Edgar Wallace - Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

3

»Von den Hühnern hat jedes vier Schillinge gebracht«, berichtete die alte Mrs. Graffit und zählte das Geld auf den Tisch.

Audrey Bedford rechnete rasch nach.

»Mit den Möbeln macht das siebenunddreißig Pfund und zehn Schillinge. Reicht also gerade für den Hühnerfuttermann, Ihren Lohn und meine Reise.«

»Eine Kleinigkeit könnten Sie doch noch für mich zulegen«, bat die Frau weinerlich. »Seit Ihre liebe Mutter starb, habe ich Sie betreut und alles für Sie besorgt –«

»Seien Sie ruhig!« unterbrach sie das junge Mädchen. »Sie haben Ihr Schäfchen bei der Geschichte wirklich ins trockene gebracht. Hühnerzucht lohnt sich nicht und wird sich niemals lohnen, wenn der Generalstabschef einen heimlichen Eierhandel betreibt.«

»Wohin wollen Sie denn?« fragte Mrs. Graffit, um das Gespräch auf ein weniger gefährliches Thema zu bringen.

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nach London.«

»Eine fürchterliche Stadt! Nichts als Morde und Diebstähle –«

»Weil Sie gerade von Diebstählen sprechen – was ist denn aus den letzten vier Hühnern geworden?« erkundigte sich Audrey freundlich.

»Ach – habe ich Ihnen das Geld dafür nicht gegeben? Ich muß es tatsächlich verloren haben.«

»Nun, dann brauchen wir ja nur den Gendarm zu holen, der versteht sich aufs Suchen.«

Mrs. Graffit fand plötzlich das Geld sofort, legte es auf den Tisch und ging dann mürrisch hinaus.

Audrey sah sich in dem Zimmer um. Sie hatte den Sessel verbrannt, in dem ihre Mutter immer mit düsteren Blicken in den schwarzen Kamin gestarrt hatte. Ihren Vater hatte sie nie gesehen. Er mußte wohl ein schlechter Mensch gewesen sein. Wenn Audrey als Kind fragte: »Ist er tot, Mutter?«, so antwortete Mrs. Bedford stets: »Hoffentlich!«

Audreys Schwester Dora hatte niemals so unwillkommene Fragen gestellt; aber sie war auch älter und teilte die unbarmherzigen Anschauungen ihrer Mutter.

Nein, dieses Haus barg keine freundlichen Erinnerungen für Audrey, und der Abschied fiel ihr nicht schwer.

Sie war nicht betrübt und auch nicht besonders froh. Vor der Zukunft hatte sie keine Angst, denn sie hatte eine gute Erziehung genossen, viel gelesen, viel nachgedacht und sich an langen Winterabenden mit Stenographie beschäftigt.

»Noch viel Zeit!« brummte der Omnibuskutscher, als er ihren Koffer in den dunklen, muffigen Wagen warf. »Wenn die blödsinnigen Autos nicht wären, würde ich erst später losfahren. Aber so muß man vorsichtig sein.«

In diesem Augenblick erschien ein Fremder und zog den Hut vor Audrey.

»Verzeihung, Miß Bedford. Mein Name ist Willitt. Könnte ich Sie heute abend nach Ihrer Rückkehr einmal sprechen?«

»Ich komme nicht mehr zurück.«

»Nicht? Darf ich dann um Ihre Adresse bitten? Es handelt sich um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

»Eine Adresse kann ich Ihnen noch nicht geben. Aber wenn Sie mir die Ihre mitteilen, schreibe ich Ihnen.«

Er kritzelte sie auf einen Zettel. Sie nahm ihn, stieg ein und schlug die Wagentür zu. Gleich darauf setzte sich der Omnibus in Bewegung.

An der Ecke von Ledbury Lane ereignete sich ein Unfall. Dick Shannon nahm die Kurve zu knapp und schnitt das eine Omnibusrad glatt ab.

Audrey stand bereits auf der schmutzigen Landstraße, als Dick auf sie zueilte. Auf seinem hübschen Gesicht lag ein reumütiger Ausdruck.

