Raus aus der Mutterfalle

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Raus aus der Mutterfalle
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Das Buch

Beruflich erfolgreich, perfekt im Haushalt, attraktive Partnerin, liebevolle Mutter: Das alles sollten Mütter sein - natürlich gleichzeitig! Kein Wunder, dass sich Selbstzweifel und Schuldgefühle in Form eines permanent schlechten Gewissens einstellen, wenn sie feststellen, dass sie diesem unrealistischen Mutterideal nicht entsprechen.

Dorothee Döring, Mutter zweier Kinder, weiß um die Folgen dieses Perfektionismus und lädt ein zu einer Selbstentdeckungsreise: zum Verstehen alter Verstrickungen, zum Heilen alter Wunden und zu einer neuen, versöhnlichen, mitfühlenden Begegnung - mit den Kindern und vor allem mit sich selbst.

Die Autorin

Dorothee Döring, Kunstlehrerin a. D., Dozentin in der Erwachsenenbildung, Lebens-und Konfliktberaterin, kennt Mutter‐Kind‐Konflikte aus ihren Seminaren, aus ihrer Beratungspraxis sowie aus eigener Erfahrung. Sie hat sich mit zahlreichen Publikationen einen Namen gemacht und ist medial präsent. Dorothee Döring ist verheiratet, hat zwei erwachsene Töchter und vier Enkel. Sie lebt und arbeitet in Kempen am Niederrhein.

www.DorotheeDoering.de

Dorothee Döring

Raus aus der Mutterfalle

Befreiung von Selbstzweifeln

und Schuldgefühlen


Inhaltsverzeichnis

Umschlag

Das Buch / Die Autorin

Titel

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Teil I Mütter zwischen Selbstzweifeln und Schuldgefühlen 1. Der Mythos der „idealen Mutter"

Merkmale der „idealen Mutter"

Die Mutterliebe als wesentliches Merkmal der „idealen Mutter"

2. Übermütter, Rabenmütter und andere

Die Vollzeit-Mutter

Die berufstätige Mutter

Die Freundin-Mutter

Die Chaos-Mutter

Die Helikopter-Mutter

Die Tiger-Mutter

Die eingeschüchterte Mutter

3. Mütter am Pranger Wie sie es machen, ist es verkehrt

Der Vorwurf, das Kind nicht genug geliebt zu haben

Der Vorwurf, das Kind ungerecht behandelt zu haben

Der Vorwurf der Missachtung kindlicher Gefühle und Bedürfnisse

Der Vorwurf, sich nur für sich selbst interessiert zu haben

Der Vorwurf, das Kind wegen zu hoher Leistungs­erwartungen überfordert und für eigene Träume missbraucht zu haben

Der Vorwurf, in der Entwicklung eingeengt worden zu sein

Der Vorwurf mangelnder Einfühlung und fehlenden Verständnisses

Kritik an Lebensentscheidungen und Lebensmodell der Mutter

Der Vorwurf fehlender Grenzen, Disziplin, Ordnung und Struktur

Der Vorwurf, das Kind nicht genug beschützt zu haben

Die Pauschalabwertung der Mutter

4. Die Folgen ständiger Vorwürfe

Selbstvorwürfe - Schuldgefühle- ein chronisch schlechtes Gewissen

Verlust des Selbstwertgefühls - Beschädigung des Selbstbildes - Selbstabwertung

Überforderung als Folge verstärkten Einsatzes

Teil II Wege aus der Mutterfalle 1. Der Umgang mit Vorwürfen

Der Vorwurf, das Kind nicht genug geliebt zu haben

Der Vorwurf, nicht genug gelobt und ermutigt worden zu sein

Der Vorwurf, das Kind nicht genug beschützt zu haben

Der Vorwurf, sich nur für sich selbst interessiert zu haben

Kritik an Lebensentscheidungen der Mutter

Pauschale Vorwürfe

Zusammenfassung: Umgang mit Vorwürfen

2. Selbsteinschätzung und Selbstbewusstsein

Ursachenforschung - was habe ich falsch gemacht?

Strategien zur Verbesserung von Selbstbild und Selbstbewusstsein

Befreiung von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen

Die Kunst, sich selbst zu lieben - Der wertschätzende Umgang mit sich selbst

3. Verstehen, versöhnen und verzeihen

Wodurch wir wurden, was wir sind - Prägungen entschlüsseln und verstehen

Selbstanalyse - Was würde ich heute anders machen?

