Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

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4 „non vos me elegistis, sed ego elegi vos“ – Die Freundschaft des Kaisers

Asymmetrische Freundschaften, so hat sich gezeigt, sind ebenso alltäglich wie politisch notwendig in stratifizierten Gemeinwesen wie der römisch-kaiserzeitlichen Gesellschaft. In den Lebenswelten des Neuen Testaments stand der Kaiser (princeps) an der einsamen Spitze der sozialen und politischen Pyramide. In Habitus und Freundschaftspraxis der Kaiser greifen wir die wohl krasseste Form asymmetrischer Freundschaftsbeziehungen. Die Machtfülle des Kaisers, die mit Blick auf seine ökonomischen, militärischen und politischen Ressourcen offenkundig war, wurde im interaktionalen Spiel der Oberschicht jedoch zumeist kaschiert, da die Kaiser eben dieser Oberschicht entstammten und sowohl zur Legitimierung als auch zur konkreten Umsetzung ihrer außerordentlichen Agency auf sie angewiesen blieben. Unter dem Gesichtspunkt der Reziprozität lässt sich daher sagen, dass die Freunde (amici, comites, clientes) des Kaisers an dessen Agency sozial, politisch und symbolisch partizipierten, dass der Kaiser aber um sein soziales, politisches und symbolisches Kapital in konkreten Handlungsfeldern zu konvertieren, auf seine Freunde ebenso angewiesen war. Vom Kaiser erwartete man im Wechselspiel von beneficia und officia stetige Fürsorge (Schutz, Nothilfe, Getreideversorgung, Vergünstigungen,1 Gesten und Geschenke, Karriereförderung etc.), Großzügigkeit (benignitas)2 und Jovialität.3 Der Kaiser konnte im Gegenzug Gefolgschaft und Treue erwarten, zudem auch die Legitimation und interferenzfreie Durchsetzung seines politischen Einflusses (auctoritas) sowie symbolisches Kapital (dignitas und gravitas):

„Seleukos, euer Mitbürger und mein Admiral, der in allen Kriegen mit mir im Felde stand und viele Beweise seiner Loyalität, seiner Treue und seiner Tapferkeit gegeben hat, wurde, wie es sich für diejenigen gebührt, die mit uns zu Felde zogen und sich im Krieg auszeichneten, mit Privilegien, Steuerfreiheit und (römischem) Bürgerrecht, belohnt.“4

Von der Reziprozität der Erwartungen, Haltungen und Praktiken blieb die Asymmetrie der Machposition indes unberührt:

„Die Ungleichheit der Positionen der an den neuen Nahbeziehungen Beteiligten zeigt sich besonders anschaulich in der instrumentellen Dimension. Während die Kaiser durch Freundschafts- und Klientelbeziehungen ihre Sonderstellung weder erwerben noch erhalten konnten, war der Erhalt der kaiserlichen Gunst für die Aristokratie Bedingung ihrer politisch-sozialen Existenz und Handlungsfähigkeit.“5

Der Verlust oder der Entzug der Freundschaft des Kaisers bedeuteten daher den Entzug grundlegender sozialer und politischer Agency, mithin den sozialen oder gar physischen Tod des Betreffenden:6

„Während die Freunde des Princeps gleichsam von einem undurchdringlichen Schild geschützt werden, kann die kaiserliche Ungnade leicht als Einladung an jedermann aufgefaßt werden, den Betroffenen auf alle erdenkliche Art zu drangsalieren.“7

Um den sozialen Frieden nicht unnötig zu gefährden, scheint Augustus, anders als manche seiner Nachfolger, vom sozialen und politischen Instrument des Freundschaftsentzuges nur wenig Gebrauch gemacht zu haben. Stattdessen betont Augustus in seinem Tatenbericht nicht ohne Grund – hatte er doch das Beispiel Caesars vor Augen – und nicht ohne Zweck – wollte er doch seine umfassende Agency nicht bloßstellen und auf diese Weise gefährden – sozialen Konsens, Reziprozität und die (fingierte) Gleichheit unter Standesgenossen als Grundlagen einer politischen Herrschaft, die er faktisch seinen allen anderen überlegenen Ressourcen und seinem militärischen Erfolg in den Bürgerkriegen verdankte:

In consulatu sexto et septimo, postquam bella civilia exstinxeram, per consensum universorum potius rerum omnium, rem publicam ex mea potestate in senatus populiquae Romani arbitrium transtuli. Quo pro merito meo senatus consulto Augustus appellatus […] Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt.

