Der grüne Bogenschütze

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7

Spike Holland war gerade dabei, den zweiten Artikel über den Mord durch den Bogenschützen auszuarbeiten, als er ans Telephon gerufen wurde. Er berichtete dem Redakteur den Inhalt seines Gesprächs.

»Man ruft mich nach Scotland Yard – sehen Sie mal an, ich werde noch eine bedeutende Persönlichkeit!«

»Sind Sie gewiß, daß eine Frau in die Geschichte verwickelt ist?« fragte der Redakteur und schaute von Spikes Manuskript auf, das er eben prüfte.

»Sicherlich. Zwei Leute haben sie gesehen. Ich habe den Chauffeur gefunden, den sie in der Stadt nahm und dem sie den Auftrag gab, Creagers Wagen zu folgen. Außerdem hat eine Frau, die in der Field Road wohnt, eine Dame beobachtet, die über die Landstraße nach der Rückseite von Creagers Haus zu ging.«

»Und glauben Sie, daß man ihre Persönlichkeit feststellen kann?«

»Nichts ist sicherer in der Welt,« sagte Spike optimistisch. »Es ist nur die Frage, ob man dem Chauffeur die Gelegenheit geben kann, sie wiederzusehen.«

Zehn Minuten später war er in Scotland Yard.

»Der Chef des Bureau H wünscht Sie zu sprechen,« sagte der Sergeant, der an dem Eingangstor Wache hielt.

»Ich kenne das Bureau H noch nicht,« erwiderte Spike, »aber führen Sie mich nur hin.«

Ein Polizist brachte ihn in ein Zimmer, das nach Größe und Ausstattung scheinbar einem sehr hohen Beamten gehörte. Ein jüngerer Mann schrieb eifrig an seinem Pult, schaute aber auf, als der Besucher eintrat.

»Alle Wetter,« rief Spike erstaunt, »ich habe Sie doch irgendwo schon mal vorher gesehen!«

»Ich glaube nicht, daß wir uns schon einmal getroffen haben,« sagte der Beamte lächelnd, erhob sich und schob Holland einen Sessel hin. »Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Holland. Ich bin Polizeidirektor Featherstone. Im allgemeinen bin ich für das Publikum nicht zu sprechen, aber in Ihrem Fall mache ich eine Ausnahme, weil mir Ihr Gesicht sympathisch ist. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir noch ein anderes Kompliment machten, etwas über meine schönen roten Haare.«

Jim Featherstone lachte.

»Also nun im Ernst. Ich will Ihnen sagen, warum ich Sie herbemüht habe. Ich weiß, daß Sie einen Chauffeur ausfindig machten, der eine Dame bis zum Ende der Field Road brachte, die man später nach Creagers Haus gehen sah.« Er lächelte, als der andere höchst erstaunt war. »Es ist kein Geheimnis dabei, denn die Polizei kontrolliert an sich alle Chauffeure. Der Mann fühlte sich nicht recht wohl, weil Sie ihn so scharf ausgefragt haben, und berichtete der Polizei, daß er die Dame dorthin gebracht hätte.«

»Haben die anderen Zeitungen das auch erfahren?« fragte Spike, unangenehm berührt.

»Keins der anderen Blätter hat die Nachricht bekommen oder wird sie bekommen,« sagte Featherstone ruhig, »nicht einmal Ihre Zeitung, der ›Daily Globe‹.«

»Aber wir haben die Sache doch herausgebracht,« sagte Spike.

»Aber ich möchte Sie gerade deswegen ersuchen, keinen Gebrauch davon zu machen. Deshalb habe ich Sie kommen lassen. Es ist wirklich nichts daran. Ich kenne die Dame persönlich, und all ihre Schritte sind zur Genüge aufgeklärt. Ich sehe wohl, daß Sie sehr enttäuscht hierüber sind, weil eine gute Mordgeschichte ohne eine verschleierte und geheimnisvolle Dame vom Standpunkt des Zeitungsberichterstatters aus keine richtige Mordgeschichte ist.«

Spike grinste.