Versöhnung mit sich selbst

Versöhnung mit den Kindern

Was Mütter für eine gute Beziehung zu ihren Kindern tun können

4. Zusammenfassung

Quellen

Impressum

Einführung

Auch wenn Sie als Mutter immer nur das Beste geben wollten, kann es Ihnen passieren, mit Vorwürfen und Anklagen überhäuft zu werden. Bekannte und Verwandte messen Sie am gerade aktuellen Mythos der „idealen Mutter", ob Sie z. B. berufstätig sein dürften oder nicht, ihre Kinder versuchen Sie mit Vorwürfen zu einem bestimmten Verhalten zu manipulieren, und wenn sie erwachsen sind, werfen sie Ihnen vor, dass Sie z. B. schuld daran sind, dass sie nicht oder das Verkehrte studiert haben.

Unter dem Dauerbeschuss von Vorwürfen, knicken viele Mütter ein, besonders, wenn sie über ein geringes Selbstbewusstsein verfügen. Schließlich verinnerlichen sie, was ihnen vorgeworfen wird und sitzen damit in der „Mutterfalle".

Diese Zusammenhänge werden im Teil I Mütter zwischen Selbstzweifeln und Schuldgefühlen beschrieben.

Im Teil II Wege aus der Mutterfalle beschreibe ich eine Strategie, um aus dieser „psychischen Falle" herauszukommen.

Der erste Schritt ist die kühle und distanzierte Analyse der Kritik, die Außenwelt und Kinder erheben, mit dem Ziel, berechtigte von unberechtigten Vorwürfen zu unterscheiden. Der zweite Schritt erfordert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, zu erkennen, wo man Fehler gemacht hat, welche charakterlichen Eigenschaften, wie z. B. der Hang zum Perfektionismus, ursächlich für die Vorwürfe waren.

Die aus diesen Schritten gewonnenen Erkenntnisse sind die Voraussetzung und Grundlage für den letzten Schritt: den Wiederaufbau eines gesunden Selbstbewusstseins und der Versöhnung mit sich selbst und den Kindern.

 

Mein Anliegen besteht darin, Mütter dabei zu unterstützen, ihre Selbstachtung zu fördern, einen wertschätzenden Umgang mit sich selbst zu erlernen und - ihnen zu zeigen, wie sie es schaffen können, sich selbst wie eine gute Freundin liebevoll anzunehmen.

Teil I Mütter zwischen Selbstzweifeln und Schuldgefühlen

1.
Der Mythos der „idealen Mutter"
Merkmale der „idealen Mutter"

Die „ideale Mutter" ist eine Fiktion in unseren Köpfen, wie eine Mutter sein sollte.

Mütter werden mit diesem Leitbild verglichen und beurteilt. So kommt es zu den Urteilen: „Sie ist eine gute Mutter - sie ist eine schlechte Mutter". Aber auch die Mütter selbst messen sich an diesem Anspruch, was dann zu Selbstzweifeln und Schuldgefühlen führen kann und ihnen das Gefühl gibt, ausweglos quasi in einer Falle zu sitzen, der „Mutterfalle".

Welche Rollen die „ideale Mutter" kennzeichnen, ist vom Zeitgeist abhängig, von politischen und sozialen Gegebenheiten. So hat sich das Mutterbild im Laufe der Jahrzehnte mehrfach gewandelt.1

Gehen wir zurück in die Geschichte, ist festzustellen, dass das Mutterbild in Deutschland wesentlich geprägt wurde durch Königin Luise von Preußen (1776-1810). Im Gegensatz zu arrangierten Ehen in anderen Königshäusern führte sie mit ihrem Gatten Friedrich Wilhelm keine auf Staatsräson fußende Zweckehe, sondern eine Liebesbeziehung. Ihre Kinder überließ Königin Luise keinen Gouvernanten, sondern kümmerte sich selbst um sie. Noch weit über ihren Tod hinaus beeinflusste sie das Bild der Frau und Mutter. Mit ihrer Haltung war Luise Vorbild für das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie, in dem der Vater als Erwerbstätiger die Familie versorgt und die Mutter zu Hause ein gemütliches, angenehmes Heim schafft und sich um Haushalt und Kinder kümmert.