»Es tut mir furchtbar leid! Sie sind doch nicht verletzt?«

Er schätzte sie auf siebzehn Jahre, obwohl sie schon neunzehn zählte. Sie trug billige Konfektionskleidung, war aber sehr schön. Dick fürchtete sich fast davor, ihre Stimme zu hören, denn vermutlich wurden seine Illusionen über dieses schöne Mädchen dann zerstört.

»Nein, ich bin nur etwas erschrocken. Aber nun werde ich meinen Zug nicht mehr erreichen.« Bekümmert schaute sie auf das abgefahrene Rad.

Mit Entzücken hatte er ihrer klaren, reinen Stimme gelauscht. Er hatte sich nicht getäuscht – diese Bettelprinzessin war wirklich eine Dame!

»Sie wollen zum Bahnhof von Barnham?« fragte er eifrig. »Ich komme durch den Ort – und ich muß dem armen Kutscher doch auch Hilfe schicken.«

»Warum passen Sie nicht auf?« schimpfte der Mann wütend. »Haben Sie vielleicht die Landstraße gepachtet?«

Dick knöpfte seinen Mantel auf und nahm eine Visitenkarte und eine Banknote aus seiner Brieftasche.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte er und reichte ihm beides. »Ich schicke Ihnen sofort Leute aus Barnham.« Er wandte sich wieder an Audrey. »Wollen Sie sich mir anvertrauen?«

Lächelnd stieg sie ein. Der Kutscher reichte den Koffer in den Wagen, und Dick nahm seinen Platz am Steuer ein.

»Darf ich Sie nicht ganz nach London bringen?« fragte er, als sich das Auto in Bewegung setzte.

»Danke, ich möchte lieber mit der Bahn fahren. Es ist möglich, daß mich meine Schwester abholt.«

»Sie wohnen hier in der Gegend?«

»Ich hatte eine Geflügelfarm in Fontwell. Aber von Hühnern kann man nicht leben, und ich habe das alte Haus verkauft – oder vielmehr, es hat sich alles in Hypotheken aufgelöst.«

»Wie schön, daß Sie dann eine Schwester haben, die Sie erwartet«, erwiderte er in fast väterlichem Ton, denn sie erschien ihm so jung und schutzbedürftig.

In Barnham stieg er mit ihr aus, brachte ihren kleinen Koffer auf den Bahnsteig und bestand darauf, die Ankunft des Zuges abzuwarten.

»Ihre Schwester wohnt natürlich in London?«

»Ja, in der Curzon Street.«

»Ist sie – ich meine – ist sie dort angestellt?«

»O nein. Sie ist verheiratet. Mrs. Martin Elton.«

Er sah sie bestürzt an. Aber in diesem Augenblick lief der Zug ein, und Dick eilte zu dem Zeitungsstand, um noch ein paar Magazine für sie zu kaufen.

»Es war sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. –? Ich heiße Audrey Bedford.«

»Ich werde es nicht vergessen!« rief er ihr nach, als sich der Zug schon in Bewegung setzte.

Nachdenklich kehrte er zu seinem Wagen zurück. Mrs. Elton war ihre Schwester, die berüchtigte Verbrecherin, die er seit langem zu fassen suchte!

4

Lacy Marshalt hatte einst als Senator dem Gesetzgebenden Rat von Südafrika angehört und führte seitdem zur größten Belustigung seines Kammerdieners Tonger den Titel Honourable, »der Ehrenwerte«.

An einem trüben Morgen stand er am Fenster und starrte verdrießlich in den Regen hinaus, als Tonger die Post hereinbrachte. Er griff nach einem blauen Umschlag, riß ihn auf und las:

»Alles in Ordnung. Es geht zu Ende mit ihm.«

»Schick ihm zwanzig Pfund!« sagte er und warf Tonger den Brief zu.

»Ob der wirklich aus Matjesfontein kommt?« meinte der Diener nachdenklich, nachdem er die Mitteilung auch gelesen hatte.

