Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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12

Nur wenige Dienstboten genossen so viel Freiheit und Behaglichkeit wie Tonger, der das ganze oberste Stockwerk des Hauses bewohnte. Marshalt hatte ihm dort ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Bad eingerichtet, und Tonger verbrachte den größten Teil seiner Abende in seinen eigenen Räumen, wo er mit Hilfe eines kleinen Roulettespiels endlose mathematische Berechnungen anstellte. Es war sein Ehrgeiz, die Kasinodirektion von Monte Carlo durch ein von ihm erfundenes unfehlbares System in Schrecken und Verzweiflung zu bringen.

An diesem Abend war er jedoch anderweitig beschäftigt, als die Klingel über seiner Tür ertönte, und er machte sie sorgsam hinter sich zu, bevor er zu Lacy hinunterging, der bereits ungeduldig wurde.

»Erwarte Mrs. Elton um sieben Uhr fünfundvierzig an der Hintertür«, befahl er ihm, »und laß sie herein. Dann bringst du das Auto zur Albert Hall und parkst bei den anderen, bis das Konzert vorbei ist. Nachher kommst du wieder an die Hintertür zurück.«

»Ist das nicht ein bißchen gefährlich nach dem Brief, den Sie von Elton erhalten haben?«

»Was weißt du denn von dem Brief? Ich hatte ihn doch eingeschlossen!«

»Ach, das ist doch gleichgültig. Ich habe ihn jedenfalls gelesen, und ich sage Ihnen, daß es gefährlich ist. In einem Scheidungsprozeß möchten Sie doch wohl nicht auftreten?«

»Mit dir als Zeuge!« höhnte Marshalt.

»Sie wissen sehr gut, daß ich nie gegen Sie aussagen würde«, erwiderte Tonger gelassen. »Das liegt mir nicht. Aber wenn ein Kerl wie Elton mir schriebe, er würde mich niederschießen, wenn er mich noch einmal mit seiner Frau zusammensähe, würde ich mir die Sache doch sehr überlegen.«

»Mrs. Elton hat geschäftliche Angelegenheiten mit mir zu besprechen«, sagte Marshalt kalt. »Tu das, was ich dir sage.«

»Das Auto vor der Albert Hall soll beweisen, daß Mrs. Elton das Konzert mit angehört hat!« kicherte Tonger. »Was wollte denn der Detektiv? Kam der auch wegen Mrs. Elton?«

»Unsinn! Er wollte sich nur nach dem verrückten Kerl nebenan erkundigen. So, das ist alles. Morgen abend esse ich zu Hause, und wenn ich Glück habe, mit einem sehr interessanten Gast.«

»Haben Sie das Mädchen gefunden, hinter dem der Privatdetektiv her war?« fragte Tonger lebhaft.

»Woher weißt du denn nun das schon wieder?! Ja, ich hoffe, daß sie kommt. Übrigens brauchst du dabei nicht in Erscheinung zu treten. Das Hausmädchen kann bei Tisch aufwarten.«

»Um törichten Jungfrauen Vertrauen einzuflößen«, bemerkte Tonger und verließ das Zimmer ...

Gegen halb zwölf hielt er wieder mit dem Auto an der Hintertür von Nr.551, nachdem er Marshalts Anweisungen genau befolgt hatte. Dora kam heraus und nahm seinen Platz am Steuer ein.

»Haben Sie jemand gesehen?« fragte sie leise.

Er dachte an den Mann, der an der Ecke des Portman Square gestanden und so geduldig gewartet hatte.

»Nein«, sagte er aber. »An Ihrer Stelle würde ich jedoch ein solches Abenteuer nicht nochmal riskieren.«

»Machen Sie den Schlag zu«, erwiderte sie schroff, und gleich darauf fuhr sie ab.

Als sie nach Hause kam, fand sie Martin schon im Wohnzimmer vor.

»Na, ist die Unterredung befriedigend verlaufen?« fragte sie vergnügt.

Er hatte sich auf dem Diwan ausgestreckt und schüttelte mißmutig den Kopf.

