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Buch lesen: «Die Macht der Drei», Seite 10

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Teil III

»Auf die Postille gebückt zur Seite des wärmenden Ofens …«

Es war Geburtstag im Hause Termölen. Das Geburtstagskind Andreas Termölen trug seine acht Jahrzehnte, so gut ein Mensch sie zu tragen vermag. Schon am Vormittag hatte er den Festrock aus feinem schwarzen Tuch angelegt. Die Kriegskreuze aus dem großen Kampfe von Anno 14 bis 18 schimmerten auf der linken Brustseite.

Das volle, weiße Haar, der starke Schnurrbart gaben dem Gesicht einen energischen Zug. Doch die Jahre machten sich fühlbar. An der Seite seiner Luise, der fünf Jahre jüngeren Gattin, hatte der Jubilar in den Vormittagsstunden die Schar der Gratulanten empfangen. Die Wirtz, die Schmitz, die Raths und wie sie alle hießen. Der Duft von Blumenspenden erfüllte das Wohnzimmer. Der Alte hatte sich aufrechtgehalten. Mit alten Freunden und Kriegskameraden geplaudert und ein Gläschen getrunken.

Danach das Mittagsmahl. Nur zu zweit mit seinem Luischen, die mit ihm jung gewesen und alt geworden war. Da spürte er die Anstrengungen des Tages. Die Hände zitterten mehr als gewöhnlich. Der Rücken schmerzte ein wenig.

Besorgt betrachtete ihn die Gattin.

»Es is also, als et Bismarck schon gesacht hat. Die ersten Siebenzig sind alleweil die besten. Da is nichts dran zu ändern, Luische.« So suchte er die Sorge der Gattin fortzuscherzen. Und war doch froh, als er sich nach geschehener Mahlzeit behaglich in dem alten Ledersessel ausstrecken konnte. Da konnten sich die alten Glieder wohlig ruhen und lösen.

Die Termölensche Ehe war kinderlos. Die Liebe der alten Leute betätigte sich an Neffen und Nichten. Auch an der dritten Generation, die zum größten Teil schon erwerbstätig im Leben stand.

Der alte Mann wollte sein Schläfchen machen. Aber die Anregungen und Ungewohnheiten des Tages wirkten nach. Er war zu aufgeregt dazu.

»Wat meinst du, Luischen, ob de Jong, de Willem, hüt von Essen röwerkütt?«

»Ich mein, er wird schon komme, wenn er Zeit hat.«

Die Zwiesprach galt dem Oberingenieur Wilhelm Lüssenkamp von den Essener Stahlwerken. Der stand nun auch schon im fünfzigsten Lebensjahre. Aber für die beiden Alten blieb er nach wie vor »de Jong, de Willem«.

Der Alte sann einige Zeit über die Antwort nach.

»Wenn er Zeit hat. Et jibt jetzt mächtig zu don. Et jibt bald Krieg. Engländer und Amerikaner. Et soll mich freuen, wenn dat Volk sich ordentlich de Köpp zerschlägt.«

Dann sprangen seine Gedanken zu einem anderen Gegenstand über.

»Wer hätt dat jedacht, Luische, dat aus unserer Reisebekanntschaft auf dem Schiff … damals hinter Bonn … dat daraus wat Ernstlichet werden wird. Ich han mir nachher jedacht, die jungen Leut' müßten mich für 'nen alten Schwefelkopf halten. Und da kütt dann en Brief aus Amerika. Un dann noch einer aus Schweden. Dat muß ich nochmal lesen.«

Frau Luise Termölen brachte die Briefe. Der alte Mann versuchte zu lesen. Die Hand war zu zitterig, und die Schrift verschwamm ihm vor den Augen.

»Lis du es jet, Luische. Du hast jüngere Augen.«

Frau Luise setzte sich zurecht und las die fünfzigmal gelesenen Briefe zum einundfünfzigstenmal.

Trenton, den 14. Dezember 1953.
Geehrter Herr Termölen!

Ein wunderbarer Zufall hat es gefügt, daß die Hinweise, die Sie mir vor Jahresfrist gaben, mir wirklich ziemlich vollkommene Klarheit über meine Herkunft gebracht haben. Ich bin, wie Sie aus dem Poststempel ersehen können, in Trenton. In denselben Staatswerken, in denen auch Frederic Harte bis vor zwei Jahren seine Stellung bekleidete. Er verlor sein Leben bei einem Unfall. Aber seine Witwe weiß über die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder gut Bescheid. Ich habe Frau Harte und ihre Tochter Jane kennen und schätzen gelernt. Nach den langen Unterhaltungen, die ich mit Frau Harte hatte, ist es für mich Gewißheit, daß ich der Sohn von Gerhard Bursfeld bin, der im Herbst 1922 in Mesopotamien verschollen ist. Zeit und Ort stimmen genau mit den Angaben, die mir von anderer Seite her über das Verschwinden meines Vaters bekannt wurden. Die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Deutsche an derselben Stelle zur selben Zeit in dieser Weise verschwinden sollten, ist praktisch gleich Null. Auch Frau Harte bestätigte die Ähnlichkeit mit Gerhard Bursfeld, von dem sie gute Bilder besitzt. Ich darf Sie danach auch als meinen Verwandten betrachten und begrüße Sie als

Ihr dankbarer
Silvester Bursfeld.