»Hast du den Poststempel nicht gesehen?«

»Hm, ja! Hören Sie mal, Lacy, wer ist eigentlich der Kerl, der nebenan wohnt? Malpas heißt er. Gestern sprach ich mit einem Polizisten, und der sagte, der Kerl müßte nicht richtig im Kopf sein. Wohnt ganz allein und macht alle Hausarbeit selbst. Wer kann das nur sein?«

»Du scheinst ja schon alles zu wissen – was fragst du mich noch?«

»Wenn er es nun wäre?«

»Mach, daß du hinauskommst, du Esel!« fuhr ihn Marshalt an.

»Der Privatdetektiv, den Sie bestellt haben, wartet draußen«, erwiderte Tonger gleichgültig.

Lacy stieß einen Fluch aus.

»Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Jeden Tag wirst du dümmer. Laß das blöde Grinsen und bring den Mann herein!«

Der schäbig aussehende Detektiv, der hereintrat, überreichte Lacy ein Photo.

»Ich habe sie gefunden und rasch diese Aufnahme von ihr gemacht. Das ist sie – sie heißt Audrey Bedford. Ihre Mutter ist tot – seit fünf Jahren. Aber auch von der habe ich ein Bild – auf einer Gruppenaufnahme.« Er wickelte ein größeres Blatt aus, das ihm Lacy schnell aus der Hand nahm.

»Mein Gott! Ja, gleich als ich das Mädchen sah, hatte ich ein Gefühl –«

»Sie kennen sie also, Mr. Marshalt?«

»Nein! Was treibt sie? Lebt sie allein?«

»Ja, bis jetzt. Aber vor kurzem hat sie ihr Haus verkaufen müssen. Sie soll mittellos sein und ist gestern nach London abgereist.«

»Bildhübsch, nicht wahr?«

»Ja, ungewöhnlich schön. Leider hatte ich das Pech, daß Captain Shannon im Gasthof von Fontwell abstieg, um einen Reifen auszuwechseln.«

»Wer ist Shannon?«

»Ein hohes Tier von Scotland Yard. Aber was ich in Fontwell vorhatte, hab ich ihm nicht verraten. Er hat mich aber fürchterlich ausgeschimpft, weil ich mich für einen Kriminalbeamten ausgegeben hatte.«

Lacy schien kaum zuzuhören.

»Verschaffen Sie mir vor allem Miß Bedfords Adresse, und versuchen Sie, mit ihr bekannt zu werden. Geben Sie sich für einen Geschäftsmann aus – borgen Sie ihr Geld – aber hüten Sie sich, sie ängstlich zu machen!« Er nahm ein paar Banknoten aus seiner Brieftasche und drückte sie dem Mann in die ausgestreckte Hand. »Bringen Sie das Mädel einmal zum Abendessen her«, fügte er leise hinzu.

Der Detektiv machte große Augen und schüttelte den Kopf.

»So was liegt mir nicht«, murmelte er.

»Ich will nur mit ihr sprechen. Sie bekommen fünfhundert.«

»Fünfhundert? Na, ich will sehen ...«

Als der Mann gegangen war, trat Lacy ans Fenster.

Er rühmte sich, keine Furcht zu kennen. Rücksichts- und reuelos hatte er Menschenherzen zertreten, um an sein Ziel zu kommen. In drei Erdteilen fluchten Frauen seinem Andenken, brüteten Männer Rache. Er aber fürchtete nichts. Er haßte Dan Torrington und wußte nicht, daß Haß nur aus Furcht entsteht.

5

 

Dick begrüßte seinen Assistenten Steel, der in seiner Wohnung auf ihn wartete, mit einer Frage.