Hatte vorher die Einheit von Mutter und Kind als etwas zutiefst Privates gegolten, so wurde das Mutterideal von den Nationalsozialisten funktionalisiert. Die Aufgabe der deutschen Mutter bestand während dieser Zeit darin, die arische Rasse fortzupflanzen. Frauen, die sich bewusst gegen die Mutterschaft entschieden, galten als entartet und krank. Die Nazis führten eine Steuerpolitik ein, die die Berufstätigkeit von Ehefrauen bestrafte. Die „deutsche Frau" sollte zu Hause bleiben und dem Führer möglichst viele Kinder gebären. Wichtig war nicht mehr, ob ein Kind ehelich geboren wurde oder nicht, sondern ob es von reiner (arischer) Abstammung war. Der Müttermythos des Dritten Reiches diente der nationalsozialistischen Propaganda. Danach bestand die Aufgabe der Frau im Gebären und der Aufzucht neuer Generationen. Wer „deutschblütig", „erbrein", nicht „asozial", „anständig", „sittlich einwandfrei" war und mindestens vier Kinder lebend geboren hatte, bekam das Mutterkreuz verliehen, das als große Ehre galt. Eine Frau galt nur etwas, wenn sie Mutter möglichst vieler Kinder war und so zur Stärkung der arischen Rasse beitrug. Dazu kam mit fortschreitendem Krieg die Verpflichtung, in der Kriegsindustrie zu arbeiten.

In den 1950er und 1960er Jahren rückte im Westen Deutschlands die Mutterschaft wieder in den privaten Bereich. Aus der Mutterrolle sollten Frauen eine tiefe Befriedigung ziehen können. Mütter sollten verheiratet sein und ihren Beruf zugunsten der Kinder aufgegeben haben. Den Bedürfnissen ihrer Kinder sollten sie höchste Priorität einräumen. Der Vater hatte lediglich die Rolle des Ernährers inne, seine Bedeutung in der kindlichen Entwicklung wurde fast vollständig ignoriert. An die Frauen stellte dieses Ideal hohe Ansprüche: Viele hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie diesem rosigen Bild der Mutterschaft in der Praxis nicht entsprachen. Wer nicht in das Schema der glücklichen Kleinfamilie passte - z. B. Alleinerziehende, berufstätige Mütter, Stiefmütter - wurde gesellschaftlich ausgegrenzt.

Ausgelöst durch die Emanzipationsbewegung suchten während der 1970er und 1980er Jahre immer mehr Frauen einen Kompromiss zwischen dem traditionellen Mutterbild und dem zunehmenden Wunsch nach Berufstätigkeit, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit. Man erachtete es schon als wichtig, dass Frauen eine gute Schul- und Berufsausbildung anstrebten, einen Beruf erlernten und diesen auch ausübten, bis das erste Kind geboren war. Anschließend sollte die Frau zu Hause bleiben und sich um die Familie kümmern. Erst wenn das Kind oder die Kinder sie nicht mehr dringend brauchten - so die damalige Vorstellung - könnte sie wieder einer Berufstätigkeit nachgehen. Noch heute gibt es Vertreter dieser Ideologie.

Die DDR setzte als zweiter deutscher Staat ganz auf die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft, weil Frauen im Arbeitsprozess unentbehrlich waren. Für die Kinder gab es Kinderkrippen, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen. Finanzielle Zuwendungen und Förderungen bekamen Mütter unabhängig davon, ob sie verheiratet waren oder nicht. Die Berufstätigkeit der Frauen wurde ideologisch angestrebt und konsequent gefördert, auch wenn Frauen - ähnlich wie in der Bundesrepublik - selten in Führungspositionen gelangten. Die Frau musste gleichberechtigt am Aufbau des Sozialismus mitwirken. Nur eine werktätige Mutter war dort eine gute Mutter.