»Es ist alles in Ordnung, wenn Sie mich nur deswegen gerufen haben,« sagte er. »Die Geschichte muß aber in unserer Zeitung herauskommen.«

»Ich will Ihnen ein oder zwei Tatsachen mitteilen, aus denen Sie weitere Schlüsse ziehen und die Sie dafür einsetzen können,« entgegnete Mr. Featherstone und spielte mit einem silbernen Brieföffner. »Der Mann, der Creager ermordete, hat rote Narben quer über die Schultern.«

»Ist das eine Ihrer Vermutungen?« fragte Spike erstaunt.

»Nein, das ist eine Tatsache. Ich werde Ihnen noch eine andere Angabe machen. Der Mörder hat entweder einen sehr starken Spazierstock oder ein Bündel Golfstöcke getragen. Ich persönlich neige mehr zu der Ansicht, daß es Golfstöcke waren, weil keine Viertelmeile von dem Tatort entfernt ein freier Platz liegt. Ich gebe ja zu, daß ich noch nicht genau weiß, ob diese Mitteilungen für Sie von irgendwelchem Wert sind, aber vielleicht sparen Sie diese Hinweise für sich persönlich auf, bis der Mörder gefangen ist und Sie darüber berichten.«

»Gibt es denn irgendwelche definitiven Anhaltspunkte, durch die das Verbrechen aufgeklärt werden könnte?«

Jim Featherstone schüttelte den Kopf.

»Keine – das heißt keine, die reif sind für die Veröffentlichung, weil sie nämlich wahr sind. Ich will nicht ironisch sein, Holland, aber Sie wissen vielleicht, daß wir nur dann Indizien öffentlich bekanntgeben, wenn wir einen Verbrecher erschüttern und ihn dazu bringen wollen zu fliehen. Es ist das letzte Hilfsmittel, das die Polizei anwendet, um einen Übeltäter dahin zu bringen, sich selbst dadurch zu verraten, daß er seine gewöhnliche Umgebung verläßt und sich versteckt. Es sind mehr Leute durch ihr verdächtiges Fernsein als durch hinterlassene Fingerabdrücke gefangen worden. Aber der Mann, hinter dem wir jetzt her sind, ist kein gewöhnlicher Verbrecher.«

»Was hat das eigentlich mit der Narbe auf dem Rücken zu bedeuten?« fragte Spike neugierig. Er erwartete keine Antwort auf seine Frage, aber zu seinem größten Erstaunen gab ihm Featherstone eine Erklärung.

»Ich weiß nicht, wie lange Sie schon in diesem Lande sind oder wieweit Ihre Kenntnisse der Gerichtsstrafen in England reichen. Für gewisse Verbrechen wird bei uns die Prügelstrafe angewandt. Manche Menschen denken, das sei brutal – und das mag ja vom rein menschlichen Standpunkt aus auch stimmen. So ist das Aufhängen sicherlich nicht sehr human. Wir haben aber erreicht, daß gewisse Arten von Verbrechen vollständig verschwunden sind. Wenn ein paar Straßendiebe einen Bürger auf der Straße überfallen und ihn berauben, kann sie der Richter zu je fünfunddreißig Schlägen verurteilen. Infolge dieser Maßnahme sind Raubüberfälle überhaupt nicht mehr vorgekommen. Oder wenn einem Menschen nachgewiesen wird, daß er gewohnheitsmäßig von der Erpressung von Straßendirnen lebt, dann wird er zur Prügelstrafe verurteilt, und dadurch ist das Zuhältertum sehr stark eingeschränkt worden. Die Prügelstrafe steht auch noch auf andere Vergehen, zum Beispiel auf tätlichen Angriff auf Gefangenenwärter. Wir nennen die Peitsche die ›neunschwänzige Katze‹. Creager brachte im Pentonville-Gefängnis sieben Jahre lang die Prügelstrafe zur Anwendung. Das ist ein sehr unangenehmes Amt, das außerordentlich starke Nerven und viel Geschicklichkeit erfordert, denn dem Gesetz nach darf die Peitsche nicht über oder unterhalb der Schultern den Körper treffen, weil die Schläge leicht den Tod zur Folge haben, wenn sie über den Hals gehen. Die meisten Verbrecher nehmen ihre Strafe hin und fühlen keine Rachegedanken gegen den Beamten, der diese Strafe vollzieht. Aber es gibt andere, die das niemals vergeben, und ich habe mir selbst die Theorie gebildet, daß der Mörder ein Mann war, den Creager einst geschlagen hat, und der nur eine Gelegenheit zur Rache abwartete.«

»Und was wollten Sie mit dem dicken Spazierstock oder dem Bündel Golfstöcke sagen?« fragte Spike.