In meinem sechsten und siebten Konsulat habe ich, nachdem ich die Flammen der Bürgerkriege gelöscht hatte und mit der einmütigen Zustimmung der gesamten Bevölkerung in den Besitz der staatlichen Allgewalt gelangt war, das Gemeinwesen aus meiner Machtbefugnis wieder der Ermessensfreiheit des Senats und des römischen Volkes überantwortet. Für dieses mein Verdienst wurde mir auf Beschluss des Senats der Name Augustus gegeben. […] Seit dieser Zeit überragte ich alle übrigen an Autorität, an Amtsgewalt aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte.8

Besonders prägnant wird der Freundschaftshabitus der Kaiser in der Korrespondenz, die uns von Augustus und Trajan überliefert ist, erkennbar. Beide galten als ideale Kaiser (principes) und als modellhafte Vorbilder (exempla) für den angemessenen Umgang mit Klienten und Standesgenossen. In ihren Briefen, die Ausdruck einer kommunikativen Freundschaftspraxis sind,9 zeigen diese Kaiser Nähe durch Wohlwollen und Jovialität gegenüber ihren Kommunikationspartnern, die sich in der Summe als Habitus interpretieren lassen. So schreibt etwa Augustus an den sozial deutlich niedriger stehenden Horaz:

Sume tibi aliquid iuris apud me, tamquam si convictor mihi fueris; recte enim et non temere fecteris, quoniam id usus mihi tecum esse volui, si per valitudinem tuam fieri possit.

Nimm die bei mir etwas von dem Recht eines Hausgenossen heraus; denn du würdest so richtig und nicht ohne Grund handeln, da ich ja diesen engen Umgang mit dir wünsche, wenn es mit Rücksicht auf deine Gesundheit geschehen kann.10

Die soziale und politische Ungleichheit, selbst unter vorgeblichen Standesgenossen, nahm in der Zeit zwischen der Herrschaft des Augustus und der Herrschaft Trajans stetig zu. Im Briefwechsel zwischen Trajan und Plinius korrespondiert dieser zunehmenden sozialen und politischen Ungleichheit die gesteigerte Betonung von affektiver Nähe und der betont joviale Habitus des Kaisers gegenüber seinem Statthalter:11

Recte renuntiasti, mi Secunde carissime, Pertinet enim ad animum meum, quali itinere provinciam pervenias. Prudenter autem constituis interim navibus, interim vihiculis uti, prout loca suaserint.

Du hattest ganz recht, mein lieber Secundus, mir Meldung zu erstatten. Es ist mir schon wichtig zu wissen, wie Deine Reise in die Provinz verläuft. Du hast klug daran getan, bald zu Schiff, bald im Wagen zu reisen, ganz wie es nach den örtlichen Verhältnissen geraten scheint.12

Merito habuisti, Secunde carissime, fiduciam animi mei nec dubitandum fuisset, si exspectasses donec me consuleres, an iter uxoris tuae diplomatibus, quae officio tuo dedi, adiuvandum esset, cum apud amitam suam uxor tua deberet etiam celeritate gratiam adventus sui augere.

Mit Recht hast Du, mein lieber Secundus, Vertrauen zu mir gehabt. Du hättest auch keine Bedenken haben müssen, wenn Du meine Antwort auf die Frage abgewartet hättest, ob Du Deiner Gattin durch Reisepässe, die ich Dir zu Deinem Amtsgebrauch ausgehändigt hatte, ihre Fahrt erleichtern durftest. Denn Deine Frau mußte doch bei ihrer Tante die Freude über ihren Besuch durch eine rasche Ankunft noch steigern.13

Nähe und persönliches Interesse sind hier Teil einer interaktionalen Freundschaftspraxis. Die Reziprozität in der wechselseitigen Anrede in der Korrespondenz zwischen Plinius und Trajan offenbart allerdings die krasse Asymmetrie in ihrem Freundschaftsverhältnis. Der ebenso formal höflichen wie jovialen Anrede Trajans an Plinius mit „(mein) lieb(st)er Secundus“ ((mi) Secunde carissime) korrespondiert die Anrede „Herr“ (domine), die nicht zuletzt eine Anerkennung der überlegenen Machtposition des Kaisers darstellt und die im Ton noch zur Zeit des Augustus unter senatorischen Freunden wohl kaum angemessen erschienen wäre:

Opto, domine, et hunc natalem et plurimos alios quam felicissimos agas aeternaque laude florentem virtutis tuae gloriam … quam incolumis et fortis aliis super alia operibus augebis.