»Nein, wir werden das Etablissement wohl schließen müssen. Klein verlangt zuviel Prozente und droht mit der Polizei, um sie durchzudrücken. Das macht mir nun zwar keine Sorge, aber die Säle in der Pont Street bringen viel und regelmäßig Geld ein, so daß ich sie ungern schließen würde. Jetzt erwarte ich Stanford. – Übrigens habe ich Audrey heute abend gesehen.«

»Wo denn?« fragte sie verwundert.

»Im Carlton Grill. Sie aß mit Shannon.«

Dora, die sich eben eine Zigarette anstecken wollte, hielt inne.

»Mit Shannon?«

»Ja. Sie schienen höchst fidel zu sein. Du brauchst aber keine Angst zu haben. Zur Angeberin eignet sich Audrey nicht. Es war mir noch nie klar geworden, wie schön sie eigentlich ist. Und dabei tadellos angezogen. Shannon hat sie ordentlich verliebt betrachtet.«

»Na, du scheinst ja auch in sie verschossen zu sein! Das Konzert war übrigens ein großer Genuß für mich, Bunny! Kessler war hervorragend. Eigentlich mache ich mir ja nicht viel aus Geigenspiel, aber –«

»Kessler trat doch gar nicht auf«, erwiderte er und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Er war indisponiert und ließ absagen. Hast du es denn nicht in der Zeitung gelesen?«

»Ach, ich kann diese Leute nicht voneinander unterscheiden«, erklärte sie nach einer kaum merklichen Pause gleichmütig. »Jedenfalls spielte der Mann, der ihn vertrat, glänzend.«

»Wahrscheinlich war es Manz.« Er nickte.

Zu ihrer Erleichterung klingelte es an der Haustür, und gleich darauf erschien Big Bill Stanford, todmüde von der langen Rückfahrt von Rom. Ohne große Vorrede begann er zu berichten.

»Die Contessa trifft am Dienstagabend ein. Ich habe Photos von der Tiara und der Perlenkette. Die Imitation wird sich in fünf bis sechs Tagen herstellen lassen, und das weitere ist dann ja Kinderspiel. Stigman hat sich mit der Zofe angefreundet –«

»Ich dachte, mit solchen Geschichten würden wir uns nicht wieder abgeben?« unterbrach ihn Dora unwillig.

»Geschieht auch nicht«, murmelte Martin. »Daß du mir nichts von dem Kram ins Haus bringst, Bill!«

»Hältst du mich für verrückt? Ich habe von der letzten Affäre noch genug!«

»Können wir denn das nicht ganz aufstecken, Bunny?« wandte sich Dora an Elton.

»Gewiß, warum nicht? Was bedeuten denn auch zehntausend Pfund für uns? Wir können ja auch ohne sie leben!«

»Ich kann es jedenfalls«, entgegnete sie.

»Willst du uns vielleicht mit Nähen ernähren oder Klavierstunden geben? Oder wieder zur Bühne gehen? Drei bis vier Pfund die Woche hast du ja wohl verdient, bis ich dich kennenlernte. Rede keinen Unsinn, Dora! Ich habe dich erst zu einer wohlhabenden Frau gemacht. Sogar dein Trauring stammt von einem Diebstahl her. Überlege dir das gefälligst!«

Sie stand wortlos auf und verließ das Zimmer.

13

Audrey Bedford hatte von unbekannter Hand einen Brief erhalten, der folgenden Inhalt hatte:

»Sehr geehrte Miß Bedford,

angesichts des ungeheuerlichen Fehlurteils, dem Sie zum Opfer fielen, würde es mir eine Freude sein, Ihnen behilflich zu sein. Ich bitte Sie, mich deshalb morgen abend um halb acht aufzusuchen. Meine Adresse finden Sie oben. Ich glaube, daß ich Ihnen eine zusagende Beschäftigung verschaffen könnte.

Ihr sehr ergebener

Lacy Marshalt.