Der Brief war an den Kniffstellen mehrfach eingerissen und trug die Spuren häufiger Lektüre.

»Wer hätte dat jedacht, Luische, dat die Menschen sich auf Jottes weiter Welt so zusammenfinden. Laß mich och den zweiten Brief hören.«

Frau Luische rückte die Brille zurecht und las weiter. Der andere Brief war neuesten Datums.

Linnais, den 5. Juli 1955.
Mein lieber Herr Termölen!

Ich bin der glücklichste Mensch auf der Welt und verdanke Ihnen, daß ich es bin. Hätten Sie mir damals nicht die Nachweise gegeben, wär ich nie zu Mrs. Harte gekommen. Dann wäre Jane Harte auch nicht meine liebe Braut und in zwei Stunden mein angetrautes Weib. Es treibt mich, Ihnen von meinem Glück Kenntnis zu geben. Heute nachmittag gehen wir auf die Hochzeitsreise. Italien, Griechenland, Ägypten bis zu den Pyramiden. Jane kennt die Alte Welt noch nicht. Sie hat immer in Amerika gelebt. Auf der Rückreise wollen wir Sie besuchen. Ich lade mich und meine junge Frau auf die Mitte des Monats für ein paar Tage bei Ihnen zu Gaste. Durch Jane, die es von ihrer Mutter weiß, erfuhr ich, daß Sie am 8. Juli Ihren achtzigsten Geburtstag feiern. Wir gratulieren dazu von den Ufern des Torneaelf her und werden unsere Glückwünsche bald mündlich wiederholen.

Ich bleibe
Ihr ergebenster …

Frau Luise blickte von ihrer Lektüre auf. Nun war der alte Mann doch eingeschlafen. Die Natur verlangte ihr Recht. Sie ließ ihn ruhig schlummern und bereitete leise den Kaffeetisch für den Nachmittag. Der Junge, der Wilhelm, wurde ja erwartet. Vielleicht kamen auch noch andere Gäste. –

Die Hausglocke erklang. Andreas Termölen fuhr aus seinem Schlummer empor. Eine kräftige männliche Stimme im Vorraum. Wilhelm Lüssenkamp trat in das Zimmer. Der blonde Rheinländer begrüßte den alten Oheim herzlich und brachte ihm seine Gabe dar. Einen Korb mit Rosen, zwischen denen die rotgekapselten Hälse von einem Dutzend guter Flaschen verheißungsvoll blinkten.

»Alter Wein für alte Leute, Onkelchen. Meine besten Glückwünsche. Lange kann ich nicht bleiben. Wir arbeiten mit Nachtschicht. Mit List und Tücke bewog ich den Kollegen Andriesen, mich über den Nachmittag zu vertreten. Erwischte einen freien Werkflieger, der mich bis Düsseldorf mitnahm, und da bin ich.«

Andreas Termölen ließ den Wortschwall über sich ergehen. Drückte die Hände seines Neffen herzlich und lange.

»Et freut mich, Jong, dat du noch auf en paar Stündchen den Weg zu deinem alten Ohm jefunden hast. Dafür sollst du och dat erste Stück vom Kuchen haben.«

Sie setzten sich an den Kaffeetisch, griffen zu und ließen sich schmecken, was Frau Luise darbot.

In die idyllische Ruhe dieses stillen Heims kam Wilhelm Lüssenkamp aus dem sausenden Getriebe der großen Essener Stahlwerke. Kam, brachte die Unrast und Anspannung harter Arbeit mit, und fand bei dem alten Manne freudiges Verständnis. Bis vor fünfzehn Jahren hatte Andreas Termölen selbst eine leitende Stellung in der rheinischen Stahlindustrie bekleidet. Er wußte, was es bedeutet, den Gang der Schmelzöfen zu überwachen und Abstich auf Abstich in die Kokillen zu bringen. Begierig lauschte er den Erzählungen des Neffen.