Ich wünsche, o Herr, Du mögest diesen Geburtstag und noch möglichst viele weitere recht glücklich verleben und den in ewiger Verherrlichung blühenden Ruhm Deiner Tugenden gesund und schaffensfroh durch immer neue Taten mehren.

Agnosco vota tua, mi Secunde carissime, quibus precaris, ut plurimos et felicissimos natales florente statu rei publicae nostrae agam.

Ich nehme Deine Glückwünsche gerne entgegen, mein lieber Secundus, in denen Du den Wunsch aussprichst, daß ich noch möglichst viele und recht glückliche Geburtstage verleben möchte, während unser Staatswesen in Blüte steht.14

In stark asymmetrischen Freundschaftsbeziehungen schließen sich die Begriffe „Herr“ und „Freund“ keineswegs aus, sondern bedingen einander als Anerkennungspraxis im Kontext einer asymmetrischen Reziprozität,15 wie nicht nur die Korrespondenz von Plinius und Trajan, sondern auch ein Blick in das Johannesevangelium aufzeigt.

5 „vos amici mei estis, si feceritis quae ego praecipio vobis“ – Die Freundschaft Jesu

Bereits Aristoteles hatte auf die Schwierigkeit hingewiesen, dass die Distanz zwischen Göttern und Menschen eine Freundschaft erschwert, wenn nicht unmöglich macht.1 Die Figurenzeichnung Jesu im Johannesevangelium rückt ihn aufgrund seiner Herkunft und seiner Agency textweltlich nahe an (einen) Gott heran. Lebensweltlich erinnert Jesus qua Herkunft, Agency und Praxis an den Kaiser – nicht zuletzt mit Blick auf Habitus und Praxis der Freundschaft. In lebensweltlicher Perspektive lässt die Freundschaft Jesu daher kaum an die symmetrische Freundschaft unter Gleichen denken, sondern an eine in hohem Maße asymmetrische Freundschaft.2

 

Jesu Habitus und Praxis der Freundschaft sind in der Textwelt des Johannesevangeliums die eines mächtigen Patrons: Die Freundschaftsbeziehung Jesu zu seinen Schülern geht explizit von Jesus als dem Mächtigeren aus:3

15 οὐκέτι λέγω ὑμᾶς δούλους, ὅτι ὁ δοῦλος οὐκ οἶδεν τί ποιεῖ αὐτοῦ ὁ κύριος· ὑμᾶς δὲ εἴρηκα φίλους, ὅτι πάντα ἃ ἤκουσα παρὰ τοῦ πατρός μου ἐγνώρισα ὑμῖν. 16 οὐχ ὑμεῖς με ἐξελέξασθε, ἀλλ’ ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς καὶ ἔθηκα ὑμᾶς ἵνα ὑμεῖς ὑπάγητε καὶ καρπὸν φέρητε καὶ ὁ καρπὸς ὑμῶν μένῃ, ἵνα ὅ τι ἂν αἰτήσητε τὸν πατέρα ἐν τῷ ὀνόματί μου δῷ ὑμῖν. (Joh 15,15f.)

Joh 15,15 Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. 16 Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er's euch gebe. (Übers. Luther 2017)