P.S. Ich bitte um freundliche Drahtantwort.«

Sie grübelte den ganzen Morgen über diesen Brief nach. Marshalts Name war ihr bekannt, und nachdem sie mit Hilfe eines Nachschlagebuches festgestellt hatte, daß es eine Mrs. Marshalt gab, sandte sie mittags ein zustimmendes Telegramm ab. Sie konnte ja unmöglich wissen, daß die erwähnte Mrs. Marshalt nur eine Finte war, die dem lebenslustigen Millionär seit fünfundzwanzig Jahren gute Dienste leistete. Da er nie von seiner Frau sprach, nahm man allgemein an, daß eine Entfremdung vorläge, und bedauerte ihn.

Bei ihrer Ankunft in Portman Square wurde Audrey von einem korrekt gekleideten Hausmädchen empfangen. Sie sah in ihrem einfachen, schwarzen Abendkleid so entzückend aus, daß Marshalt sie überrascht anstarrte, während sie sich vergeblich nach Mrs. Marshalt umsah.

»Ich hoffe, daß Ihnen ein Diner zu zweien nicht unangenehm ist«, sagte er und hielt ihre kleine Hand nicht länger als üblich in der seinen. »Vor zwanzig Jahren liebte ich große Gesellschaften, aber jetzt hasse ich sie.«

Diese zarte Betonung seines Alters wirkte beruhigend auf sie.

»Es war sehr freundlich von Ihnen, mich einzuladen, Mr. Marshalt, trotzdem Sie meine Vorgeschichte kennen«, erwiderte sie lächelnd.

»Sie waren doch vollkommen unschuldig«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Ich hatte sogar den Eindruck, daß Sie sich für andere aufopferten, und bewunderte Sie deshalb. Ich glaube, daß ich Ihnen helfen kann –«

»Eine Anstellung habe ich ja bereits, aber ich bin nicht sehr begeistert davon. Ihr Nachbar, Mr. Malpas, beschäftigt mich mit Schreibarbeiten.«

Es wurde gemeldet, daß angerichtet sei, und sie gingen zu dem elegant ausgestatteten Speisezimmer. Als sie eintraten, blieb Lacy etwas zurück und sprach leise mit dem Mädchen, worüber Audrey sich etwas wunderte.

Plötzlich fiel ihr ein, daß nur diese Wand sie von dem Haus ihres geheimnisvollen Arbeitgebers trennte.

Tapp, tapp, tapp!

Im Malpas'schen Haus klopfte jemand an die Wand.

Tapp, tapp, tapp!

Es klang fast wie eine Warnung ... aber wie konnte der alte Mann wissen ...?

Nach dem Kaffee lehnte Audrey dankend eine Zigarette ab, warf einen Blick auf die Kaminuhr und erhob sich.

»Sie werden verzeihen, wenn ich so früh aufbreche, Mr. Marshalt, aber ich habe noch zu tun.«

»Das hat doch Zeit! Miß Bedford, ich möchte Sie vor Mr. Malpas warnen. Ich glaube, hinter seinem Entgegenkommen verbergen sich sehr häßliche Absichten.«

»Mr. Marshalt!« rief sie empört. »Wie können Sie so etwas sagen! Sie haben mir doch selbst erzählt, daß Sie den Herrn gar nicht kennen!«

»Ich habe meine Informationsquellen. Bitte, nehmen Sie doch wieder Platz. Es ist ja kaum neun Uhr!«

Mit innerem Widerstreben folgte sie seiner Aufforderung.

»Ich kenne Sie bereits länger, als Sie ahnen. Sie werden sich wohl kaum daran erinnern, mich in Fontwell gesehen zu haben? Aber ich versichere Ihnen, daß sich mir Ihr Bild seitdem unauslöschlich eingeprägt hat. Audrey, ich habe Sie sehr lieb.«

 

Sie stand wieder auf, und auch er erhob sich.

»Ich kann Ihnen den Lebensweg sehr angenehm machen, liebes Kind.«

»Ich ziehe aber einen rauheren Weg vor«, entgegnete sie gelassen und ging auf die Tür zu.