»Creager wurde von einem Pfeil getötet, der von einem sehr starken Bogen abgeschossen wurde. Dieser Bogen war wahrscheinlich aus allerfeinstem Stahl hergestellt. Sie können aber nicht mit Bogen und Pfeil in der Hand durch London gehen, ohne die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Deshalb meine ich, daß die Waffe vielleicht in einem hohlen Spazierstock oder in einem Bündel Golfstöcke verborgen war.«

Spike kehrte zu seinem Bureau zurück und hatte das Gefühl, daß seiner Geschichte die Pointe genommen war.

»Wir müssen die Frau aus der Geschichte lassen, Mr. Syme,« sagte er. »Die Polizei hat alles über sie aufgeklärt, die ganze Sache hat nichts auf sich.«

»Ich mißtraue immer solchen geheimnisvollen Frauen,« beklagte sich der phantasielose Redakteur. »Aber hier ist ein Telegramm für Sie angekommen.« Er wandte sich um, nahm ein versiegeltes Formular aus dem Regal und reichte es seinem Angestellten hinüber. Spike öffnete es und las.

»Glauben Sie, daß Bellamy meinen Plan durch eine Schenkung unterstützen würde? Halten Sie ihn für einen Kinderfreund?«

Spike ließ sich auf einen Stuhl fallen und lachte, bis ihm die Tränen in die Augen kamen.

»Was hat denn nun schon wieder dieser hysterische Anfall zu bedeuten?« fragte Mr. Syme vorwurfsvoll.

8

Valerie Howett war vollständig verzweifelt.

»Aber meine liebe Val,« sagte ihr Vater, nachdem er ihre Vorwürfe über sich hatte ergehen lassen, »ich mußte doch so handeln. Du bist mir mehr wert als sonst irgend etwas auf der Welt, und ich konnte nicht die Verantwortung auf mich nehmen, dich ohne Schutz zu lassen.«

»Aber warum hast du mir denn nicht gesagt, daß er ein Detektiv ist?«

Das düstere Gesicht Walter Howetts erheiterte sich zu einem Lächeln.

»Er hat mich die ganze Zeit beobachtet und ist mir überallhin gefolgt, wenn ich dachte, ich sei allein. Ich glaubte sicher, es sei einer von diesen nutzlosen jungen Leuten, denen man überall begegnet.«

»Er ist schon dreißig Jahre alt,« sagte Howett, »und er ist wirklich ein guter Mensch. Ich kannte seinen Vater, er war Attaché bei unserer Gesandtschaft in Washington. Du solltest dich nicht darüber kränken, Val, denn er hat seinen zweimonatigen Urlaub geopfert, um mir zu helfen. Ich dachte, du wärest nach dieser Zeit deiner Nachforschungen vielleicht müde und würdest froh sein, nach Hause zu kommen.«

 

Sie erwiderte nichts, obwohl er auf eine Antwort wartete.

»Wie hast du denn herausgebracht, daß er zur Polizeidirektion gehört?«

»Er hat es mir selbst gesagt,« entgegnete sie kurz, und er fragte nicht weiter.

»Hoffentlich bedeutet das nicht, daß er nicht mehr zu uns kommt. Ich bin beruhigter, wenn er in der Nähe ist.«

»Er will morgen abend zum Essen kommen,« sagte sie vorwurfsvoll. »Aber es ist ein unausstehliches Gefühl, wenn man weiß, daß man dauernd beobachtet wird.«

Aber ihre Abneigung gegen jede Überwachung hielt sie doch nicht davon ab, daß sie Jim Featherstone bei seinem Versprechen hielt. An dem Tage, als ihr Vater nach Schottland fuhr, machte er ihr seinen Besuch und holte sie ab. Aber er begleitete sie nur fünf Minuten lang. Bei dem großen Marmorbogen im Hyde Park ließ sie den Wagen halten und öffnete die Tür in nicht mißzuverstehender Weise.

»Hier soll ich also wohl aussteigen?« fragte er lächelnd.

Sie fand, daß er außerordentlich vorteilhaft aussah und konnte kaum glauben, daß er bereits die Dreißig erreicht habe.