»Wissen Sie etwas über Dora Eltons Verwandte?«

»Nein. Hat die denn überhaupt Verwandte?«

»Vielleicht weiß Slick darüber Bescheid. Ich habe ihn zu sechs Uhr herbestellt. Ist übrigens die Leiche identifiziert worden?«

»Nein. Aber nach den Schuhen und dem Tabaksbeutel zu urteilen, kam der Mann aus dem Ausland, wahrscheinlich aus Südafrika. Vielleicht ist er mit der ›Buluwayo‹ oder der ›Balmoral Castle‹ angekommen. Haben Sie mit dem Bognor-Mann wegen der Diamantenkette gesprochen?«

»Ja, aber er behauptet, er hätte sich mit Elton verkracht und wüßte nicht, was der vorhätte. Eltons Haus wird doch bewacht, nicht wahr? – Gut. Ich glaube nicht, daß vor heute abend um dreiviertel neun etwas geschieht. Um diese Zeit wird die Kette die Curzon Street verlassen, und ich werde ihr persönlich nach ihrem Bestimmungsort folgen, weil mir viel daran liegt, das fünfte Mitglied der Bande kennenzulernen. Vermutlich ist es ein Ausländer. Und dann werde ich Dora Elton endlich haben.«

»Denken Sie nicht, daß es Bunny sein könnte?«

»Der hat wohl Mut, aber doch nicht so viel, daß er mit einer gestohlenen Kette durch London spaziert, die von der gesamten Polizei gesucht wird. Das ist nichts für Bunny. Seine Frau wird es versuchen.« Dick sah auf die Uhr. »Vor einer halben Stunde ist sie angekommen. Ich möchte nur wissen –«

In diesem Augenblick erschien Mr. Slick Smith, wie immer sorgfältig gekleidet, selbstbewußt und sorglos. Steel nickte ihm grinsend zu und verließ das Zimmer.

»Schön, daß Sie kommen«, sagte Dick Shannon. »Sie haben recht behalten – der Schmuck ist weg, und Elton ist in die Geschichte verwickelt.«

Slick zog spöttisch die Augenbrauen hoch.

»Wirklich? Nicht zu glauben!«

»Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen. Wissen Sie eigentlich etwas über Mrs. Elton?« fragte Dick und schob ihm die Whiskyflasche zu.

»Eine reizende Dame – entzückende Person! Früher war sie ein braves Mädchen, aber eine schlechte Schauspielerin. Vermutlich hat sie Elton geheiratet, um einen besseren Menschen aus ihm zu machen.«

»Hat sie eine Schwester?« erkundigte sich Dick gespannt.

Slick leerte sein Glas.

»Wenn sie eine hat, möge ihr Gott gnädig sein!« erwiderte er.

Audrey hatte eine Viertelstunde auf dem Victoria- Bahnhof zugebracht und die Anschläge über den Raub der Diamantenkette studiert, während sie vergeblich auf Dora wartete. Schließlich bat sie einen Polizisten um Auskunft und benutzte den von ihm empfohlenen Omnibus, um nach der Curzon Street zu fahren. Ein zierliches Zimmermädchen öffnete ihr.

»Mrs. Elton ist beschäftigt«, sagte sie. »Kommen Sie vielleicht von Seville?«

»Nein, ich komme aus Sussex. Bitte melden Sie Mrs. Elton, daß ihre Schwester hier ist.«

Das Mädchen führte sie in ein kleines Wohnzimmer und ließ sie dort allein. Audrey redete sich ein, daß der Brief, in dem sie Dora ihre bevorstehende Ankunft mitgeteilt hatte, verlorengegangen sein müsse. Die Schwestern standen sich nicht nahe. Dora war vor Jahren zur Bühne gegangen und hatte sich dann kurz vor dem Tod ihrer Mutter »gut« verheiratet. Sie war Audrey stets als hervorragendes Beispiel hingestellt worden, und ihre Mutter hielt sie bis zuletzt für ein Muster von Vollkommenheit, obwohl sie von Dora völlig vernachlässigt wurde.

Die Tür öffnete sich plötzlich, und eine junge Frau trat herein. Sie war größer als Audrey und fast ebenso schön wie diese, nur hatten ihre Haare nicht das strahlende Blond und ihre Augen nicht den freundlich-humorvollen Blick Audreys.

»Aber liebes Kind, wo kommst du denn her?« fragte Dora Elton bestürzt und streifte mit ihrer schlaffen, ringgeschmückten Hand die Wange der Schwester.