»Noch einen Augenblick!« bat er.

»Sie verschwenden nur Ihre Zeit, Mr. Marshalt. Ich verstehe dunkel, was Sie mir vorschlagen wollen, und ich hoffe, daß ich mich täusche. Törichterweise bin ich zu Ihnen gekommen, weil ich Sie für einen Gentleman hielt, der einer – ungerecht Verurteilten helfen wollte.«

Sein Ton änderte sich plötzlich.

»Als ob Ihnen das irgend jemand glauben würde!« rief er brutal und lachte laut. »Seien Sie doch vernünftig, und laufen Sie nicht davon. Dieser Teil des Hauses ist vollständig von dem übrigen Gebäude abgesperrt, und die Tür ist verschlossen.«

Sie eilte hin und rüttelte an dem Griff, aber sie fand seine Worte bestätigt. Im Nu hatte er sie eingeholt, hob sie auf und trug sie zurück. Mit fast übermenschlicher Anstrengung befreite sie sich, ergriff ein spitzes Tranchiermesser, das auf dem Tisch lag und wandte sich ihm zu.

»Wenn Sie mich anrühren, bringe ich Sie um! Öffnen Sie sofort die Tür!«

Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und schloß auf.

»Wollen Sie mir verzeihen?« flüsterte er.

Ohne zu antworten, ging sie an ihm vorüber und ließ das Messer fallen.

»Nach rechts!« rief er leise, und sie bog wirklich in den schmalen Gang ein, obwohl ihr ein Instinkt sagte, daß sie geradeaus gehen müßte. Bevor sie sich der Gefahr bewußt wurde, kam er hinter ihr her. Sie floh den Korridor entlang und mehrere Treppen nach oben, aber dann sah sie, daß es nicht weiterging. Über ihr befand sich nur ein unerreichbares Oberlichtfenster. Leise und behutsam schlich sie wieder nach unten. Plötzlich vernahm sie eine schluchzende Frauenstimme, wußte jedoch nicht, ob die Laute von oben, von unten oder von nebenan, aus Mr. Malpas' Haus, kamen. Sie horchte angestrengt, bis das Schluchzen leiser wurde und verstummte. Von Marshalt war nichts zu sehen, und sie erreichte schließlich den kleinen Vorplatz, hinter dem die Freiheit winkte.

Aber dort ergriffen sie plötzlich wieder zwei starke Arme, und sie wurde ins Eßzimmer zurückgeschleppt.

»So, mein Schatz!« rief Marshalt und schob sie in einen tiefen Lehnsessel. »Nun wirst du wohl Vernunft annehmen. Ich kann dir alles geben, was dein Herz begehrt. Für mich bist du die einzige Frau, die meiner Liebe wert ist ...«

»Verschwenden Sie keine Worte mehr, Mr. Marshalt«, erwiderte sie und wandte den Blick nicht von ihm. »Ich werde ins Hotel zurückkehren, Captain Shannon anrufen und ihm mitteilen, was sich hier zugetragen hat.«

Er lachte laut auf.

»Ach, du willst mir mit der Polizei drohen, mein liebes Kind? Wie altmodisch! Übrigens ist Shannon ein Weltmann. Er weiß, daß ich mir keine Dame aus Holloway einladen würde, wenn ... Na, nimm deinen Verstand zusammen, Liebling! Und er weiß auch, daß du die Einladung nicht angenommen hättest, wenn du nicht mit meiner Liebeserklärung gerechnet hättest.«

»Bei manchen Mädchen mag das stimmen, aber ich bin anders.«

»Bei Gott, das bist du! Und deshalb mag ich dich ja so gern!« Er riß sie empor und zog sie in seine Arme.

Sie fühlte sich entsetzlich hilflos und elend und glaubte, daß sie im nächsten Augenblick das Bewußtsein verlieren würde. Aber im selben Moment hörte sie ein leises Rasseln im Schloß. Er hatte es auch vernommen und ließ sie so jäh los, daß sie in die Knie sank. Als er sich hastig umwandte, ging die Tür auf, und eine schwarzgekleidete Frau stand auf der Schwelle. Drohend und düster starrte sie auf das Mädchen.