»Ich will Sie auch gar nicht fragen, wohin Sie gehen oder welche wilden Abenteuer Sie vorhaben,« sagte er, als er neben ihrem Wagen stand. Seine Hand lag noch auf dem Türgriff.

Valerie lächelte.

»Ist es denn überhaupt notwendig zu fragen, wenn Sie aller Wahrscheinlichkeit nach zwei Polizeibeamte mit Motorrädern hinter mir herfahren lassen?«

»Nein – auf mein Ehrenwort, ich vertraue Ihnen, daß Sie heute nichts tun werden, was mich in Verlegenheit bringen könnte. Als Ihr offizieller Schutzengel habe ich natürlich ein großes Interesse an Ihrem Schicksal. Ich werde um acht Uhr im Carlton-Hotel vorsprechen, und wenn Sie bis dahin nicht zurückgekommen sind, werde ich eine dringende Anfrage an alle Polizeistationen Englands senden.«

Sie drehte sich noch einmal um, nachdem der Wagen abgefahren war, und sah, daß er ihr nachschaute.

Er wartete, bis das Auto außer Sicht gekommen war, dann wandte er sich um und ging durch den Park zurück. Trotz der späten Jahreszeit war es ein warmer Tag, und auf den breiten Wegen bewegte sich eine bunte Menschenmenge.

Seine Gedanken waren mehr mit dem Problem von Valerie Howett als mit der Aufklärung des Mordes beschäftigt, der an diesem Tag das Hauptgesprächthema Londons war. Trotzdem er alle Zusammenhänge zu verstehen glaubte, war ihm doch die Anwesenheit Valeries in Creagers Pflanzung äußerst unangenehm.

In Wirklichkeit hatte er sie überhaupt nicht dort gesehen, er hatte sie nur bemerkt, als sie hineinging, und als sie wieder herauskam. Alles, was sie in der Zeit zwischen drei Uhr nachmittags und acht Uhr abends getan hatte, als sie aus ihrem Versteck wieder herauskam, wußte er nicht. Er hoffte, daß sie ihm alles erzählen würde, wenn er sie mit der Mitteilung überraschte, daß er sie beobachtet hatte. Auch glaubte er, daß seine amtliche Stellung, die er ihr verriet, Eindruck auf sie machen würde. Aber statt dessen war sie nur noch verschlossener geworden.

Er wußte von Howett, daß sie jemand suchte. Wer diese Persönlichkeit war und unter welchen Umständen sie verschwand, war ihm noch ebenso unklar wie früher. Er hatte zwei Monate fieberhafter Tätigkeit hinter sich, während der er diese schöne junge Dame beobachtet hatte. Ihr rastloser Forschungstrieb hatte sie manchen Weg geführt, dessen Gefahren sie nicht ahnte. Wer war diese Mrs. Held und weshalb suchte Valerie sie?

Er kannte Mr. Howett genau und war ihm sowohl diesseits wie jenseits des Atlantischen Ozeans begegnet. Er war Witwer und aus seiner Ehe war nur ein Kind hervorgegangen. Hätte Valerie eine Schwester gehabt, dann wären diese Nachforschungen etwas Selbstverständliches gewesen. Aber wer konnte denn Valerie Howett so wichtig sein, daß sie das Geld mit offenen Händen ausgab und diese gefährlichen Streifzüge wagte, die selbst ihm einen Schauder einjagten, wenn er daran dachte. Es konnte keine gewöhnliche Freundin sein, und es wäre alles verständlicher gewesen, wenn es sich um einen Mann gehandelt hätte.

Er überlegte sich dieses Problem immer wieder, aber er kam keinen Schritt weiter. Unerwartet sah er plötzlich eine alte Freundin, und sofort waren alle Gedanken an Valerie verschwunden. Er ging mit schnellen Schritten quer über den Rasen und trat auf eine elegant gekleidete Dame zu, die langsam spazieren ging und einen kleinen Hund an der Leine führte. In ihrer äußeren Erscheinung glich sie vollkommen den vornehmen Damen, die in einer Straße in der Nähe des Parks wohnten.

»Ich dachte schon, ich hätte mich geirrt,« sagte Jim liebenswürdig. »Wie geht es Ihnen, Fay?«

Sie schaute ihn verständnislos an und hob ihre sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen.

