.«

»Für mich nicht – am allerwenigsten, wenn er heimlich mit meiner Frau diniert.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Wenn es noch einmal vorkommt, suche ich ihn auf und jage ihm drei Kugeln durch die Brusttasche, in der er seine vorzüglichen Zigarren bei sich trägt. – Was ich mit dir machen würde, weiß ich noch nicht. Das hängt ganz von meiner Stimmung und von – deiner Nähe ab.«

Sie war totenbleich geworden, suchte vergeblich nach Worten und lag ihm plötzlich schluchzend zu Füßen.

»Ach, Bunny, sprich doch nicht so – schau mich nicht so entsetzlich an! Ich will ja alles tun, was du willst ... ich schwöre dir, daß nichts vorgefallen ist ... es war eine Laune von mir, daß ich hinging ...«

Er strich über ihr goldenes Haar.

»Du bedeutest mir sehr viel, Dora«, sagte er freundlich. »Ich habe dich nicht gut beeinflußt ... ich habe selbst die meisten guten Grundsätze über Bord geworfen, nach denen sich andere Leute richten. Aber an einem werde ich immer festhalten: ich verlange ehrliches Spiel unter Dieben, weil ich selbst ehrlich spiele!«

11

Dick Shannon klopfte heftig an die Glasscheibe seiner Autodroschke, riß das Fenster auf und beugte sich vor.

»Wenden Sie und fahren Sie an der anderen Seite entlang«, sagte er. »Ich möchte mit der Dame dort sprechen.«

Wenige Augenblicke später stand er Audrey gegenüber und zog lachend den Hut.

»Miß Bedford! Das ist aber eine großartige Überraschung!«

Und es war wirklich eine Überraschung, und zwar in mehr als einer Beziehung. Audrey war keine Bettelprinzessin mehr, sie war tadellos gekleidet und sah so jung und schön aus, daß sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog.

»Ich habe Sie schon wie eine Stecknadel gesucht! Als Sie Holloway verließen, kam ich drei Minuten zu spät, und nachher bildete ich mir unbegreiflicherweise ein, daß Sie sich bei der Polizei melden müßten.«

»Nein, das blieb mir erspart. Aber ich sah Sie ein paarmal in Holloway, als Sie dort zu tun hatten.«

Sie wußte nicht, daß er nur um ihretwillen hingekommen war, und daß sie ihm die Versetzung aus der Waschküche in die Bibliothek verdankte.

»Ich werde jetzt einmal ganz offen und ehrlich mit Ihnen sprechen«, sagte er, als sie zum Hannover Square kamen. »Dora Elton ist doch Ihre Schwester?«

»Eigentlich nicht – wenn ich es auch annahm. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun. Ein Mädchen mit meiner Vergangenheit ist kein Umgang für Dora. So, nun aber genug von diesem Thema!«

»Was machen Sie denn jetzt?«

»Ich kopiere Briefe für einen garstig aussehenden alten Herrn und werde ungebührlich gut dafür bezahlt«, erwiderte sie etwas verlegen.

»Wir wollen ein wenig in den Park fahren«, meinte er und winkte einen Chauffeur heran. »Dort können wir uns ungestört unterhalten.«

In dem menschenleeren Park fanden sie zwei abseits stehende Stühle und ließen sich nieder.

»Nun erzählen Sie mir einmal etwas Näheres über diesen garstig aussehenden alten Herrn«, begann Dick.

Sie berichtete ihm über ihre Erfahrungen mit Mr. Malpas.

»Sie werden es gewiß verächtlich von mir finden, daß ich das Geld überhaupt angenommen habe. Aber wenn man sehr hungrig ist und friert, hat man keine Zeit, über moralische Grundsätze nachzudenken. Als ich mich aber gemütlich im Palace-Hotel eingerichtet hatte, stiegen doch Bedenken in mir auf, und ich wollte gerade in ablehnendem Sinn an Mr. Malpas schreiben, als er mir etwa zehn bis zwölf flüchtig mit Bleistift gekritzelte Briefe sandte und mich ersuchte, sie abzuschreiben und wieder an ihn zurückzuschicken.«

»Was für Briefe waren es denn?« fragte er neugierig.

»Meistens Ablehnungen von allerlei Einladungen. Er machte zur Bedingung, daß ich sie auf dem Briefpapier des Hotels und nicht mit Maschine schreiben müßte.«

»Die Sache gefällt mir nicht«, meinte Dick nachdenklich.