Es war Dora Elton, und Audrey sah den Haß in den Augen ihrer Schwester. Schaudernd fuhr sie zusammen.

»Ich störe wohl«, sagte Dora und begegnete Lacys zornigem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

Audrey erhob sich mühsam, ging mit zitternden Knien hinaus, griff nach ihrem Cape und trat in die kalte, reine Nachtluft hinaus.

Marshalt schenkte sich mit unsicherer Hand ein Glas Wein ein und goß es hinunter.

»Wenn du glaubst, daß ich in dieses Schaf Gottes verliebt bin, dann irrst du dich gewaltig«, sagte er. »Komm her, ich will dir etwas gestehen, und das mußt du mir glauben. Es gibt einen Mann, den ich mehr hasse als alle anderen Menschen auf der Welt. Und dieser Mann ist Audrey Bedfords Vater.«

»Sie heißt gar nicht Bedford!«

»Du hast recht. Sie heißt Torrington. Dan Torrington und ich sind alte Feinde. Ich habe eine lange Rechnung und bin noch durchaus nicht damit fertig.«

»Ihr Vater ist ein Sträfling«, erwiderte Dora finster.

»Ja, er sitzt in lebenslänglicher Haft in Kapstadt. Wenn ich eine bessere Büchse gehabt hätte, wäre er ein toter Mann gewesen. Aber er hatte Glück: ich traf ihn nur ins Bein und schoß ihn lahm. Wenn die Detektive ihn nicht in demselben Augenblick gefaßt hätten, wäre es wohl mit mir aus gewesen.«

»Du hast ihn verhaften lassen?« rief sie.

»Ja. Ich leitete den Geheimdienst für die Streams Diamond Corporation und entdeckte, daß Dan Torrington einen kleinen, unerlaubten Diamantenhandel betrieb. Ich stellte ihm eine Falle. Das ist die ganze Geschichte. Nur wurde er noch strenger bestraft, weil er auf mich geschossen hatte.«

Doras Zorn war verflogen.

»Ist das wirklich wahr, Lacy?« fragte sie. »Aber wie kannst du dich denn dadurch an Torrington rächen, daß du eine Liebschaft mit diesem Mädchen unterhältst?«

»Ich wollte sie heiraten.«

»Heiraten!« stieß sie atemlos hervor. »Du sagtest doch, daß du niemals heiraten würdest!«

Er zog sie neben sich auf das Sofa und versuchte sie zu beruhigen.

»Die Sache liegt so. Als Torrington damals Diamanten von den Eingeborenen kaufte, besaß er die Farm Graspan. Nun gibt es tausend Graspans in Südafrika, aber dieses Graspan lag an einem der Flüsse, nach denen Fourteen Streams genannt wurde. Er war kaum zur Zwangsarbeit weggeschickt worden, als auf seiner Farm Diamanten entdeckt wurden. Das habe ich erst kürzlich erfahren, weil die Mine unter dem Namen seiner Rechtsanwälte Hallam E Coold betrieben wurde und noch heute Hallam E Coold Mine heißt. Dan Torrington ist also Millionär, und zwar ein sterbender Millionär. Seit ich wieder in England bin, bekomme ich von einem der Gefängniswärter regelmäßig Berichte über den Mann, und das letztemal schrieb er, es ginge mit ihm zu Ende.«

»Und wenn du Audrey heiratest –«

Er lachte.

»Ganz recht! Dann bin ich ein steinreicher Mann!«

»Aber das bist du doch jetzt schon!«

Sein Gesicht verfinsterte sich.

»Ja, ich bin reich«, sagte er hart, »aber ich will noch reicher werden.«

Es klopfte.

»Wer ist da?« rief er gereizt.

»Ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Er sagt, es wäre dringend.«

»Ich kann jetzt niemand empfangen. Wer ist es denn?«

»Captain Shannon.«

Dora sah ihn entsetzt an.