»Ich fürchte, daß ich nicht den Vorzug Ihrer Bekanntschaft habe,« sagte sie kühl und sah sich um, als ob sie einen Polizisten suchte.

Jim Featherstone amüsierte sich so sehr über sie, daß er zuerst nicht sprechen konnte, weil er sonst laut hätte lachen müssen.

»Fay, Fay,« sagte er vorwurfsvoll. »Steigen Sie doch von Ihrem hohen Postament herunter und seien Sie menschlich. Wie geht es denn all den guten Leuten Ihrer vornehmen Bekanntschaft? Jerry ist, soviel ich weiß, noch im Gefängnis, und die übrigen verbergen sich in Paris, nicht wahr?«

Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Mein Gott, Featherstone! Es ist wirklich schlimm, daß eine Dame nicht einmal mit ihrem Hündchen ein wenig spazieren gehen kann, ohne von einem Oberspitzel angepöbelt zu werden!«

»Ihre vulgäre Ausdrucksweise ist wirklich schlimm,« erwiderte Featherstone in guter Laune. »Ich hörte jüngst eine Neuigkeit von Ihnen, die mich sehr in Erstaunen setzte.«

Sie schaute ihn an. Argwohn und Mißfallen sprachen aus ihrem Blick.

»Was haben Sie denn gehört?«

»Man erzählte mir, Sie hatten sich verheiratet und sich kirchlich und zivil trauen lassen. Wer ist denn der glückliche Mann?«

»Sie träumen,« sagte sie verächtlich. »Die Beamten von Scotland Yard glauben nur zu gern alles Böse von anderen Leuten. Nein, ich bin nicht verheiratet, Featherstone, obgleich ich nicht weiß, was passieren würde, wenn Sie mich so sehr in die Enge treiben. Ich habe immer eine Schwäche für Ihren Typ gehabt. Ich liebe diese Leute besonders, sie sind nicht so schlau wie die häßlichen.«

Sie schaute ihn unter dunklen Augenlidern verheißungsvoll an.

»Was sagen Sie dazu, Featherstone?« meinte sie halb spöttisch.

»Ich möchte Sie nicht gern enttäuschen, Fay, aber ich müßte doch erst meine Familie um Rat fragen. Aber im Ernst, wer ist denn der glückliche Mann?«

»Es gibt wirklich niemand auf der Welt, der gut genug für mich ist. Ich bin schon seit langem zu diesem Schluß gekommen.«

Sie gingen langsam zusammen weiter. Für alle Leute war er ein eleganter Herr und sie eine Dame aus den besten Ständen, die sich angenehm miteinander unterhielten.

»Wie geht es denn diesem Mischling, dem Sekretär des alten Bellamy?« fragte er obenhin. Sie wurde rot.

»Woher haben Sie denn den Ausdruck ›Mischling‹?« fragte sie scharf und aggressiv. »Wenn Sie damit Mr. Savini meinen, der zufällig mein Freund ist, so möchte ich Ihnen doch sagen, daß er aus einer sehr guten ›alten‹, portugiesischen Familie stammt. Vergessen Sie das nicht, Featherstone! Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich dazu komme, mich mit einem Polizeibeamten in der Öffentlichkeit zu zeigen.«

»Tut mir leid,« murmelte Featherstone. »Ich hätte mich natürlich auch daran erinnern sollen, daß man einen Eurasier niemals einen Mischling nennt. Nebenbei bemerkt, fängt er an, sich jetzt ganz ehrenhaft zu benehmen, wie ich gehört habe?«

Die gereizte junge Dame wandte sich jetzt plötzlich zu ihm. Ihre Augen blitzten wütend auf.

»Mr. Featherstone,« sagte sie hitzig, »ich habe keine Lust, weiter zuzuhören, wie Sie über meinen Freund sprechen. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie jetzt Ihrer Wege gingen.«

Jim Featherstone sah sie nachdenklich an.

»Man sollte doch wirklich glauben, daß Sie mit dem netten Julius verheiratet wären. Wenn das tatsächlich der Fall ist, so darf ich wohl meinen herzlichen Glückwunsch aussprechen.«

Aber sie hatte sich schon umgedreht, bevor er den Satz beendet hatte. Sie ging zornig fort und schleifte das widerstrebende Pekinghündchen hinter sich her.