Sprachlich zeigt sich diese asymmetrische Beziehungspraxis Jesu auch mit Blick auf die Freundschaft zu Lazarus oder dem Lieblingsjünger, wenn in beiden Fällen betont wird, dass es Jesus ist, der ihnen freundschaftlich liebend zugetan ist.4 Praktisch äußert sich die Freundschaft Jesu in konkreten beneficia, die er auf Bitten seiner Mutter anlässlich einer Hochzeit (Joh 2,1–11) und auf Bitten eines königlichen Beamten (Joh 4,46–54) in Kana tut. Als reziproke Reaktion der Empfänger dieser Wohltaten wird explizit Vertrauen bzw. Treue (griech. πίστις / lat. fides) genannt.5 Aber auch Gefolgschaft (Nachfolge) wird als angemessene Erwiderung der Freundschaft Jesu genannt.6 Überaus bezeichnend für die Wahrnehmung der beneficia-Praxis Jesu in Analogie zur kaiserlichen Freundschaftspraxis ist Joh 6,1–15: Jesus kümmert sich um die Nahrungsmittelversorgung seiner Anhänger. Lebensweltlich plausibel – oblag nicht seit Pompeius, Caesar und Augustus die cura annonae traditionell dem ersten Mann im Staat? – wollen ihn diese daraufhin zu ihrem Herrscher machen. Jesus entzieht sich allerdings diesem politisch brisanten Ansinnen:

14 Οἱ οὖν ἄνθρωποι ἰδόντες ὃ ἐποίησεν σημεῖον ἔλεγον ὅτι οὗτός ἐστιν ἀληθῶς ὁ προφήτης ὁ ἐρχόμενος εἰς τὸν κόσμον. 15 Ἰησοῦς οὖν γνοὺς ὅτι μέλλουσιν ἔρχεσθαι καὶ ἁρπάζειν αὐτὸν ἵνα ποιήσωσιν βασιλέα, ἀνεχώρησεν πάλιν εἰς τὸ ὄρος αὐτὸς μόνος. (Joh 6,14f.)

14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll. 15 Da Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er allein. (Übers. Luther 2017)

Wie in der Korrespondenz zwischen Plinius und Trajan wird im Johannesevangelium die reziproke Asymmetrie der Freundschaft zwischen Jesus und seinen Schülern durch die ungleichen Anreden „Herr“ (κύριος, vgl. Joh 13,13) und „Freunde“ (φίλοι, vgl. Joh 15,14f.) kommunikationspraktisch zum Ausdruck gebracht. Hierin liegt kein Widerspruch in der Freundschaftspraxis, sondern vielmehr eine Geste wechselseitiger Anerkennung und damit der Freundschaftspflege vor. Dass die Reziprozität dieser Freundschaft unter Ungleichen, mithin das lebensweltlich alltägliche Wechselspiel von officia und beneficia, auch auf Seiten der schwächeren Partner legitime Erwartungshaltungen generierte, die, wenn sie enttäuscht wurden, zu einer Irritation der Freundschaft führen konnten, belegt eindrücklich Joh 11,1–45. Gehorsam und Vertrauen gab es auch für Jesus nicht gratis.

Praktizierte und affektive Nähe als Bestandteil der Freundschaftspraxis Jesu wird nicht im Verhältnis zu allen Schülern und Freunden deutlich, sondern wird, neben Lazarus, Maria und Martha, auf den Lieblingsjünger fokussiert.7 Dennoch gibt es zwischen Jesus und dem engeren Schülerkreis „ostentative Gesten der Nähe“8, um die Distanz zwischen dem Herrn und seinen Freunden zu überbrücken.9 Die von Jesus als dem Patron ausgehende Freundschaft erfüllt mit Blick auf den weiteren Kreis seiner Schüler und Freunde eine Integrationsleistung, indem sie eine Beziehung zwischen diesen etabliert: Erst die Freundschaft Jesu zu ihnen macht sie untereinander zu Freunden:

34 Ἐντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀγαπᾶτε ἀλλήλους. 35 ἐν τούτῳ γνώσονται πάντες ὅτι ἐμοὶ μαθηταί ἐστε, ἐὰν ἀγάπην ἔχητε ἐν ἀλλήλοις. (Joh 13,34f.)