Daß das Werk im Laufe der letzten vierzehn Tage die Zahl der Stahlöfen verdreifacht habe. Tag und Nacht wurde mit riesenhaft vermehrtem Personal gearbeitet. Eben trocken, wurden die Ofen schon in Betrieb genommen. Vorsichtig begann die Beheizung. Die Gasanlage war Gott sei Dank auf Zuwachs gebaut und lieferte den nötigen Brennstoff.

War nach vierundzwanzigstündiger Beheizung die letzte Spur von Feuchtigkeit aus dem Mauerwerk getrieben, dann wurde der volle Flammenstrom angestellt. Dann stieg die Hitze im Ofeninnern in wenigen Stunden auf grelle Weißglut. Dann warfen die Maschinen Charge auf Charge in den Ofen. Gußbrocken, Schmiedeeisen und alle anderen Rohstoffe, aus denen in der Höllenglut der edle Stahl gekocht wurde.

Der warme Betrieb mußte Tag und Nacht durchgehen, weil man die Öfen nicht einfrieren lassen durfte. Aber er ging jetzt forciert. Er war schon verdreifacht und sollte noch einmal verdreifacht werden.

»Wat soll dat all? Wo wollt ihr mit der Unmasse Stahl hin?«

Wilhelm Lüssenkamp zuckte mit den Achseln.

»Nicht meine Sorge, Ohm. Das Schmelzwerk hat den Auftrag, soviel Stahl wie möglich zu liefern. Wenigstens aber eine Million Tonnen im Jahr. Da heißt es: Anbauen und sich dranhalten. Übrigens … ich verrate damit kaum ein Geheimnis: Es ist stadtbekannt, daß die Amerikaner unmenschliche Stahlmengen für ein Sündengeld fest gekauft haben und in Deutschland stapeln.«

»Et jibt Krieg, Jung. Ick hab dat schon vorher jesagt.«

»Kann sein, Onkel Andreas. Es sieht so aus, als ob John Bull und Uncle Sam sich an die Kehle wollen. Der Amerikaner kauft Stahl. Der Engländer interessiert sich mehr für fertige Sachen. Im Motorenraum, unsere neuen Turbinen … ich will mich nicht rühmen … aber die haben's in sich und haben's auch den Englischen angetan. Bei den Probefahrten haben wir zwölfhundert Kilometer geschafft. Die bis jetzt schnellsten Maschinen, das ist die amerikanische R. F. c. – Type. Tausend Kilometer. Von uns um zweihundert Kilometer geschlagen. Der englische Kapitän, der eine Probefahrt mitmachen durfte, war einfach platt. Steckte die Entfernung zwischen Fredericsdal an der grönländischen Südspitze und der Wendemarke auf der Azoreninsel immer wieder auf dem Globus ab und schüttelte den Kopf. Seitdem sind die Engländer scharf hinter den Turbinen her. Zehntausend Stück sofort in festen Auftrag.«

Wilhelm Lüssenkamp ließ den Blick auf den Kriegsorden des Oheims ruhen.

»Du hast die alten Denkzeichen angelegt?«

Er beugte sich vor und ließ einzelne Spangen der Dekoration durch die Finger gleiten.

»Sommeschlacht … Verdun … Kemmelberg … Ypern … Dixmuiden … Chemin des Dames … blutige Orte. Nach dem, was wir schon als Kinder hörten, muß es da böse zugegangen sein.«

Der alte Mann nickte zustimmend.

»Jong, et is jetzt vierzig Jahre her. Aber die Tage stehen mir noch wie heute vor dem Gesicht. Manchmal scheint et mir noch heut unglaublich, dat ich damals am Leben geblieben bin … Et war die Hölle. Et war mehr als die Hölle.« Der Alte schwieg, von der Erinnerung ergriffen. Der Neffe nahm das Thema auf.

»Es war schlimm, Onkel Andreas. Aber jetzt kommt es noch viel schlimmer. Der Krieg, der uns bevorsteht, wird das Entsetzlichste, was die Welt jemals gesehen hat. Dreihundert Millionen Nordamerikaner gegen siebenhundert Millionen Britten. Die Industrie der Erde schon jetzt keuchend in voller Kriegsarbeit. Neue Mittel, neue Mordmethoden, von denen die meisten Menschen heute noch keine Ahnung haben. Aber … es geht nicht um unsere Haut. Die beiden Weltmächte, die übriggeblieben sind, schneiden sich die Kehle ab. Niemand kann die Katastrophe aufhalten. Sie ist unabwendbar. Wenn sie nicht morgen kommt, dann übermorgen. Aber sie kommt. Ich glaube nicht, daß wir noch im Frieden den Kornschnitt erleben. Nach meiner Meinung muß der amerikanische Diktator ganz plötzlich und unvermutet losschlagen, wenn er die besseren Chancen auf seine Seite bringen will.