Seit den 1990er Jahren gibt es kein vorherrschendes Mutterbild mehr. Inzwischen existieren verschiedene Lebensformen parallel nebeneinander. So gibt es zum einen die „Supermütter", die anscheinend spielend Karriere, Kinder und Haushalt unter einen Hut bringen. Zahlreiche Frauen arbeiten in Teilzeit, wieder andere - vor allem Frauen aus der Mittelschicht - verzichten ganz bewusst auf eine Berufsausübung, weil sie sich nicht weiter dem Druck von Konkurrenz und Fremdbestimmung im Arbeitsleben aussetzen wollen. Sie erhoffen sich durch das Ausleben der Familienrolle eine bessere Selbstverwirklichung als im Beruf. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Alleinerziehende oder Frauen aus den unteren sozialen Schichten, für die sich diese Frage gar nicht stellt: Sie sind aus finanzieller Notwendigkeit heraus gezwungen, trotz Kindern zu arbeiten. Die Kinderbetreuung übernehmen hier oft Großeltern, Geschwister, Nachbarn oder Bekannte, besonders wenn die Frauen in Schichtdiensten arbeiten. Viele Kinder bleiben auch zeitweise sich selbst überlassen.

Das gesellschaftliche Leitbild der Mutterrolle wurde auch durch das neue Unterhaltsrecht vom 1. Januar 2008 nachhaltig verändert. Der nacheheliche Ehegattenunterhalt für den geschiedenen Ehepartner wurde vom Gesetzgeber zur Ausnahme erklärt, wodurch der bisherige Regelfall ausgehebelt wurde. Durch das neue Unterhaltsrecht wird unterstellt, dass jeder Ehegatte sich selbst unterhalten kann und er Unterhalt nur dann bekommt, wenn er außer Stande ist, für seine Existenz zu sorgen. Das ist der Fall, wenn ein Ehepartner nicht genug Geld verdienen kann, weil er Kinder betreut, zu alt oder zu krank ist, eine Ausbildung abschließt oder keinen Job findet.

Nach altem Recht galt, dass nicht verheiratete Mütter vom Kindesvater im Normalfall nur Unterhalt verlangen konnten, bis das Kind drei Jahre alt war. Geschiedene dagegen durften darauf bauen, dass sie überhaupt erst wieder Teilzeit arbeiten mussten, wenn ihr Kind acht Jahre alt war, bei zwei oder mehr Kindern sogar noch später.


Heidi, 33:

„Ich habe nie darüber nachgedacht, ob ich nach der Geburt unserer Kinder wieder berufstätig sein wollte. Ich war glücklich mit meiner Familie, meinen Kindern und der Rollenteilung, dass mein Mann das Familieneinkommen verdiente und ich Haus- und Familienarbeit leistete. Aber mich finanziell nicht abzusichern, das war nicht gerade clever von mir. Nachdem mein Mann mich verlassen hat, bekomme ich keinen Cent von ihm, obwohl unsere kleine Tochter erst 4 Jahre alt ist. Während der Kindergartenbetreuung wird von mir erwartet, dass ich Teilzeit arbeiten gehe. Meinen ehemaligen Beruf als Krankenschwester kann ich wegen des Schichtdienstes vergessen. Teilzeitarbeit ist dort ohnehin nicht möglich und mein Einkommen reicht auch bei Vollzeitarbeit nicht aus, um eine Kinderbetreuung zu organisieren und zu bezahlen. Heute rate ich allen Frauen, bei aller Verliebtheit auch an ihre Versorgung zu denken. Gefühle können sich schnell ändern."

Seit Ursula von der Leyens Zeit im Familienministerium während der Großen Koalition (2005-2009) fördert der Staat ganz gezielt die volle Berufstätigkeit von Müttern. Es wurde die bezahlte Elternzeit eingerichtet, um hoch qualifizierte Frauen zu motivieren, Kinder zu bekommen. Berufstätige Mütter können 14 Monate zu Hause bei ihrem Kind bleiben und es selbst versorgen, statt es - wie es früher üblich war - nach der gesetzlichen Mutterschutzfrist (6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Geburt) in Fremdbetreuung zu geben. Nebenbei wurde von der Familienpolitik aber auch das Ziel verfolgt, Frauen finanziell unabhängiger zu machen und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass jede Frau ihre eigene Altersvorsorge erwirtschaftet. Das allerdings geht nur mit Vollzeitbeschäftigung.

Inzwischen hat man auch den Eindruck, dass die nicht berufstätigen Mütter in eine Rechtfertigungshaltung gedrängt werden, weil man ihnen unterstellt, den Staat zu schädigen, weil sie das Bruttosozialprodukt nicht mehren, sondern oft auf staatliche Unterstützung angewiesen sind und auch später von Altersarmut bedroht sein könnten und dann der Allgemeinheit zur Last fielen.