»Hast du meinen Brief nicht bekommen?«

»Nein. Du bist aber groß geworden, Kind!«

»Ja, allmählich zähle ich auch zu den Erwachsenen. Ich habe das Haus verkauft.«

Dora sah sie erstaunt an.

»Warum denn?«

»Es gehörte mir ja längst nicht mehr – es war über und über mit Hypotheken belastet.«

»Und nun kommst du hierher? Das ist sehr peinlich. Ich kann dich unmöglich zu mir nehmen.«

»Ach, wenn ich nur einmal acht Tage lang hier schlafen könnte, Dora, bis ich Arbeit gefunden habe.«

Ihre Schwester runzelte die Stirne und ging auf und ab.

»Ich habe Gäste zum Tee«, sagte sie schließlich, »und heute abend ein kleines Diner. Was soll ich mit dir anfangen – in diesem Aufzug? Geh lieber in ein Hotel, schaffe dir elegante Kleider an und komme am Montag wieder.«

»Das würde mehr Geld kosten, als ich besitze«, erwiderte Audrey ruhig.

Dora kniff die Lippen zusammen.

»Wie kannst du einem nur so einfach ins Haus schneien!« rief sie. »Na, warte hier – ich will mit Martin sprechen.«

Audrey hatte sich den Empfang kaum anders vorgestellt. Nach einer Weile kam Dora zurück und zeigte ein erzwungen freundliches Gesicht.

»Martin meint, du solltest hier bleiben«, erklärte sie und führte ihre Schwester zu einem hübschen Fremdenzimmer im zweiten Stock. »Du hast hier in London wohl gar keine Bekannten?« fragte sie, als sie das elektrische Licht andrehte.

»Nein. Aber das ist ja ein entzückendes Zimmer!«

»Ich war vorhin vielleicht etwas abweisend, Liebling«, fuhr Dora fort und legte eine Hand auf Audreys Arm. »Du bist mir doch nicht böse deshalb? Ich bin manchmal so nervös. Und du hast Mutter ja versprochen, für mich zu tun, was du könntest.«

»Du weißt, daß ich mein Versprechen halte«, entgegnete Audrey.

Dora streichelte ihren Arm.

»Unsere Gäste brechen schon auf. Du mußt herunterkommen und Mr. Stanford und Martin kennen lernen.«

Sie verließ ihre Schwester und ging in den Salon zurück.

»Es wäre vielleicht doch besser, sie in ein Hotel zu schicken«, meinte ihr Mann.

Dora lachte.

»Ihr beide habt euch nun schon den ganzen Nachmittag den Kopf zerbrochen, wie wir das Ding zu Pierre hinschaffen könnten. Keiner von euch wollte sich der Gefahr aussetzen, mit der Diamantenkette der Königin von Griechenland abgefaßt zu werden –«

»Nicht so laut!« brummte Elton zwischen den Zähnen.

»Hör zu!« rief Big Bill Stanford. »Ich kann mir denken, was du sagen willst, Dora. Wer soll die Kette hinbringen?«

»Wer? Natürlich meine kleine Schwester!« erwiderte Mrs. Elton kühl.

6

Big Bill war nicht sentimental, aber dieser Vorschlag ging selbst ihm zu weit.

»Das ist unmöglich. Bedenke doch, wenn sie gefaßt wird und uns verrät?«

»Das ist auch mein einziges Bedenken, und es ist nur gering«, entgegnete Dora.

Der große Mann starrte einen Augenblick vor sich hin.

»Das Ding muß unbedingt aus dem Haus«, sagte er dann. »Schließe die Tür zu, Dora!«

Sie gehorchte. Auf dem Kaminsims stand eine wunderschön emaillierte Uhr, die mit einer kleinen Faungestalt geschmückt war. Stanford hob den Faun und damit einen Teil der Uhr ab, die ruhig weitertickte. Ein leiser Druck auf eine Feder genügte, um eine Seite des Bronzekastens zu öffnen und ein genau hineinpassendes Stanniolpaket zu zeigen. Er legte es auf den Tisch, und als er es auspackte, flammten blaue, grüne und weiße Blitze blendend auf. Voll Bewunderung sah Dora auf die Steine.