Die Engländer sprechen seit fünfzig Jahren vom Saxon day. Ich meine, er steht dicht vor der Tür, und kein Mensch kann das Verhängnis aufhalten.«

»Kein Mensch …«

Der alte Mann wiederholte es nachdenklich.

»Sie haben et nicht verdient, dat wir ihnen eine Träne nachweinen. Laßt sie sich meinetwegen die Hälse abschneiden … janz wat anderes, Jung'! In zehn Tagen jibt et bei uns Besuch. Einer von den Bursfelds. Ich hab dir ja erzählt, wie wunderlich wir ihn entdeckt haben. Seine Jroßmutter war meine Schwester. Eine Schwester deiner Mutter. Er wird uns mit seiner jungen Frau besuchen. Sieh, dat du in den Tagen auch mal zu uns kommst.«

Wilhelm Lüssenkamp versprach es. Sah auf die Uhr und bemerkte, daß es die höchste Zeit zum Aufbruch sei. Er mußte eilen, wenn er sein Flugzeug an der verabredeten Stelle treffen wollte. Die siedende Arbeit rief ihn zurück, fort aus dieser ruhigen Feierstimmung, in die Gluten und zu den rasselnden Maschinen industriellen Hochbetriebes.

Glockengeläut klang vom Turm der alten Kirche von Linnais. Über die sonnenbeschienenen Dächer des Ortes, über bestellte Felder, die in kurzen Sommerwochen spärlichen Ertrag brachten, zogen die Töne dahin, das Tal des Torneaelf entlang und verloren sich schließlich in bläulicher Ferne zwischen den föhrenbestandenen Ufern.

In der Kirche herrschte gedämpftes Licht. In hundert Farben spielte es durch die bunten Fenster. Die Kirche fast leer. Nur einige zwanzig Personen auf den dreihundertjährigen Eichenbänken und in den Chorstühlen.

Die Orgel setzte ein. Die Klänge des Chorals drangen durch den Raum. Es war der Hochzeitstag Silvesters. Der Tag seiner Vereinigung mit Jane.

Die Orgel schwieg. Der alte Geistliche segnete den Bund. Jane im weißen Kleide, den Myrtenkranz im lichtblonden Haar, ätherisch zart. Sie glich den Engelsgestalten, welche die Kunst eines alten Meisters über dem Altar geschaffen hatte. Silvester, den Arm nach der Verwundung noch in der Binde, aber froh und glücklich.

Dicht hinter dem Paar die beiden Zeugen der Zeremonie: Erik Truwor und Soma Atma.

Der Inder ruhig, in sich versunken. Der freie Ritus der Zeit erlaubte es ihm, hier als Zeuge zu dienen. Seine Gedanken weilten bei den Lehren der eigenen Religion. An das Rad des Lebens dachte er, an das wir alle gebunden sind. An das Kämpfen und Leiden aller Kreatur, die erst nach tausendfacher Wiedergeburt und Bewährung zur ewigen Seligkeit des Nirwana eingehen darf.

Erik Truwor hoch gereckt. Jede Muskel verhaltene Kraft. Glücklich beim Glücke des Freundes. Doch schon weitere Pläne erwägend. Ungeduldig über jede Verzögerung, die seine Lebensaufgabe erfuhr.

Der Priester wechselte die Ringe. Leicht schob sich der goldene Reif auf den schlanken Finger der Braut. Hart und schwer legte er sich an Silvesters Hand neben den Ring von Pankong Tzo.

Atma sah es, und seine Gedanken nahmen einen anderen Lauf.

»Wer schon gebunden ist, soll sich nicht nochmals binden. Zwei Pflichten kann niemand erfüllen, zwei Herren niemand dienen.«

Der christliche Priester sprach milde Worte. Daß sie nun eins seien. Daß jedes dem anderen gehöre, bis einst der Tod sie scheiden würde.

Atma sah nur die beiden Ringe an Silvesters Hand.

Auch Erik Truwors Gedanken wanderten. Fort aus dem grünen Tale, nordwärts über brandendes Meer und weite Eisflächen zu verschneiten Felsen. Nur undeutlich drangen die Worte des Priesters an sein Ohr. Im Geiste baute er dort nordwärts in eisigen Fernen bereits eine neue Zufluchtsstätte. Ein neues Heim, unentdeckbar und unangreifbar.

Der Geistliche hatte geendet. Segnend legte er die Hände auf die Häupter der Neuvermählten. Ein voller Sonnenstrahl fand seinen Weg bis zum Altar und wob aus goldenem Licht eine Krone auf dem Scheitel der Braut. Die Orgel fiel wieder ein. Die Feier ging dem Ende zu.