Zum zweitenmal in den letzten zehn Minuten wandte sich Jim Featherstone um und sah gedankenvoll hinter einer Frau her.

Später ging er ins Carlton-Hotel, um die Bekanntschaft mit dem Freund Fay Claytons zu erneuern, aber Julius hatte das Hotel bereits mit seinem Herrn verlassen und sich nach Garre Castle begeben.

9

Man konnte dem alten Turm und den zinnbekrönten Mauern von Garre Castle von außen nicht ansehen, daß es innen so luxuriös und prachtvoll eingerichtet war. Äußerlich sah es düster und abschreckend aus und nie fiel ein Lichtschein durch die Schießscharten der Mauern und Türme. Die Doppelfenster von Mr. Bellamys Bibliothek führten auf die grüne Rasenfläche des inneren Hofes, und über diesen Fenstern erhob sich die Wand der Burgkapelle. Stark, unzerstörbar ragte sie schier endlos zum Himmel empor.

Viele Leute wunderten sich, warum Bellamy, der niemals ein Buch las und auf den geschichtliche Tradition keinen Eindruck machte, für eine so hohe Summe diese Burg gekauft hatte, die einst das Heim mächtiger Ritter gewesen war. Hätte man ihn aber genauer gekannt, so wäre es verständlich gewesen. Denn es war die Stärke der Mauern, die diesem alten Bauunternehmer Bewunderung abnötigte.

Es lebte etwas in diesen starken, trotzigen Steinmauern, das mit der grausamen Wildheit seiner Natur übereinstimmte. Die düsteren Kerkerzellen mit ihren fußdicken Türen, die abgenützten Kettenringe, die an Steinpfeilern befestigt und von den Schultern gefolterter Menschen glattgerieben waren, die ganze Macht und Majestät von Garre Castle sprachen zu diesem primitiven Menschen und weckten in seiner Seele atavistische, teuflische Vorstellungen. Er weidete sich daran, wenn er sich diese längst vergessenen Folterqualen vorstellte. Schon vor zwanzig Jahren hatte die Burg bei seinem ersten Besuch in England einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Später spielte Garre Castle in seinen Plänen eine Rolle und schließlich brauchte er den Platz notwendig. Er kaufte die Burg für eine ungeheure Summe, aber er bereute diesen Kauf niemals.

Er liebte die Burg über alles. Hier war er weniger starrsinnig und konnte bei Gelegenheit sogar menschliche Seiten zeigen. Niemals blieb er eine Nacht außerhalb und selbst wenn er in der Stadt war, so schlief er doch nicht dort. Nur die Dienstboten des Hotels und Julius wußten darum. Wie wichtig das Geschäft auch sein mochte, das ihn nach London gebracht hatte, er kehrte stets abends zur Burg zurück, selbst wenn er deshalb beim nächsten Morgengrauen wieder zurückfahren mußte. Der Aufenthalt in der Burg war seine einzige Erholung. Er konnte ganze Tage damit zubringen, um die starken Mauern herumzugehen, und stundenlang konnte er einen Baustein betrachten. Wer mochte ihn hierher gesetzt haben? Wie war wohl der Name dieses Gesellen? Was mochte er für ein Leben gelebt haben, und was war wohl sein Lohn hierfür? Immer wieder kamen ihm solche Fragen. In jener Zeit kannte man wohl keine Gewerkschaften oder Verbandsorganisationen. Wenn ein Arbeiter frech wurde, setzte man ihn einfach gefangen und hängte ihn auf. Hoch oben von den Mauern der Burgkapelle ragte ein starker, eichener Balken in die Luft. Weiter unten war eine kleine Tür, die sich nach außen öffnete. Durch dieses Loch wurden viele Menschen hinausgestoßen, einen Hanfstrick um den Hals, der oben an dem Galgenbalken befestigt war. So ging man damals mit Arbeitern um, die sich auflehnten. Auch der Grüne Bogenschütze, der das gute Wildbret seines Herrn gestohlen hatte, war an diesem Galgen gestorben. Es geschah ihm ganz recht, dachte Abel Bellamy. Leute, die sich unterstehen zu stehlen, müssen gehängt werden. Das sollte auch heute noch Gesetz sein.