Die Mutterliebe als wesentliches Merkmal der „idealen Mutter"

Unter Mutterliebe wird allgemein die reinste, innigste und selbstloseste Liebe verstanden und damit ist sie stark idealisiert und Teil des Mythos von der „idealen Mutter".

Mutterliebe war schon im Alten Testament ein Thema:

Zwei Frauen streiten sich um einen Säugling. König Salomo soll entscheiden, wer die richtige Mutter ist. Er lässt sich ein Schwert bringen und sagt, er wolle das Kind in zwei Hälften teilen. Daraufhin verzichtet die eine Frau sofort: Lieber soll das Kind bei der anderen aufwachsen, als getötet zu werden. König Salomo wertet das als Zeichen echter Mutterliebe.

Auch heute wird Mutterliebe vielfach immer noch mit selbstloser Aufopferung für die Kinder gleichgesetzt. Die Bindungsforschung beginnt erst heute zu verstehen, wie das große Gefühl einer Mutter entsteht und warum Mütter für ihre Kinder tatsächlich vieles tun, was sie für keinen anderen Menschen auf sich nehmen würden.

Was ist Mutterliebe? Ist sie ein euphorisches Gefühl, das sich direkt nach der Geburt wie auf Knopfdruck einstellt, oder eher eine langsam wachsende Zuneigung? Ist sie ein Trick der Natur, angeboren oder unbewusst erlerntes Verhalten? Wie entsteht dieses Gefühl, das viele als die stärkste Bindung ansehen? Sind es die Hormone, die für Mutterliebe verantwortlich sind, oder doch eher die Erziehung? Denn schließlich gibt es ja auch Frauen, die ihre Kinder misshandeln oder sogar töten - was geschah mit deren Mutterliebe?

Während der Geburt eines Kindes schüttet der weibliche Körper große Mengen an Endorphinen aus. Sie haben schmerzlindernde Wirkung, ähnlich wie Morphine, und sind außerdem angstlösend. Wenn das Kind geboren ist, endet der Schmerz zwar, der Endorphinspiegel ist jedoch nach wie vor sehr hoch: Die Mutter ist quasi high, im Rausch körpereigener Drogen.

Außer den Endorphinen wird noch ein weiteres Hormon während des Geburtsvorgangs ausgeschüttet: das Oxytocin. Es gilt als Bindungshormon und entsteht während der Geburt. Eine weitere Dosis des Botenstoffes schüttet das Gehirn beim Stillen aus. Bereits in den ersten Monaten der Schwangerschaft konnten israelische Forscher nach einer 2007 veröffentlichten Studie schon Oxytocin in stärkerer Dosierung nachweisen, als dies bei nicht schwangeren Frauen der Fall war. Und sie fanden heraus: Je höher der Oxytocin-Spiegel der Mutter während der Schwangerschaft war, desto intensiver beschäftigten sich die Frauen anschließend mit dem Kind und desto stärker waren sie ihm zugewandt. Das wäre eine mögliche Erklärung dafür, warum Mütter ihre Babys auch dann nicht verstoßen, wenn sie in einer Kaiserschnitt-Entbindung unter Vollnarkose geboren wurden.

Bedeutenderer scheinen aber Lernfähigkeit und Erfahrung zu sein, was übrigens nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Affen dazu führt, dass sie Babys adoptieren und liebevoll großziehen können.

Schafe dagegen lehnen ihre Lämmer ab, wenn sie durch Kaiserschnitt unter Narkose zur Welt kommen. Auch wenn ein Lamm direkt nach der Geburt von der Mutter weggenommen wird, nimmt sie es nicht an, wenn man es ihr nur wenig später zurückgibt. Menschen dagegen können Mutterliebe erlernen. Bindungsforscher haben herausgefunden, dass es Frauen, die selbst eine liebevolle, zärtliche Mutter hatten, deutlich leichter fällt, ihre Kinder ebenso zu behandeln.

 

Bei Menschen, die durch häufigen Umgang bereits viel Erfahrung mit Kindern gesammelt haben, sind keine Hormonschübe mehr nötig, um mütterliches Verhalten auszulösen. Hier genügen kleinere Reize wie beispielsweise der bloße Anblick eines Babys.