Kraftwagen brachten die Teilnehmer zum Hause Truwor zurück, wo das Mahl gerichtet war. Gäste aus dem Ort: Der Vogt von Linnais mit seiner Gattin. Der Königliche Richter. Besitzer freier Bauernhöfe aus der Umgebung von Linnais mit ihren Frauen.

Eine schwedische Hochzeit mit den alten Sitten und Gebräuchen. Seit einem Menschenalter hatte die hohe Halle des Hauses so zahlreiche Gesellschaft nicht mehr beherbergt. Seitdem Erik Truwors Mutter starb und der Vater nur noch seiner Wissenschaft und seinen Reisen lebte.

Jetzt dröhnte der Dielenboden unter den Schritten kräftiger hoher Gestalten. Scherzen und Lachen erklangen und verjagten die Geister der Einsamkeit.

Amtmann Bjerkegrön führte als Respektsperson den Vorsitz und das Wort an der Tafel. Richter Kongsholm sekundierte ihm vom anderen Ende her. Es wurde geschmaust und getrunken. Der Amtmann brachte den Toast auf das junge Paar aus. Der Richter wollte nicht nachstehen und sprach auf künftige Paare, die in dieser Halle noch Hochzeit halten würden. Der nächste Bräutigam müsse Erik sein. Seit tausend Jahren stünde Haus Truwor und sei stets vom Vater auf den Sohn vererbt worden. Also …

Er schloß in nicht mißzuverstehender Weise und leerte sein Glas auf die noch unbekannte Braut.

Um drei Uhr hatte das Mahl begonnen. Um sechs Uhr saß man noch. Viele Toaste waren ausgebracht, viele Gläser geleert worden. Die Köpfe waren rot, und die Stimmung ging hoch. Allgemeines Stimmengebraus erfüllte den Raum. Mancher sprach, um zu sprechen, und achtete nicht sonderlich mehr darauf, ob er Zuhörer fand.

Erik Truwor hatte in der allgemeinen Lebhaftigkeit unbemerkt seinen Platz verlassen und sich halb rückwärts hinter Atma einen Stuhl hingezogen. Der Inder war ruhig und schweigsam wie gewöhnlich. Während der Richter von künftigen Hochzeiten sprach, ruhte sein Blick auf den altersbraunen Deckenbalken der Halle. Wieder kam ihm in jener Sekunde die unheimliche Gabe des Fernsehens, und er glaubte verzehrende Flammen um das Gebälk lecken zu sehen.

»Dein brauner Kumpan ist schweigsam, Erik. Wir wollen ihm zeigen, was eine Hochzeit in Schweden ist. Ein Brautführer darf nicht nüchtern bleiben, wenn er der Braut Ehre machen soll.« Der dicke Vogt rief es lachend und kam dem Inder mit einem vollen Pokal vor. Atma tat Bescheid. Dem Vogt und vielen anderen. Nur war der Trunk, der bald goldglänzend, bald funkelnd wie Rubin in seinem Glase schimmerte, kein Wein.

Erik Truwor beugte sich vor.

»In dreißig Minuten muß Silvester aufbrechen, wenn er den Anschluß an die Regierungslinie nach Deutschland erreichen soll.«

»So laß ihn gehen.«

Atma sagte es ruhig und leidenschaftslos.

»Du kennst meine Landsleute nicht. Sie wollen den Brauttanz. Sie wollen den Schleier der Braut vertanzen, wollen zuletzt aus dem Brautschuh trinken. Ich bedauere es jetzt, daß ich die alten Freunde und Nachbarn eingeladen habe. Es gibt Anstoß, wenn das Paar jetzt aufsteht.«

Atma überblickte die Tafel. Sie waren alle in ihrem Element. Der Richter hielt dem Beisitzer einen Vortrag über einen besonders interessanten Fall aus der letzten Sitzung. Der Vogt machte der Frau Amtmann Komplimente. Der Amtmann begann auf die Regierung zu schimpfen.

»Ich muß mit Silvester noch sprechen. Wir haben ihm eine Woche für seine Hochzeitsreise zugestanden. Ich habe mich besonnen, er mag vierzehn Tage reisen.«

Atma wandte sich aufmerksam um.

»Warum das? Du wolltest ihn zuerst nur drei Tage entbehren. Er hat dir die Woche abgerungen. Warum jetzt zwei Wochen?«

»Weil … ich habe meine Gründe, die ich dir später sagen werde. Ich muß das Paar jetzt aus dem Saal herausbekommen.«

Atma ließ seinen Blick von neuem über die Tafel gehen. Er erhob sich und trat an die schmale Wand der Halle. Es sah aus, als ob er dort irgend etwas erklären oder zeigen wolle.