»Er darf mich nicht sehen«, flüsterte sie. »Wo soll ich hin?«

»Durch den Wintergarten und über den Hof!« erwiderte Marshalt ärgerlich.

Er hatte sie kaum in die dunkle Bibliothek geschoben und die Tür hinter ihr geschlossen, als Dick Shannon eintrat. Er war im Frack, und sein Gesichtsausdruck verriet seine Stimmung.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Marshalt.«

»Mr. Marshalt«, brummte der Millionär, der nichts Gutes ahnte.

»Sie hatten heute abend eine Dame eingeladen.«

»Vielleicht hat sie sich selbst eingeladen?«

»Sie luden sie ein und beleidigten sie in der gröblichsten Weise.«

»Mein Lieber, Sie sind doch ein Weltmann. Glauben Sie etwa, daß dieses Mädchen zu mir kam, ohne – nun, sagen wir einmal, ohne gewisse Möglichkeiten ins Auge zu fassen?«

Eine Sekunde lang starrte Dick Shannon den Mann drohend an, dann schlug er ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, so daß er mit einem Aufschrei zurücktaumelte.

»Das ist eine Lüge, die Sie nicht wiederholen werden«, sagte Dick leise.

»Und Sie nennen sich einen Polizeibeamten – gehört ein solches Benehmen vielleicht auch zu Ihren Amtspflichten?« schrie ihn Marshalt an.

»Ich kenne meine Pflichten sehr gut«, erwiderte Shannon streng. »An der Außenwand von Old Bailey ist eingegraben: ›Schützt die Kinder der Armen und straft die Übeltäter.‹«

14

Dick Shannon war etwas ruhiger geworden, als er das Marshaltsche Haus verließ. Rein mechanisch warf er einen Blick auf das Nebengebäude, das er beobachtet hatte, als Audrey herausstürzte und ihm geradenwegs in die Arme lief. Die Fassade war vorhin dunkel gewesen, aber jetzt erblickte er Licht in einem der Fenster. Als er aber näherkam, erlosch es wieder. Er klopfte an die Tür und glaubte, eine leise Bewegung in der Halle zu vernehmen. Würde der geheimnisvolle Mann doch endlich herauskommen?

Fast zehn Minuten wartete er, bevor er seinen Wachtposten verließ. Er wollte Audrey noch sprechen und sich ihre Geschichte genauer erzählen lassen, die sie ihm vorhin nur abgerissen und zusammenhanglos mitgeteilt hatte. Vergeblich hielt er nach einem vorüberfahrenden Auto Ausschau und wandte sich schließlich um. Aber plötzlich blieb er wieder stehen. Bildete er es sich nur ein, daß eine dunkle Gestalt aus dem rätselhaften Haus herausschlüpfte und mit sonderbarem, etwas hinkendem Gang davoneilte? Sofort nahm er die Verfolgung auf und stellte den Mann an der Ecke der Orchard Street.

»Verzeihen Sie!«

Der Fremde kehrte ihm das schmale, strenge Gesicht zu. Durch die Gläser einer goldenen Brille musterten zwei forschende Augen den Detektiv, und unwillkürlich glitt seine Rechte in die Manteltasche.

»Sie sind ein Bekannter von Mr. Malpas, nicht wahr? Ich sah Sie aus seinem Haus herauskommen.«

»Nein, ich kenne Mr. Malpas nicht. Ich bin ganz fremd in London und wollte nach Oxford Circus.«

»Aber ich habe Sie vor zwei Minuten noch nicht auf dem Platz gesehen.«

Der Mann lächelte.

»Das liegt daran, daß ich von dieser Seite kam und umkehrte, als ich merkte, daß ich fehlgegangen war.«

»Wohnen Sie hier in London?«

»Ja, im Ritz-Carlton. Ich bin Präsident einer Südafrikanischen Minengesellschaft. Verzeihung, es ist wohl eigentlich töricht von mir, einem zufälligen Bekannten diese Auskunft zu geben, aber Sie sind doch Captain Richard Shannon?«

Dick war starr vor Staunen.