Es ist auch richtig, dass sich Mutterliebe im Laufe der Jahre verändert. Sie wird nicht mehr oder weniger, sondern anders. Sie verändert sich mit ihren Aufgaben, und das ist gut und wichtig so! Denn liebten wir einen Dreijährigen auf die gleiche Weise wie einen Säugling oder eine Fünfzehnjährige so wie eine Siebenjährige - dem Kind täte es nicht gut. Damit Kinder sich in der Pubertät ablösen können, brauchen sie die Unterstützung ihrer Mütter, die bereit sind, Distanz zuzulassen. Und einen Dreijährigen, dessen Bedürfnisse wir so umgehend befriedigen wie die eines Säuglings, bringen wir um die „optimale Frustration", die er braucht, um sich gut entwickeln zu können. Eilen Mütter stets herbei, bevor nur eine Träne fließen kann, geben sie jeder Wut nach, weil sie den Zorn des Kindes nicht ertragen wollen, beseitigen sie jedes Unwohlsein, bevor es richtig gespürt wird, dann bringen Mütter ihr Kind um die wichtige Erfahrung, Kummer und Spannung aushalten zu lernen. Nur so kann ein Kind die Erfahrung machen, dass Bedürfnisse und Wünsche nicht immer umgehend erfüllt werden.

Aber nicht immer verläuft die Bindung zwischen Mutter und Kind so störungsfrei.

Bei Müttern, die nach der Geburt eine Depression, auch „Babyblues" genannt, entwickeln, ist die sensible Bindungsphase krankheitsbedingt gestört. Die Mutter leidet an Ängsten, Zwangsgedanken oder Schuldgefühlen und hat ihrem Kind gegenüber zwiespältige Gefühle. Meist ist eine stationäre Behandlung notwendig. Obwohl depressive Mütter stark leiden, gibt es doch zumindest eine positive Prognose: In den meisten Fällen klingt eine postnatale Depression wieder vollständig ab.

Was aber passiert, wenn die Mutterliebe fehlt und sich auch später nicht einstellt? Jede Woche wird in Deutschland ein Baby ausgesetzt. Nur etwa die Hälfte aller Säuglinge überlebt eine solche Verzweiflungstat der eigenen Mutter. Es gibt aber auch Mütter, die grundsätzlich nicht zur Mutterliebe fähig sind.

Darüber hinaus gibt es Frauen, die ihre Schwangerschaft verdrängt haben und dann selbst völlig überrascht von der Geburt sind und in Panik geraten. Im günstigsten Fall für das Kind wird es in der Babyklappe abgelegt.

Eine junge Frau erzählte in einem Interview, sie sei in Panik gewesen, weil sie nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt habe. Allein habe sie entbunden und sich zur Babyklappe des Krankenhauses geschleppt, um ihren Sohn dort abzugeben. Nach einigen Tagen habe sie realisiert, was geschehen sei und gespürt, wie sich eine tiefe Liebe zu ihrem Kind entwickelt habe. Sie sei zum Krankenhaus gegangen, habe sich als die Mutter des anonymen Babys zu erkennen gegeben und ihr Kind zurückgefordert.

Das Beispiel zeigt, dass Mutterliebe oft nur Zeit braucht. Manchmal bleibt sie aber auch ganz aus, vor allem bei Müttern, die selbst keine Wärme, Liebe und Geborgenheit erfahren haben. Wenn die Mutterliebe fehlt, reicht das Spektrum der Folgen für ein Kind, unabhängig von der sozialen Schicht, von emotionaler Kälte über Vernachlässigung bis hin zu körperlicher Gewalt.

Frauen, die nicht erkannt werden wollten, sprachen in einem Interview auch über das Tabu der Kindstötung. Eine junge Frau, die zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde und die unerkannt bleiben wollte, setzte ihr Kind am Tag der Geburt aus und nahm seinen Tod „billigend in Kauf". Ihre kleine Tochter erfror nur wenige Schritte vom elterlichen Haus entfernt. Die Mutter sagt, sie habe sich nicht zu helfen gewusst, einfach nicht gewusst, was sie machen sollte.

„Es gibt nur eine ganz selbstlose, ganz reine, ganz göttliche Liebe, und das ist die der Mutter für das Kind", so beschrieb einst der deutsche Schriftsteller Georg Ebers (1837-1898) Mutterliebe und unterstützte damit den Muttermythos. In einfühlsamer und kompetenter Weise analysiert die Schweizer Psychologin und Psychotherapeutin Gabi Gschwend in ihrem Buch „Mütter ohne Liebe. Vom Mythos der Mutter und seinen Tabus"2 die fatalen Konsequenzen eines überhöhten, romantisierten Mutterideals.