Er saß am Abend vor dem großen Steinkamin in der Bibliothek und schaute nachdenklich in das Holzfeuer, das lebhaft knisterte und sprühte. Es war ein schöner Raum, der mit vielen Kosten ausgestattet war. Holzpaneele zogen sich vom Fußboden bis zur getäfelten Decke über die Wände. Blaue Sammetvorhänge hingen vor den tiefen Nischen der Fenster. Von dem Feuer wanderten Bellamys Blicke zu dem steinernen Wappen mit den springenden Leoparden, das über dem Kamin eingemeißelt war. Im Lauf der Zeit war es verwittert und undeutlich geworden. Aber man konnte noch gut den darunter in Stein eingehauenen Wahlspruch der de Currys lesen:

 

»Recht ist Recht.«

Recht ist Recht! Es war doch töricht, so etwas zu sagen. Ebensogut konnte man auch behaupten: »Schwarz ist Schwarz« oder »Wasser ist naß«.

Es war schon spät, und er war mit seiner Abendbeschäftigung fertig, aber er konnte sich noch nicht von seinem tiefen Armsessel trennen, in dem er sich niedergelassen hatte. Schließlich stand er doch auf, zog den Vorhang zurück, der die Tür bedeckte, und schloß auf. Dann kehrte er zum Kamin zurück und klingelte. Julius Savini erschien auf diesen Ruf.

»Nehmen Sie all diese Briefe vom Tisch, setzen Sie die Antworten auf und legen Sie sie mir morgen vor,« brummte er. »Ich werde den ganzen nächsten Monat hier sein – wenn Sie einmal Urlaub haben wollen, dann sagen Sie es mir besser jetzt.«

»Ich habe am Mittwoch eine Verabredung,« sagte Julius sofort. Der Alte murrte irgend etwas.

»Nun gut, Sie können am Mittwoch gehen.«

Als Savini schon wieder an der Tür war, rief ihn Bellamy noch einmal zurück.

»Savini, Sie fragten mich neulich, ob ich ein Testament gemacht hätte. Damals hatte ich die Vorstellung, daß Sie Ihre Pflicht als mein Privatsekretär täten. Ich habe mir die Sache aber überlegt und bin nun zu der Überzeugung gekommen, daß Sie nicht der Mann sind, der eine solche Frage nicht mit einer bestimmten Absicht verbindet.«

»Ich dachte mir wirklich nichts dabei,« sagte Savini obenhin. »Da ich nun einmal Ihr Privatsekretär bin, muß ich doch etwas von Ihren Angelegenheiten wissen – weiter hatte meine Frage nichts zu bedeuten.«

Der alte Mann sah ihn unter seinen buschigen Augenbrauen an.

»Dann ist es gut,« sagte er grob.

Als Savini sich entfernt hatte, ging er aufgeregt in dem Raum auf und ab. Es war eine Unruhe in ihm, die er nicht begriff und für die er keinen Grund wußte. Er trat zu dem Schreibtisch, nahm einen Schlüssel aus einer inneren Tasche und schloß eine der Schubladen auf. Er tat dies ganz mechanisch, nahm eine Ledermappe heraus und legte sie auf den Tisch.

»Du bist eine Närrin!« sagte Mr. Bellamy ruhig. »Du bist hübsch, aber – verrückt. Du hast nicht den geringsten Verstand.«

Er öffnete die Mappe, nahm die Photographie einer Frau heraus und betrachtete sie. Ihre Kleider sahen altmodisch und sonderbar aus, sie mochten vor etwa zwanzig Jahren modern gewesen sein. Aber ihr Gesicht sah jung und schön aus, und die ruhigen Augen, die ihn anzuschauen schienen, waren von fast überirdischer Schönheit. Abel Bellamy preßte die Lippen aufeinander und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf das Bild. Dann legte er es weg und nahm die zweite Photographie, die einen Mann zwischen dreißig und vierzig darstellte.

»Auch ein Narr, aber du warst ja immer so, Mike.«

Die dritte Photographie war die eines kleinen Kindes. Auf die Rückseite des Blattes war ein Zeitungsausschnitt geklebt.