»Hier liegen nun siebzigtausend Pfund«, meinte Stanford nachdenklich, »und daneben liegen zehn Jahre für irgendjemand – sieben für Diebstahl und drei für Majestätsbeleidigung.«

Der elegante Martin Elton schauderte.

»Schenke dir doch solche Bemerkungen. Es handelt sich jetzt nur darum, wer das Ding fortbringt.«

»Audrey natürlich«, erklärte Dora gelassen. »Kein Mensch kennt sie, und niemand verdächtigt sie. Und Pierre ist leicht zu erkennen. Aber dann ist auch Schluß mit diesen Geschichten, Martin. Du weißt, der Krug geht solange zu Wasser, bis –«

»Vielleicht macht Lacy Marshalt ihn zu einem Direktor«, höhnte Stanford.

»Ich kenne den Mann ja kaum«, entgegnete sie. »Ich erzählte dir, daß ich ihn auf dem Ball bei Denshores getroffen habe, Bunny. Er ist Südafrikaner und steinreich, aber unerhört geizig.«

Martin sah sie mißtrauisch an.

»Ich wußte nicht, daß du ihn kennst –«

»Zur Sache!« rief Stanford ungeduldig. »Was soll werden – wenn sie gefaßt wird? Elton, nach der Geschichte in Leyland Hall hast du den Kram doch durch einen Mann aus Bognor außer Landes schaffen lassen. Erinnerst du dich? Nun, mit diesem Freund aus Bognor hat sich Dick Shannon heute stundenlang unterhalten.«

Martins hübsches, blasses Gesicht wurde noch einen Schein bleicher.

»Er wird nichts verraten«, murmelte er.

»Wer weiß! Wenn einer ihn dazu bringt, ist es Shannon.«

»Der Schmuck muß weg«, sagte Dora. »Packe ihn wieder ein, Martin.«

Er machte sich an die Arbeit, wickelte die Kette in Watte und legte sie in eine kleine, flache Zigarrenschachtel, die er mit braunem Papier umhüllte und verschnürte. Dann steckte er das Päckchen unter ein Sofakissen und brachte die Uhr wieder in Ordnung.

»Plaudert deine Schwester aus, wenn sie gefaßt wird?« fragte Stanford.

Dora überlegte einen Augenblick.

»Nein, bestimmt nicht!« sagte sie dann und ging hinauf, um Audrey zu holen.

Als das junge Mädchen ins Zimmer trat, fiel ihr Blick zuerst auf einen großen, breitschulterigen Mann mit kurzgeschorenem Haar, der sie mit ernsten, strengen Augen ansah.

»Mr. Stanford«, stellte Dora vor. »Und dies ist mein Mann.«

Verwundert betrachtete Audrey den zierlichen, stutzerhaften Mr. Elton, dessen bleiche Gesichtsfarbe durch das dunkle Schnurrbärtchen und die kohlschwarzen Augenbrauen noch mehr hervorgehoben wurde. Das war also der vielgepriesene Martin!

»Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Audrey!« sagte er und schaute sie begeistert an. »Du hast ja eine entzückende Schwester, Dora!«

»Ja, sie ist jetzt hübscher als früher«, erwiderte seine Frau kühl, »aber fürchterlich angezogen.«

Audrey wurde nicht leicht verlegen, aber der unverwandte Blick des großen Mannes, der sie geradezu durchbohrte und abschätzte, war ihr unbehaglich. Sie atmete erleichtert auf, als er sich verabschiedete. Martin begleitete ihn hinaus, um Dora Gelegenheit zu geben, ihre Geschichte vorzubringen.

Sie erzählte von einer mißhandelten Frau, die sich genötigt gesehen hätte, aus Angst vor ihrem brutalen Gatten das Land zu verlassen, und nicht einmal Zeit gehabt hätte, das Miniaturbild ihres Kindes mitzunehmen.