34 Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. 35 Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. (Übers. Luther 2017)

9 Καθὼς ἠγάπησέν με ὁ πατήρ, κἀγὼ ὑμᾶς ἠγάπησα· μείνατε ἐν τῇ ἀγάπῃ τῇ ἐμῇ. 10 ἐὰν τὰς ἐντολάς μου τηρήσητε, μενεῖτε ἐν τῇ ἀγάπῃ μου, καθὼς ἐγὼ τὰς ἐντολὰς τοῦ πατρός μου τετήρηκα καὶ μένω αὐτοῦ ἐν τῇ ἀγάπῃ. 11 Ταῦτα λελάληκα ὑμῖν ἵνα ἡ χαρὰ ἡ ἐμὴ ἐν ὑμῖν ᾖ καὶ ἡ χαρὰ ὑμῶν πληρωθῇ. 12 Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς. (Joh 15,9–12)

9 Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe! 10 Wenn ihr meine Gebote haltet, bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich meines Vaters Gebote gehalten habe und bleibe in seiner Liebe. 11 Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. 12 Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe. (Übers. Luther 2017)

In der Freundschaft Jesu erhalten die Schüler Anteil an der Agency ihres Herrn:10

4 μείνατε ἐν ἐμοί, κἀγὼ ἐν ὑμῖν. καθὼς τὸ κλῆμα οὐ δύναται καρπὸν φέρειν ἀφ’ ἑαυτοῦ ἐὰν μὴ μένῃ ἐν τῇ ἀμπέλῳ, οὕτως οὐδὲ ὑμεῖς ἐὰν μὴ ἐν ἐμοὶ μένητε. 5 ἐγώ εἰμι ἡ ἄμπελος, ὑμεῖς τὰ κλήματα. ὁ μένων ἐν ἐμοὶ κἀγὼ ἐν αὐτῷ οὗτος φέρει καρπὸν πολύν, ὅτι χωρὶς ἐμοῦ οὐ δύνασθε ποιεῖν οὐδέν. 6 ἐὰν μή τις μένῃ ἐν ἐμοί, ἐβλήθη ἔξω ὡς τὸ κλῆμα καὶ ἐξηράνθη καὶ συνάγουσιν αὐτὰ καὶ εἰς τὸ πῦρ βάλλουσιν καὶ καίεται. 7 ἐὰν μείνητε ἐν ἐμοὶ καὶ τὰ ῥήματά μου ἐν ὑμῖν μείνῃ, ὃ ἐὰν θέλητε αἰτήσασθε, καὶ γενήσεται ὑμῖν. (Joh 15,4–7)

4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. 7 Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. (Übers. Luther 2017)

Notwendige Bedingung dieser Übertragung von Agency ist das reziproke Fortbestehen der Freundschaft Jesu und des auf sie gegründeten Gehorsams:

ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν. (Joh 15,14)

Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. (Übers. Luther 2017)

Friktionen und Vertrauensbrüche müssen indes weder in den Lebenswelten noch in der Textwelt des Johannesevangeliums mit einem unwiderruflichen Beziehungsabbruch oder gar mit einer Feindschaftsbeziehung enden, bestehen doch vielfältige Möglichkeiten der Versöhnung.11 Eine solche Versöhnungsgeste stellt der Redegang zwischen Jesus und Petrus in Joh 21,15–19 dar. Die von Jesus inszenierte reziproke Geste der Versöhnung entspricht der dreimaligen Verleugnung der Freundschaftsbeziehung durch Petrus in Joh 18,16–27 und führt zu einer vollständigen Heilung der entstandenen Friktion.

Praxis und Habitus der Freundschaft Jesu sind im Johannesevangelium als asymmetrische Freundschaft konzipiert. Wichtig zur Aufrechterhaltung der Freundschaftsbeziehung sind auch hier reziproke Haltungen, Gesten und Praktiken der beteiligten Akteure: Wohltaten können erwiesen oder zurückgehalten werden, Vertrauen und Nähe können geschenkt oder entzogen werden, Machtverhältnisse anerkannt oder geleugnet, Erwartungen erfüllt oder frustriert. Entscheidend bleibt auch im Johannesevangelium das interaktionale Spiel einer sozialen Beziehungs-, Kommunikations- und Integrationspraxis, d. h. Haltungen und Praktiken, die Freundschaft und die mit ihr verbundene Agency ermöglichen und erhalten.