»Leutnant J. D. Bellamy, Angehöriger der Armee der Vereinigten Staaten. Der oben genannte Offizier wurde bei einem Luftkampf ungefähr am 14. Mai 1918 getötet.«

Er sah sich die Photographie noch einmal an und legte sie wieder in die Ledermappe zurück, als plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er beugte sich näher über den Tisch. Asche – Zigarettenasche! Mr. Bellamy rauchte keine Zigaretten, aber Julius Savini tat es. Bellamy wollte klingeln, aber unterließ es dann doch. Schließlich war es ja sein eigener Fehler. Er kannte den Charakter des Mannes, und wenn er seine Privaturkunden und Dokumente nicht einmal vor den neugierigen Augen eines Schuftes bewahren konnte, so war dies seine eigene Schuld. Bevor er die Bibliothek an diesem Abend verließ, legte er die Ledermappe in den Wandschrank, der hinter dem Eichenpaneel verborgen war, und schloß die Tür. Das tat er jeden Abend. Für den Zeitraum von zwei Stunden konnte dann niemand die Bibliothek betreten.

Julius, der in einem Zimmer auf der anderen Seite der Eingangshalle arbeitete, hatte seine Tür weit offen stehen lassen. Er sah, wie sein Herr herauskam und die Lichtschalter der Bibliothek ausdrehte.

»Sie können zu Bett gehen,« sagte Bellamy mit rauher Stimme.

Das bedeutete in seiner Sprache soviel wie »Gute Nacht«.

Bellamys Schlafzimmer war der einzige Raum, dessen Fenster nach außen gingen. Es war ein großer Raum mit dunklen Paneelen und wenig Möbelstücken. Der einzige Zugang war doppelt gesichert mit einer äußeren starken Eichentür und einer inneren, die nur aus einem leichten, mit altem Leder überzogenen Holzrahmen bestand. Diese war mit einer schmiedeeisernen Klinke versehen, welche Bellamy von seinem Bett mit Hilfe einer seidenen Schnur öffnen konnte. So war es ihm möglich, die Tür während der Nacht geschlossen zu halten und sie am Morgen für den Diener zu öffnen, ohne aus dem Bett zu gehen. Er schloß die äußere Tür sorgfältig mit dem Schlüssel ab, schob den Riegel vor, dann klinkte er auch die Ledertür ein und entkleidete sich beim Licht einer Kerze. Bevor er sich aber zur Ruhe legte, nahm er aus seiner inneren Tasche einen langen, schmalen Schlüssel, den er unter sein Kissen legte. Seit acht Jahren tat er das jeden Abend.

Er war ein Mann von gesundem, aber leichtem Schlaf, und auch an diesem Abend schlief er sofort ein. Drei Stunden später wachte er plötzlich auf. Er zog seine Vorhänge nachts niemals zu. Es war eine mondhelle Nacht mit wolkenlosem Himmel, und obgleich die Strahlen nicht direkt in die Fenster hereinfielen, war das Zimmer doch genügend hell, so daß er alles erkennen konnte. Die Ledertür bewegte sich langsam . . . Zoll für Zoll, geräuschlos, sie öffnete sich immer weiter.

Er wartete, bewegte sich lautlos und griff nach der Pistole, die für solche Zwischenfälle stets unter seinem Kopfkissen bereitlag.

Die Tür stand jetzt ganz weit auf – der Eindringling mußte jeden Augenblick in den Raum treten. Bellamy erhob sich langsam und leise im Bett, stützte den Ellenbogen aufs Knie und zielte nach der Türkante.

So verging eine Minute, aber er konnte weder etwas hören noch sehen. Er schlug die Decke zurück, sprang auf den Boden und eilte mit der Pistole in der Hand durch die Tür.

Der Mond schien durch die Fenster des Ganges und die ganze Halle war hell erleuchtet.

Zuerst sah er nichts, dann schien sich etwas aus dem Schatten in das helle Licht zu bewegen.

Eine große, schlanke, grüne Gestalt mit todblassem Gesicht stand hochaufgerichtet vor ihm und blickte ihn an, einen Bogen in der Hand, mit Ausnahme des bleichen Gesichtes grün von Kopf bis zu Fuß. Eine Sinnestäuschung war ausgeschlossen.

Einen Augenblick starrte der alte Bellamy wie durch einen Zauber festgebannt auf die Erscheinung, aber dann hob er die Pistole und feuerte zweimal.