Schon hoben einige aus der Gesellschaft die Köpfe und blickten angespannt auf das dunkle Getäfel der Wand. Die Frau Amtmann fiel dem Vogt ins Wort.

»Sehen Sie … das herrliche Bild … ein indisches Schloß, wie es scheint. Wie wundervoll! Die bunten Kuppeln im stahlblauen Himmel … unser Erik ist ein scharmanter Gastgeber. Er bietet uns einen Extragenuß … Wohl Bilder von seinen exotischen Reisen …«

Der dicke Vogt hob neugierig den Kopf und folgte der weisenden Hand seiner Nachbarin. Eben noch schien ihm weißer Nebel über die Wand zu wallen. Jetzt sah er in strahlender Schönheit den Kaiserpalast von Agrabad.

Und machte den Nachbarn darauf aufmerksam. Und der den nächsten. Wie ein Lauffeuer ging es um die Tafel. Die mit dem Rücken gegen die Schmalwand saßen, drehten sich um. Wo Silvester und Jane nur das dunkle Getäfel erblickten, schimmerte den andern das wunderbare Bauwerk altindischer Kunst in strahlender Schöne. Aus dem stehenden wurde ein bewegtes Bild. Der Palast zog näher heran. Die staubige, sonnenbeschienene Straße dehnte sich bis in den Saal. Längst hatte der Richter seinen Prozeß, der Amtmann seinen Zorn auf die Regierung vergessen. Fasziniert starrten die Gäste auf das Schauspiel an der Wand. Die Elefanten des Königs kamen. Mit vergoldeten Stoßzähnen und purpurnen Schabracken.

Es schien ein bunter Film zu sein, wie man ihn in allen Theatern hatte. Aber ein Film von unerhörter Farbenpracht. Und er blieb nicht an der Wand. Einzelne Figuren liefen bis weit in den Saal hinein.

Lobbe Lobsen zog seinen Stuhl zurück, weil ein staubiger Pilger ihm direkt über die Füße lief. Immer wunderbarer wurde es. Atma, der eben noch in europäischer Kleidung da war, stand plötzlich im exotischen Gewand unter den Gestalten, begrüßte hier einen, nickte dort einer Figur zu, wurde gekannt und wieder gegrüßt.

Derweil stand Erik Truwor draußen vor dem Hause am Schlage des Kraftwagens und tauschte den letzten Händedruck mit dem jungen Paar.

»Reist glücklich! Genießt euren Honigmond! Die letzten drei Tage seid ihr Gäste im Hause Termölen. Am 19. hole ich dich von der Station der Regierungslinie ab. Farewell!« Der Motor sprang an. Der Führer mußte sich eilen, um das Regierungsschiff nach Deutschland noch im Flughafen zu fassen.

Erik Truwor kehrte langsam in die Halle zurück. Er fand Atma ruhig auf einem Sessel an der Schmalwand der Halle sitzend. Die Hochzeitsgesellschaft starrte mit aufgerissenen Augen auf diese Wand, als ob dort ein besonderes Schauspiel zu erblicken wäre. So ähnlich mußten wohl die Studenten in Auerbachs Keller ausgesehen haben, als Mephisto ihnen edle Weine aus dem trockenen Holz des Tisches fließen ließ. Erik Truwor konnte sich eines Lächelns nicht erwehren.

Atma erhob sich und ging auf seinen Platz am Tische zurück. Im gleichen Augenblick begann das Bild, welches die Zuschauer so fesselte, zu verblassen. Es wurde neblig, verlor die Farbe, und schon war wieder die dunkle Wand sichtbar. Nur langsam löste sich die Erstarrung der Gäste. Dann entlud sich der Beifall um so lauter.

Herrlich … großartig … wundervoll. Die Plastik der Bilder. Das Hinaustreten der Figuren in den freien Raum. Sie waren fast alle in Stockholm gewesen und hatten das Kino mit allen Feinheiten gesehen. Farbig natürlich. Auf Nebelwände projiziert. Aber niemals hatten sie gesehen, daß einzelne Figuren des Bildes bis unter die Zuschauer liefen.

Sie sparten nicht mit ihren Komplimenten gegen den Gastgeber.

Und niemand vermißte das Brautpaar. Hin und wieder trank ihm einer zu, als ob Jane und Silvester noch auf ihren Plätzen säßen. Sie schmausten und zechten bis spät nach Mitternacht und dachten erst in den Morgenstunden an die Heimfahrt.