»Ich entsinne mich nicht, Mr. –«

»Mein Name kann Sie unmöglich interessieren. Mein Paß lautet auf den Namen Brown. Näheres können Sie im Kolonialamt erfahren. Nein, wir haben uns noch nicht getroffen, aber ich kenne Sie.«

Dick mußte trotz seiner Enttäuschung lachen.

»Gestatten Sie mir, Ihnen den Weg zu zeigen? Eine Autodroschke dürfte zu empfehlen sein. Ich will nach der Regent Street und werde mitfahren.«

Der Fremde neigte höflich den Kopf. Gleich darauf kam ein leeres Taxi vorüber und wurde angehalten.

Dick hatte ihn im Schein der Straßenlaterne genau betrachtet. Etwas Abschreckendes hatte der Mann nicht an sich. Sein dichtes Haar war weiß, die Schultern leicht gebeugt, und obwohl seine mageren, knorrigen Hände abgearbeitet waren, machte er doch entschieden den Eindruck eines Gentlemans.

An der Ecke des Circus hielt das Auto, und der alte Herr stieg mühsam aus.

»Ein armer Krüppel!« bemerkte er gutmütig. »Haben Sie vielen Dank; Captain Shannon.«

Dick beobachtete ihn noch, während der Mann auf die Untergrundbahn zuhinkte.

»Ich möchte nur wissen –!« murmelte er vor sich hin.

*

Audrey erwartete ihn in der Halle des Palace-Hotels, und alle Spuren von Kummer waren aus ihrem Gesicht verschwunden.

Sie wollte nicht auf ihr trauriges Erlebnis zurückkommen, aber er bestand darauf.

»Der Kerl ist ein Schuft!« sagte er dann. »Audrey, vom Portman Square müssen Sie sich fernhalten.«

»Audrey?« wiederholte sie lächelnd. »Nun, ich mache mir nichts daraus, obgleich ich fühle, daß ich etwas erwachsener sein müßte. In Holloway nannten sie mich ›83‹ oder einfach ›Bedford‹. Ich glaube, daß mir ›Audrey‹ besser gefällt – bei Leuten, die nicht dazu neigen, meine Hand festzuhalten und sentimental zu werden.«

Er gab sich große Mühe, ärgerlich zu werden, aber es gelang ihm nicht.

»Ich werde Sie Audrey nennen, und wenn ich sentimental werden sollte, so sagen Sie nur ›Geschäft‹, dann bin ich gleich wieder brav. Und Portman Square geben Sie auf.«

 

»Sie meinen Mr. Malpas?« fragte sie schnell.

Er nickte.

»Ich weiß nicht, wieviel Sie von seinem Geld ausgegeben haben –«

»Sechzig Pfund.«

»Die werde ich Ihnen geben, und dann können Sie ihm das Geld zurückschicken.«

Er spürte ihr Widerstreben.

»Nein, das geht nicht, Mr. Shannon«, erwiderte sie rasch. »Ich muß die Sache selbst ordnen. Wenn ich am Sonnabend hingehe, werde ich ihn bitten, mir die Höhe des Gehaltes zu nennen, und ihm dann ganz offen sagen, wieviel ich verbraucht habe. Das Übrige gebe ich zurück. Wenn ich die Unterredung hinter mir habe –«

»Sie darf nicht lang dauern«, warf er ein. »Sonst komme ich in sein gruseliges Wohnzimmer hineinspaziert –«

Als sie später in ihrem Zimmer war und sich auskleidete, entdeckte sie auf dem Toilettentisch ein Briefchen. Die kritzlige Handschrift war ihr wohlbekannt, und sie riß den Umschlag auf. Er enthielt nur einen Zettel mit wenigen Zeilen:

»Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Entkommen. Sie hätten sich des Messers bedienen sollen.«

Der Atem verging ihr fast. Wie konnte Malpas wissen, was hinter verschlossenen Türen in Marshalts Privatzimmer vorgegangen war? ...