6 „obsecro te“ (per amicitiam) – Die Freundschaft des Paulus

Die Vulgata übersetzt das Syntagma παρακαλῶ σε in Phlm 10 mit obsecro te und generiert auf diese Weise im Kontext eines Freundschaftsdiskurses eine intertextuelle Verbindung zu Terenz, Andria, II,1, wo das Syntagma nunc te per amicitiam et amorem obsecro in der Kommunikation zwischen gleichrangigen Freunden begegnet.1 Auf den ersten Blick mag die briefliche Kommunikation zwischen Paulus und Philemon als Ausdruck und Praxis einer symmetrischen Freundschaftsbeziehung erscheinen.2 Doch auf den zweiten Blick wird diese Wahrnehmung durch kommunikative Machtgesten gestört:

8 Διὸ πολλὴν ἐν Χριστῷ παρρησίαν ἔχων ἐπιτάσσειν σοι τὸ ἀνῆκον 9 διὰ τὴν ἀγάπην μᾶλλον παρακαλῶ, τοιοῦτος ὢν ὡς Παῦλος πρεσβύτης νυνὶ δὲ καὶ δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ·10 παρακαλῶ σε περὶ τοῦ ἐμοῦ τέκνου, ὃν ἐγέννησα ἐν τοῖς δεσμοῖς, Ὀνήσιμον (Phlm 8–10)

8 Darum, obwohl ich in Christus alle Freiheit habe, dir zu gebieten, was zu tun ist, 9 will ich um der Liebe willen eher bitten, so wie ich bin: Paulus, ein alter Mann, nun aber auch ein Gefangener Christi Jesu. 10 So bitte ich dich wegen meines Kindes Onesimus, den ich gezeugt habe in der Gefangenschaft (Übers. Luther 2017)

17 εἰ οὖν με ἔχεις κοινωνόν, προσλαβοῦ αὐτὸν ὡς ἐμέ. 18 εἰ δέ τι ἠδίκησέν σε ἢ ὀφείλει, τοῦτο ἐμοὶ ἐλλόγα. 19 ἐγὼ Παῦλος ἔγραψα τῇ ἐμῇ χειρί, ἐγὼ ἀποτίσω· ἵνα μὴ λέγω σοι ὅτι καὶ σεαυτόν μοι προσοφείλεις. (Phlmn 17–19)

17 Wenn du mich nun für deinen Freund hältst, so nimm ihn auf wie mich selbst. 18 Wenn er aber dir geschadet hat oder etwas schuldig ist, das rechne mir an. 19 Ich, Paulus, schreibe es mit eigener Hand: Ich will's bezahlen; ich schweige davon, dass du dich selbst mir schuldest. (Übers. Luther 2017)

Paulus und Philemon verbindet eine asymmetrische Freundschaft, in der Paulus über das Handlungspotential verfügt, Philemon zu gebieten und von ihm Gehorsam einzufordern:

Πεποιθὼς τῇ ὑπακοῇ σου ἔγραψά σοι, εἰδὼς ὅτι καὶ ὑπὲρ ἃ λέγω ποιήσεις. (Phlm 21)

Im Vertrauen auf deinen Gehorsam schreibe ich dir; denn ich weiß, du wirst mehr tun, als ich sage. (Übers. Luther 2017)

Die Machtgesten werden indes von einem ausgeprägten Habitus der Jovialität flankiert, wie er in asymmetrischen Freundschaftsbeziehungen lebensweltlich gängige Praxis war. Dies zeigt sich etwa in der affektiv gestalteten Anrede in Phlm 1 (Φιλήμονι τῷ ἀγαπητῷ) oder in der langen Captatio Benevolentiae in Phlm 4-7 und der explizierten Bitte in Phlm 20. In den Kontext jovialer Gesten gehört auch die beabsichtigte Inanspruchnahme der Gastfreundschaft des Philemon.3 Der joviale Habitus des Paulus hat dabei erkennbar konfliktreduzierenden Charakter,4 indem er die Agency des Philemon nicht antastet, die dieser wiederum zur Erfüllung des paulinischen Anliegens benötigt:

χωρὶς δὲ τῆς σῆς γνώμης οὐδὲν ἠθέλησα ποιῆσαι, ἵνα μὴ ὡς κατὰ ἀνάγκην τὸ ἀγαθόν σου ᾖ ἀλλὰ κατὰ ἑκούσιον. (Phlm 14)

Aber ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, damit das Gute dir nicht abgenötigt wäre, sondern freiwillig geschehe. (Übers. Luther 2017)