»Kennen Sie den Mann?«

 

»Ich weiß allerhand von ihm. Wieviel Gehalt beziehen Sie?«

»Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Er gab mir eine runde Summe und ersuchte mich, nach acht Tagen wiederzukommen. Seitdem habe ich alle Tage abgeschrieben, was mir mit der Morgenpost zuging. Es war ein Briefwechsel zwischen dem Gouverneur von Bermuda und dem Britischen Kolonialamt dabei, der gedruckt und wohl aus einem Blaubuch herausgerissen war. Was soll ich nun tun, Mr. Shannon?«

»Ja, wenn ich das wüßte! Eins dürfen Sie jedenfalls nicht tun: nächsten Sonnabend wieder allein in dieses sonderbare Haus gehen. Ich werde Sie auf dem Portman Square erwarten und mit Ihnen hineinschlüpfen.« Er sah, daß sie erschrak, und lächelte. »Sie brauchen keine Bedenken wegen etwaiger hinterlistiger Polizeiabsichten meinerseits zu haben. Wir haben nichts weiter gegen Mr. Malpas, als daß er ›geheimnisvoll‹ ist. Ich bleibe nur unten in der Halle in Rufweite. Waren übrigens auch Briefe an Mr. Lacy Marshalt unter den Papieren?«

»Nein. Das ist doch der afrikanische Millionär, der neben Malpas wohnt?« Sie erzählte ihm von dem kleinen Zwischenfall, der sich vor Marshalts Haus abgespielt hatte.

»Hm! Das ist vielleicht eine kleine nachbarliche Bosheit des Alten. Ich muß einmal mit Marshalt sprechen und ihn fragen, was es eigentlich mit dieser Feindschaft auf sich hat. Aber hier ist es kalt. Kommen Sie mit, wir wollen eine Tasse Kaffee trinken.«

Tonger schien anfangs nicht geneigt, Shannon zu melden, als er dem Beamten öffnete.

»Sie können Mr. Marshalt nur auf Verabredung hin sehen, wenigstens solange ich in der Nähe bin. Hat er Sie für diese Zeit bestellt?«

Shannon hatte den Eindruck, daß Tonger hier im Haus noch eine andere Stellung als die eines Kammerdieners einnahm.

»Vielleicht bringen Sie ihm meine Karte?« fragte er lächelnd.

»Vielleicht – aber wahrscheinlich nicht. Alle möglichen sonderbaren Menschen kommen hierher und wollen Mr. Lacy Marshalt sprechen, weil er freigebig und großzügig ist.« Er griff nach Dicks Karte und las sie. »Ach, Sie sind ein Detektiv? Na, dann kommen Sie herein, Captain. Wollen Sie denn jemand verhaften?«

»Wo denken Sie hin! In diesem wunderschön geordneten Haushalt, wo selbst die Bedienten so höflich sind, daß man sie kaum belästigen mag!«

Tonger kicherte.

»Ich bin kein Bedienter.«

»Der Sohn des Hauses?« scherzte Dick. »Oder gar am Ende Mr. Marshalt selbst?«

»Gott behüte! Ich möchte sein Geld und seine Verantwortung nicht haben. Bitte, diesen Weg!«

Er führte Dick zu einem Salon und folgte ihm.

»Es ist doch nichts Ernsthaftes?« fragte er besorgt.

»Nicht daß ich wüßte. Dies ist ein freundschaftlicher Besuch.«

»Nun gut, ich werde Mr. Marshalt Bescheid sagen.«

Er verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit Lacy Marshalt zurück. Als er Miene machte, zu bleiben, deutete der Millionär stumm auf die Tür.

»Hoffentlich hat sich Tonger keine Freiheiten herausgenommen«, sagte er, als er mit Dick allein war. »Er ist mit mir zusammen aufgewachsen und stellt meine Geduld manchmal auf harte Proben. Sie kommen von Scotland Yard, Captain Shannon? Was kann ich für Sie tun?«

»Vor allem möchte ich wissen, ob Sie Ihren Nachbar, Mr. Malpas, kennen?«

»Nein. Ich habe mich nur über das ewige Geklopfe nebenan beschwert –«

»Das habe ich gehört. Die Sache ist wohl durch die Distriktspolizei erledigt worden. Sie kennen ihn also nicht?«

»Ich habe ihn noch nie gesehen und kann Ihnen deshalb auch nichts Näheres über ihn sagen.«