»Wir haben uns das Bild verschafft«, fuhr sie fort. »Nach dem Buchstaben des Gesetzes waren wir allerdings nicht dazu berechtigt, aber die arme Mutter tat uns so leid. Durch ein gutes Trinkgeld hat Martin einen Diener des Hauses bewogen, uns das Bild zu bringen. Nun scheint der Mann aber die Sache herausgebracht zu haben und läßt uns Tag und Nacht beobachten, so daß wir es nicht wagen, das Bild durch die bereits gewarnte Post oder durch einen Boten fortzuschicken. Heute kommt nun ein Freund der armen Lady Nilligan nach London, und wir haben verabredet, ihm das Bild auf den Bahnhof zu bringen. Nun fragt es sich – würdest du wohl so lieb sein, es hinzutragen, Audrey? Dich kennt hier niemand. Die Spione werden dich nicht belästigen, und du kannst einer bedauernswerten Frau einen großen Dienst erweisen.«

»Aber das ist doch eine sehr sonderbare Geschichte!« rief Audrey und runzelte die Stirne. »Könnt ihr denn nicht einen Dienstboten schicken? Oder kann der Mann nicht herkommen?«

»Ich sagte dir doch, daß unser Haus bewacht wird!« entgegnete Dora ungeduldig. »Aber natürlich, wenn du nicht willst –«

»Selbstverständlich werde ich es tun«, lachte Audrey.

»Wie nett von dir! Aber eins muß ich dir noch sagen: falls die Sache doch herauskommen sollte, darfst du unseren Namen nicht nennen. Ich bitte dich, mir bei dem Andenken an unsere tote Mutter zu schwören –«

»Das ist nicht nötig«, unterbrach sie Audrey kühl. »Ich verspreche es dir – das genügt.«

Aus dem kleinen Diner, von dem Dora gesprochen hatte, schien nichts geworden zu sein, denn um halb neun kam sie zu ihrer Schwester nach oben und übergab ihr ein längliches, fest verschnürtes und versiegeltes Päckchen.

Sie beschrieb ihr den geheimnisvollen Pierre genau.

»Vor allem aber kennst du mich nicht«, schärfte sie ihr noch einmal ein, »und du hast auch das Haus Curzon Street Nr.508 nie in deinem Leben betreten. Und zu dem Mann sagst du weiter nichts als: ›Dies ist für Madame.‹«

 

Audrey wiederholte die Worte.

»Welche Umstände für eine solche Kleinigkeit!« meinte sie dann. »Ich komme mir fast wie eine Verschworene vor.«

Nachdem sie das Päckchen in einer inneren Manteltasche verborgen hatte, verließ sie das Haus und entfernte sich in der Richtung nach Park Lane. Martin folgte ihr, behielt sie im Auge, bis sie in einen Omnibus stieg, und fuhr dann in einem Mietauto hinter ihr her.

Vor dem Charing Cross-Bahnhof stieg Audrey ab und eilte in die große Halle. Dort wimmelte es von Menschen, und es dauerte eine Weile, bis sie Pierre entdeckte, einen untersetzten, flachsbärtigen Mann mit einem kleinen Muttermal auf der linken Backe, das ihr als Erkennungszeichen dienen sollte. Ohne weiteres zog sie das Päckchen aus dem Mantel, ging auf ihn zu und sprach ihn mit den verabredeten Worten an.

Er schaute sie forschend an und ließ das Päckchen so schnell in seine Tasche gleiten, daß sie seiner Bewegung kaum zu folgen vermochte.

»Bien!« sagte er. »Wollen Sie Monsieur danken und –«

Er fuhr blitzschnell herum, aber der Mann, der ihn am Handgelenk gepackt hatte, ließ sich nicht abschütteln. Im selben Augenblick wurde auch Audrey am Arm gefaßt.

»Kommen Sie mit, meine Liebe«, sagte eine freundliche Stimme zu ihr. »Ich bin Captain Shannon von Scotland Yard.«

Plötzlich stockte er jedoch und starrte entsetzt in ihr Gesicht.

»Meine Bettelprinzessin!« sagte er leise.