Worum geht es nun in dieser asymmetrischen Kommunikation unter Freunden? Es geht um das Erweisen von beneficia: Paulus will dem Sklaven Onesimus durch Vermittlung bei seinem Herren Philemon einen Gefallen erweisen, indem er für ihn interzediert. Paulus begibt sich damit situativ in die Rolle eines patronus der für den Schutz seines cliens Onesimus sorgen will, obgleich dieser ein Sklave und im Besitz eines anderen Akteurs ist. Paulus bittet daraufhin Philemon als Freund angesichts der beiderseitigen, wenngleich asymmetrischen amicitia um einen Gefallen (beneficium) im Interesse des Onesimus. Paulus nutzt seine Agency, um die Agency eines Anderen für einen Dritten in Anspruch zu nehmen. Dass eine solche Interzessionspraxis für das Wohl eines Sklaven lebensweltlich nicht unplausibel erscheinen muss, zeigt Petrons Gastmahl des Trimalchio, ein mit den Paulusbriefen zeitgenössischer Text:

 

ceterum ut pariter movimus [dextros] gressus, servus nobis despoliatus procubuit ad pedes ac rogare coepit, ut se poenae eriperemus: nec magnum esse peccatum suum, […] rettulimus ergo dextros pedes dispensatoremque in oecario aureos numerantem deprecati sumus, ut servo remitteret poenam. superbus ille sustulit vultum et 'non tam iactura me movet' inquit 'quam neglegentia nequissimi servi. […] Quid ergo est? dono vobis eum'. obligati tam grandi beneficio cum intrassemus triclinium, occurrit nobis ille idem servus, pro quo rogaveramus, et stupentibus spississima basia impegit gratias agens humanitati nostrae.

Als wir denn nun gleichmäßig antraten, fiel uns mit entblößtem Rücken ein Sklave zu Füßen und hob zu bitten an, wir möchten ihn vor seiner Strafe retten: es sei auch kein schweres Vergehen […] Wir zogen also unsere rechten Füße wieder zurück, um uns bei dem Kassierer, der in seiner Loge Goldstücke zählte, dafür zu verwenden, er möchte dem Sklaven die Strafe erlassen. Der setzte eine hochnäsige Miene auf und sagte: „Der Schaden regt mich weniger auf als die Fahrlässigkeit des Sklaven, der ein ganzer Taugenichts ist. […] Also was solls? Ihr könnt ihn haben.“ Wir zeigten uns für einen derart großzügigen Gunstbeweis verpflichtet und betraten den Speisesaal. Da kam uns eben der Sklave von vorhin, für den wir ein Wort eingelegt hatten, entgegen und ließ zum Dank für unsere Freundlichkeit einen solchen Kußregen aus uns niederprasseln, daß wir fassungslos waren.5

Bei Paulus ist die Interzessionspraxis begründet in der Zuneigung zu dem namentlich genannten Sklaven Onesimus6 und zudem Bestandteil eines freundschaftlichen Habitus, während sie bei Petron auf eine allgemeine humanitas zurückgeführt wird. Der Kassierer überbietet die Bitte der Gäste beim Gastmahl und verschenkt den namenlosen Sklaven – jedoch nicht aufgrund einer freundschaftlichen Haltung gegenüber den Gästen, sondern aufgrund eines nonchalanten Desinteresses für den Sklaven. Wir wüssten gern, ob und wenn ja wie Philemon, der nach den Andeutungen des Paulus in Phlm 11 und Phlm 18 mit seinem Sklaven auch nicht zufrieden war, der ebenso freundschaftlich wie machtbewusst vorgetragenen Bitte seines Freundes Paulus entsprochen hat. Zu unserem Bedauern ist die Antwort und damit die Kommunikations- und Freundschaftspraxis des Philemon im Rahmen dieser asymmetrischen Freundschaft nicht überliefert. Sollte diese Freundschaft Bestand haben, hätte Philemon seiner Freundespflicht nachkommen und, dem Gebot der Reziprozität folgend, in seiner Antwort wie in seinem Handeln den Wünschen des Paulus entsprechen müssen. Von Onesimus hätte Paulus im Fall der erfolgreichen Interzession zum einen Dank und zum anderen die Verpflichtung auf seine Person erwarten können. Die Praxis der Freundschaft im Philemonbrief macht wiederum deutlich, dass in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments freundschaftliche officia und beneficia einander bedingen. Freundschaft ist vor allem eines: die reziproke Haltung und Praxis einer positiv konnotierten Beziehung.

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