Erik Truwor kannte Atmas Künste. Er wußte, daß es dem Inder ein leichtes war, dieser ganzen auf keinerlei Widerstand eingestellten Gesellschaft die unwahrscheinlichsten optischen und akustischen Phänomene zu suggerieren. Aber es erfüllte ihn dennoch mit Erstaunen, als er sah, wie der Amtmann auf den leeren Stuhl von Jane zuschritt, sich feierlich vor einem Nichts verbeugte, mit einem Nichts im Arm durch die Halle walzte und das Nichts wieder zum Stuhle zurückgeleitete. Als die Amtmännin sich mit geschmeicheltem Lächeln erhob und ebenso solo durch den Raum tanzte. In der festen Überzeugung, vom Bräutigam aufgefordert zu sein, von ihm geführt zu werden.

Es wirkte auf Erik Truwor, weil alle Gäste diesen Tänzen besonderen Beifall spendeten. Weil sie alle den Schemen sahen, den der Wille Atmas ihnen aufzwang, weil er allein der Suggestion nicht unterworfen war und das unsinnig Groteske dieser Tänze voll spürte.

Er war es zufrieden, als die letzten das Haus verließen.

Gefolgt von Atma, ging er in das Laboratorium. Dort stand der neue Strahler, gekuppelt mit dem Fernseher.

»Wo mag das Paar jetzt sein?«

Der Inder antwortete nicht sogleich. Seine Augen blickten weit geöffnet in die Ferne. Langsam kamen die Worte.

»Im Süden in weiter Ferne … über schneebedeckten Bergen.«

»Du meinst im deutsch-italienischen Regierungsschiff? Wir werden sehen.«

Erik Truwor sagte es mit stolzer Befriedigung. Er richtete den Apparat. Er ließ einen leichten Energiestrom strahlen. Ein Bild erschien auf der Scheibe. Ziehende Wolken, schneebedeckte Gipfel. Die Alpenkette … das Gotthardmassiv. Ein schimmernder Punkt darüber.

Er arbeitete an den Mikrometerschrauben der Feinstellung. Er richtete und visierte.

Da wuchs der Punkt zum großen Flugschiff. Jede Schraube, jede Niete wurde erkennbar. Er mußte dauernd regulieren, um das schnell fahrende Schiff in dieser Vergrößerung nicht aus dem Gesichtsfelde zu verlieren.

Jetzt stimmten Regulierung und Flugschiffbewegung genau überein. Regungslos verharrte das Schiff in der Mitte der Bildfläche. Vorn dicht hinter der breiten Zellonscheibe der Kabine standen Silvester und Jane. Hand in Hand, glücklich lächelnd, blickten sie vor sich nieder in die fruchtbare italienische Ebene.

»Alle diese Kriegsgerüchte sind … ich will den Ausdruck unserer Zeitungsleute gebrauchen … sind stark verfrüht. Die Welt gehört den Anglosachsen. Sie wären Toren, wenn sie sich gegenseitig zerfleischen wollten. Der innere tiefliegende Grund zum Kriege fehlt, und deshalb wird es trotz allen Pressegeschreis und aller Nervosität keinen Krieg geben. Das ist meine persönliche Ansicht … und nicht meine Ansicht allein.«

Dr. Glossin sprach in der überzeugenden und beinahe hypnotisierenden Art, über die er so gut verfügte.

Lord Horace Maitland saß ihm in der Bibliothek von Maitland Castle gegenüber. »Ihre Worte in Ehren, Herr Doktor. Aber warum versucht Amerika die europäische Stahlproduktion aufzukaufen?«

Lord Horace ließ die scharfen grauen Augen forschend auf dem Arzte ruhen. Dr. Glossin hatte seine Muskeln in der Gewalt. Es war ja vorauszusehen, daß die Bemühungen der amerikanischen Agenten den Engländern nicht verborgen bleiben würden.

»Es ist eine wohldurchdachte Maßnahme des Herrn Präsident-Diktators, um den Frieden der Welt aufrechtzuerhalten.«

»Ich muß gestehen, daß mir die Zweckmäßigkeit dieses Weges nicht völlig einleuchtet.«

»Eure Herrlichkeit wissen vielleicht nicht, daß ich geborener Schotte und nur durch Naturalisation Amerikaner bin. Ich betrachte es als meine vornehmste Aufgabe, die guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu pflegen … Sie werden einwenden, daß für diesen Zweck die gegenseitigen Botschafter der beiden Mächte vorhanden sind. In erster Linie gewiß! Aber ein Botschafter ist immer eine offizielle Persönlichkeit. Was er spricht, spricht er amtlich im Namen seines Standes. Vieles darf er nicht sagen, was zu sagen doch bisweilen gut ist.«

Lord Horace strich mit beiden Händen die Zeitung auf dem Tisch glatt. Ein leichter Sarkasmus lag in den Worten seiner Erwiderung.