»Wissen Sie auch nicht vom Hörensagen, wie er aussieht, so daß Sie ihn vielleicht als einen Bekannten aus Südafrika identifizieren könnten?«

»Nein, ich habe ihn auch nie beschreiben hören. Feinde hat man ja natürlich immer, wenn man es in der Welt zu etwas bringt.«

»Ja, man könnte den Eindruck haben, daß Malpas Sie schikanieren will. Und zwar benützt er dazu immer andere Leute. Ich möchte zum Beispiel glauben, daß die betrunkene Frau, die neulich herkam –«

»Eine betrunkene Frau?« Marshalts Stirne verdüsterte sich. Er stand auf und klingelte, worauf Tonger eilfertig erschien.

Aber auf die ärgerliche Frage seines Herrn hatte er nur eine gleichmütige Antwort.

»Ja, die war ordentlich eingeseift! Fiel ins Haus und auch gleich wieder hinaus. Sie sagte, sie wäre Mrs. Lidderley von Fourteen Streams –«

Dick Shannon sah den Hausherrn an, während der Diener sprach und bemerkte, daß Marshalts Gesicht leichenblaß wurde.

»Mrs. Lidderley?« wiederholte der Millionär langsam. »Wie sah sie denn aus?«

»Ach, ein kleines Ding – aber Kräfte hatte sie!«

»Klein? Dann hat sie geschwindelt!« Marshalts Stimme klang merklich erleichtert. »Vielleicht kennt sie die Lidderleys. Vor kurzem hörte ich aus Südafrika, daß Mrs. Lidderley schwer krank läge. Hast du sie nach ihrer Adresse gefragt?«

»Ich sollte nach der Adresse eines betrunkenen Frauenzimmers fragen? Aber, Lacy –«

»Zum Teufel, ich bin Mr. Marshalt für dich!« schrie ihn der Hausherr an. »Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

»Ach, es fuhr mir eben so heraus!«

»Mach, daß du hinauskommst!« Marshalt schlug die Tür hinter seinem respektlosen Diener zu.

»Der Mensch macht mich manchmal wirklich nervös«, entschuldigte er sich dann bei Dick. »Als Jungens haben wir uns natürlich Lacy und Jim genannt, und es wird mir jetzt schwer, auf einer passenderen Anrede zu bestehen, aber man muß die äußere Form doch wenigstens bis zu einem gewissen Grade wahren. – Verzeihen Sie die Störung. Um auf Malpas zurückzukommen, so weiß ich tatsächlich nichts über ihn. Es mag allerdings jemand sein, dem ich vor Zeiten einmal auf den Fuß getreten habe ... wissen Sie eigentlich, wie er aussieht?«

»Alt und furchtbar häßlich, wie ich gehört habe. Außerdem hat er eine Kabarettsängerin beauftragt, Sie zu belästigen, was ja an sich nicht viel auf sich gehabt hätte. Aber Sie haben zufällig eine Abneigung gegen solche Damen.«

»Könnten Sie nicht einmal den Mann besuchen?« fragte Marshalt nach einer kurzen Überlegung. »Das klingt natürlich wie eine Zumutung. Aber mir liegt wirklich daran, die Persönlichkeit von Malpas festzustellen.«

Dick hatte ohnehin schon beschlossen, sich den geheimnisvollen Mann anzusehen, so daß dieser Vorschlag überflüssig war. Als Tonger die Haustür hinter Shannon geschlossen hatte, schlenderte der Detektiv zu dem Nachbargebäude und blickte zu den öden Fenstern hinauf. Er war schon oft hier gewesen, aber um eine Unterredung hatte er Mr. Malpas noch nicht gebeten. Er suchte nach einer Klingel, fand keine und klopfte schließlich an die Tür. Als alles still blieb, pochte er kräftiger, schrak aber gleich darauf zusammen.

»Wer ist da?« fragte eine Stimme, scheinbar dicht an seinem Ohr.

Bestürzt sah er sich um, entdeckte aber sofort die Lösung des Rätsels, als er in dem steinernen Türpfeiler ein kleines Gitter bemerkte. Dahinter befand sich ein lautsprechendes Telephon.

»Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard und möchte Mr. Malpas sprechen«, sagte er.

»Sie können Mr. Malpas nicht sprechen«, knurrte die Stimme, und Dick vernahm ein leises Knacken. Obwohl er noch mehrmals klopfte, erhielt er keine Antwort mehr.