Sie kann auf eine Reihe von guten Gründen verweisen, den Muttermythos kritisch zu hinterfragen. So führe die Vorstellung der unerschöpflichen Mutterliebe zu einer Verdrängung und Verleugnung der negativen Seiten der Mutterschaft und ambivalenter oder auch negativer Gefühle.

Die den Muttermythos verherrlichenden Medien vermittelten ein Bild des Mutterseins als Hort reinen Glücks und permanenter Erfüllung, verschwiegen jedoch beispielsweise die Monotonie, die Einsamkeit und die „gnadenlose Häuslichkeit", die mit der Kindererziehung einhergehe. Gefühle der Frustration, Erschöpfung und auch der Wut lösten vielfach Schuldgefühle bei den Müttern aus, würden jedoch verleugnet und verdrängt, da sie nicht dem Bild einer „guten Mutter" entsprächen.

Dadurch verschwänden sie aber nicht, sondern äußerten sich häufig in destruktiver Weise. Gschwend sieht Lieblosigkeit und familiäre Gewalt als direkte Folge der Normen des Muttermythos. Wer seine negativen Gefühle abkapsele, weil sie mit dem Müttermythos nicht vereinbar seien, der könne auch seine positiven Gefühle wie Liebe nicht spüren.

Die Autorin zeigt, dass die Vorstellung, eine Mutter sei in jedem Fall - zumindest in den ersten Lebensjahren - das Beste für ihr Kind und andere Bezugs- oder Betreuungspersonen die zweite und schlechtere Wahl, eine durch den Muttermythos unterstützte Ansicht ist. Sie plädiert dafür, eine realistischere Sichtweise der Mutter-Kind-Beziehung einzunehmen und auch die Schattenseiten, die dem gesellschaftlichen Bild der „idealen Mutter" nicht entsprechen, ins Bewusstsein zu heben und anzunehmen. Dazu gehören etwa negative Gefühle dem Kind gegenüber, die wohl jede Mutter in manchen Situationen verspürt, aber auch die Existenz „liebloser Mütter", die nicht fähig oder bereit sind, ihr Kind bedingungslos anzunehmen.

Die Abkehr vom vorherrschenden Muttermythos stellt Gschwend sowohl für die Mutter als auch für das Kind als Gewinn dar. Durch die Abkehr von der Tabuisierung und Verleugnung negativer Aspekte werde der Mutter eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der eigenen Mütterlichkeit ermöglicht, die gleichzeitig auch das Bild der „schlechten Mutter" relativiere und somit entlastend wirke. Auf der anderen Seite könne die Abkehr von der Verklärung der Mutter-Kind-Beziehung auch die Augen dafür öffnen, dass es destruktive Mutter-Kind-Beziehungen durchaus gebe. Obwohl es sich um ein gesellschaftlich brisantes Thema handelt, zeichnet die Autorin ein realistisches Bild, dass die Mutter-Kind-Beziehung meist zwischen den beiden Polen der allumfassenden Liebe zu jedem Zeitpunkt einerseits und massiver Ablehnung und Destruktivität andererseits angesiedelt sei. Glück, Zärtlichkeit und das Gefühl der Verbundenheit fänden darin ebenso Platz wie Enttäuschung, Wut und Frustration, die Vorstellung symbiotischer Verschmelzung ebenso wie ein ausgeprägtes Individuationsbedürfnis, also alle Facetten, die andere Liebesbeziehungen auch aufwiesen.

Nach den Erfahrungen der Therapeutin stelle der Verzicht auf den Muttermythos sowohl für die Mutter als auch für das Kind einen Gewinn dar, weil die Abkehr von der Verklärung der Mutter-Kind-Beziehung auch die Augen dafür öffne, dass destruktive Mutter-Kind-Beziehungen durchaus weit verbreitet seien. Die Therapeutin erwartet von einer Durchbrechung des Muttermythos auch eine verstärkte soziale Kontrolle des Kindeswohls.

Als Fazit bleibt, dass die Mutter-Kind-Beziehung wohl in den allermeisten Fällen zwischen den beiden Polen der „allumfassenden Liebe zu jedem Zeitpunkt" einerseits und „massiver Ablehnung und Destruktivität" andererseits angesiedelt ist.