»Sie dagegen, Herr Doktor, sind nicht mit der Last der Amtlichkeit beschwert, obwohl wir in England ziemlich genau wissen, daß Sie der vertraute Ratgeber des Präsident-Diktators sind. Sie sprechen ganz privatim als Herr Doktor Glossin mit Lord Maitland, der zufälligerweise der Vierte Lord der englischen Admiralität ist. So meinen Sie es?«

»Genau so, Lord Horace. Und so erwidere ich denn: Wir erfuhren, daß die Agenten Englands auf dem Kontinent Kriegsmaterial in größtem Maße bestellten und kauften. Wir hätten mit gutem Rechte das gleiche tun können. Die Rüstungen beider Staaten wären dadurch bis zur Fieberhitze in die Höhe getrieben worden. Wir zogen es vor, unsere friedliche Gesinnung dadurch zu zeigen, daß wir nur den unverarbeiteten Rohstahl kauften. Es ist uns leider nicht in dem beabsichtigten Umfange gelungen. Ihre Regierung läßt nach unseren Ermittelungen Kriegsmaterial auf dem Kontinent bauen, durch das Ihre Luftstreitkräfte um fünfzig von Hundert verstärkt werden. Die Industrie auf dem Kontinent versteht es leider nur zu gut, aus der politischen Spannung Kapital zu schlagen. Immerhin werden Ihre Rüstungen durch unsere Stahlkäufe in solchen Grenzen gehalten, da wir selbst nicht neu zu rüsten brauchen.«

Die Worte Dr. Glossins verfehlten ihre Wirkung auf Lord Horace nicht. Es war richtig, daß Amerika bisher nur Stahl gekauft hatte. Den freilich in ungeheuerlichen Mengen. Noch gab sich Lord Maitland nicht gefangen.

»Sie werden die erworbenen Mengen nach den Staaten bringen und dort selbst die Waffen daraus schmieden.«

Erstaunen malte sich auf Glossins Zügen. »Wir denken gar nicht daran, die zehn Millionen Tonnen Stahl, die wir bisher erwarben, nach den Staaten zu bringen. Es genügt uns, daß sie der Kriegsindustrie entzogen sind. Und … vergessen Eure Herrlichkeit nicht … wir haben schnell gekauft. Haben noch zu erträglichen Preisen gekauft.

Eine Entspannung der politischen Lage wird über kurz oder lang eintreten. Die Völker der Welt werden sich, wie es immer nach solchen Situationen geschah, mit erneutem Eifer der Produktion für den Frieden hingeben. Aber das Rohmaterial wird dann teurer sein …« Doktor Glossin fuhr mit erhobener Stimme fort: »Dann werden wir über diesen riesenhaften Vorrat frei verfügen. Wir haben es verhindert, daß Schwerter daraus gefertigt wurden, wir werden dann Pflugscharen daraus schmieden lassen. Die Wunden, die dieser Stahl schlagen wird, sollen fruchtbringende Ackerfurchen werden. So ist es die Meinung und der Wille meines …«

Er brach jäh ab, als habe er zuviel gesagt.

»… meines Herrn, des Präsident-Diktators Cyrus Stonard«, ergänzte Lord Maitland die Worte Glossins in Gedanken. Jetzt war er überzeugt.

Der Doktor behandelte die Kriegsgefahr als nicht vorhanden. Das konnte Verstellung sein, zu plump, um einen englischen Staatsmann auch nur eine Sekunde zu täuschen. Aber Dr. Glossin entwickelte gleichzeitig ein Zukunftsgeschäft, das den Amerikanern Milliarden von Golddollars bringen mußte, wenn die Spannung sich friedlich löste. Der Größe dieser wirtschaftlichen Aussichten konnte der Engländer sich nicht entziehen. Busineß bleibt Busineß. Der Grundsatz saß zu tief im englischen Denken und Fühlen, um nicht zu wirken.

Eine Meldung des englischen Geheimdienstes hatte Lord Horace darüber unterrichtet, daß Dr. Glossin erst vor wenigen Tagen eine lange Unterredung mit Cyrus Stonard gehabt hatte. Es war außer Zweifel, daß er im Auftrage des Diktators sprach. Amerika suchte den Krieg zu vermeiden, machte dabei aber gleichzeitig ein Milliardengeschäft. Die Taktik war eines Cyrus Stonard würdig. Er vermied den Krieg, dessen Ausgang unter allen Umständen unsicher war, und schuf gleichzeitig die Prosperität, die seine Gewaltherrschaft wieder auf eine Reihe von Jahren sichern mußte.