»Bitte, lassen Sie mich los!« Schreckliche Angst packte Audrey, und sie versuchte sich freizumachen. »Ich muß zu –« Noch rechtzeitig verstummte sie.

»Sie wollen natürlich zu Mrs. Elton«, ergänzte er.

»Nein, ich kenne keine Mrs. Elton«, erwiderte sie atemlos.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, darüber müssen wir noch genauer sprechen. Ich möchte Ihren Arm nicht festhalten. Wollen Sie mich so begleiten?«

»Sie – Sie verhaften mich?« keuchte sie.

Er nickte ernst.

»Ich muß Sie leider festnehmen, bis eine gewisse Angelegenheit aufgeklärt ist. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie in Unwissenheit gehandelt haben. Aber Ihre Schwester ist keineswegs unschuldig.«

Sprach er von Dora? Das Herz wurde ihr schwer, aber sie nahm sich zusammen.

»Ich will gern mit Ihnen sprechen und keinen Fluchtversuch machen. Aber ich komme nicht von Mrs. Elton, und sie ist nicht meine Schwester. Ich habe heute nachmittag geflunkert, als ich das behauptete.«

Er winkte ein Auto heran, gab dem Chauffeur Anweisung, wohin er fahren sollte, und half ihr beim Einsteigen.

»Sie lügen, um Ihre Schwester und Bunny Elton zu schützen«, sagte er unterwegs.

Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, aber eins wußte sie jetzt klar: es war kein Miniaturbild gewesen, das sie Pierre übergeben hatte. Es war etwas ganz anderes – etwas Entsetzliches!

»Was war in dem Paket?« fragte sie tonlos.

»Die Diamantenkette der Königin von Griechenland, wenn ich nicht sehr irre. Man überfiel sie und riß ihr das Kollier vom Hals.«

Audrey richtete sich auf, und ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht. Dora!

»Sie wußten natürlich nicht, um was es sich handelte«, sagte er, als ob er zu sich selbst spräche. »Es ist in diesem Fall eine furchtbare Zumutung an Sie, aber Sie müssen die Wahrheit sagen – auch wenn es für Ihre Schwester ein Schicksal bedeutet, das sie längst erwartet.«

Das Auto schien sich im Kreise zu drehen. »Tu alles, was du kannst, für Dora...« Die beharrliche Mahnung ihrer Mutter dröhnte ihr in den Ohren. Sie zitterte heftig, und ihr Gehirn war plötzlich wie gelähmt.

Sie wußte nur, daß sie verhaftet war – sie, Audrey Bedford!

»Ich habe keine Schwester«, log sie, und atmete schwer. »Ich habe die Kette gestohlen.«

Als sie sein freundliches Lachen hörte, hätte sie ihn ermorden mögen.

»Sie armes, liebes Baby! Der Überfall wurde von drei erfahrenen Banditen ausgeführt. Nun hören Sie einmal zu. Ich gestatte Ihnen nicht, daß Sie diesen tollen Plan in die Tat umsetzen und sich einfach für diese Leute opfern. Wußten Sie denn nicht, daß Dora Elton und ihr Mann zu den gefährlichsten Verbrechern Londons gehören?«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte.

»Nein, nein –« schluchzte sie. »Ich weiß nichts ... sie ist nicht meine Schwester.«

Dick Shannon seufzte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie anzuklagen.

Pierre war schon vor ihnen auf der Polizeistation eingetroffen, und Audrey sah entsetzt zu, als man ihn durchsuchte, das Päckchen öffnete und seinen blitzenden Inhalt auf dem Schreibtisch niederlegte. Dann nahm sie Shannon freundlich an der Hand und führte sie hinter die Stahlschranke.

»Name: Audrey Bedford«, sagte er. »Adresse: Fontwell, West Sussex. Sie wird beschuldigt, im Besitz gestohlenen Gutes gewesen zu sein und gewußt zu haben, daß es sich um gestohlenes Gut handelte. – Nun sagen Sie die Wahrheit!« flüsterte er ihr zu.

Aber sie schüttelte den Kopf.