Dick Shannon kehrte zu Fuß nach seiner Wohnung zurück und wollte eben ins Haus gehen, als er seinen Begleiter von vorhin am Rand des Gehsteigs stehen sah. Er trat auf ihn zu.

»Haben Sie sich wieder verirrt, Mr. Brown?«

»O nein«, erwiderte der alte Herr gelassen. »Aber nachdem wir uns getrennt hatten, fiel mir ein, daß ich gern ein wenig mit Ihnen gesprochen hätte.«

»Bitte, treten Sie näher.«

Dick führte ihn in sein Arbeitszimmer und schob einen Lehnsessel für ihn zurecht.

»Stehen und Gehen ist etwas schmerzhaft für mich«, meinte Brown, als er sich mit einem Seufzer niederließ. »Danke sehr, Mr. Shannon. Was wissen Sie eigentlich über Malpas?«

Fast bestürzt schaute ihn der Detektiv an.

»Wahrscheinlich weniger als Sie«, entgegnete er zögernd.

»Ich weiß nur, daß er sehr zurückgezogen lebt, sich nicht in die Angelegenheiten seiner Nächsten mischt und auch keine Einmischung ihrerseits wünscht.«

War das eine Herausforderung? Dick war sich nicht klar darüber.

»Wir wissen nur, daß seltsame Leute ihn besuchen.«

»Wer bekommt keine solchen Besuche? Spricht das gegen ihn?«

»Durchaus nicht. Aber alleinlebende, ältere Herren geben uns immer zu denken. Es kann jeden Tag die Notwendigkeit an uns herantreten, uns Eintritt zu erzwingen und dann eine Leiche vorzufinden. Weshalb nehmen Sie denn an, daß ich etwas über Malpas weiß?«

»Weil Sie das Haus beobachteten, bevor die junge Dame aus Marshalts Haus herauskam und Ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Um die Wahrheit zu sagen, ich beobachtete den Beobachter und dachte darüber nach, was Sie wohl gegen Malpas hätten. Übrigens – was ist denn dem Mädchen zugestoßen? Marshalt hatte früher einen schlechten Ruf, und man darf wohl annehmen, daß er sich nicht sonderlich gebessert hat. Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?« Er nahm einen Kiesel aus der Westentasche, an dem ein rotes Siegel klebte.

Dick betrachtete das Stück genau.

»Was ist das?«

»Ein roher Diamant mit dem Merkmal unserer Minengesellschaft. Wir versehen jeden größeren Stein mit einem solchen Kennzeichen und benützen dazu eine besondere Art von Siegellack, die nicht erhitzt zu werden braucht. Ich wüßte gern, ob jemand Ihnen einen Stein dieser Art gebracht hat. Die Polizei pflegt ja in den Besitz der seltsamsten Gegenstände zu kommen.«

»Nein, einen solchen Stein habe ich noch nicht gesehen. Haben Sie einen verloren?«

»Ja, wir vermissen einen. Haben Sie vielleicht einmal von einem gewissen Laker gehört? Nein? Den hätte ich Ihnen gern vorgestellt. Ein interessanter Mensch – leider trank er. Nüchtern war er ein Genie – betrunken ein kolossaler Dummkopf!« Mr. Brown erhob sich. »Der jungen Dame ist doch nichts Ernstliches passiert?«

»Nein – sie hat nur eine sehr unangenehme Erfahrung gemacht.«

»Wer könnte mit Lacy zusammenkommen, ohne unangenehme Erfahrungen zu machen?«

»Sie kennen ihn also?«

Brown nickte.

»Sehr genau?«

»Niemand kennt einen anderen genau«, erwiderte der alte Mann ruhig. »Gute Nacht, Captain! Verzeihen Sie die Störung. Meine Adresse kennen Sie ja. Sollten Sie mich einmal brauchen, so telephonieren Sie bitte vorher. Ich halte mich viel auf dem Lande auf.«

Dick schaute ihm nachdenklich nach. Wer war dieser Mann? Und warum herrschte Feindschaft zwischen ihm und Lacy Marshalt?