Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

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2 „sine me nihil potestis facere“ – Freundschaft als Habitus und Agency

Platon, Aristoteles, Cicero und Seneca verdanken wir wichtige explizite Modelle von Freundschaft in den Lebenswelten des Neuen Testaments.1 Ihre diskursiven Texte sind zugleich Beschreibungen, Reflexionen und Normierungsversuche lebensweltlich vorfindlicher Freundschaftspraktiken. Die Modelle von Freundschaft sind dabei ebenso wenig einheitlich wie die Lebenswelten, die sie geprägt haben.2 Platon als adliger Bürger der Polis Athen fragt in individualistischer Perspektive nach dem Wesen der Freundschaft und bezieht im Kontext griechischer Kultur auch erotische Aspekte mit ein. Sein Schüler Aristoteles zeigt sich an einer empirisch wie philosophisch orientierten Gesamtschau von Freundschaftskonzepten und Freundschaftspraktiken interessiert. Unter dem Stichwort Freundschaft entwirft er eine Theorie positiv konnotierter Beziehungen und Bindungen im Kontext einer allgemeinen Tugendethik und einer Ethik des gelingenden Lebens. Für Aristoteles ist die reziproke Freundschaft unter Gleichen das Ideal, das sich sowohl den Adels- als auch den Bürgerkonzepten griechischer Poleis verdankt. Dem Phänomen von Freundschaften im politischen Feld steht Aristoteles eher skeptisch gegenüber:

Die Mächtigen scheinen verschiedene Arten von Freunden zu haben, denn die einen sind ihnen nützlich, andere wieder angenehm, beides aber sind dieselben so gut wie nie.3

denn Freunde im Sinne echter Kameradschaft kommen nur selten vor; und die von den Dichtern besungenen Freundschaften bestehen immer nur zwischen zweien. Wer aber viele Freunde hat und mit allen auf vertrautem Fuß steht, scheint niemandes Freund zu sein, außer es handelt sich um eine politische Freundschaft; einen solchen Menschen nennt man einen Schmeichler. Im Sinne einer solchen politischen Freundschaft kann man allerdings viele Freunde haben, ohne deshalb ein Schmeichler zu sein, auch als wirklich anständiger Mensch.4

Cicero, der sich in vielerlei Hinsicht an Aristoteles anschließt, sieht hingegen gerade auch in den politischen Dimensionen der Freundschaft ihren Wert begründet:

Quodsi exemeris ex rerum natura benivolentiae coniunctionem, nec domus ulla nec urbs stare poterit, ne agri quidem cultus permanebit. Id si minus intellegitur, quanta vis amicitiae concordiaeque sit, ex dissensionibus atque ex discordiis percipi potest. Quae enim domus tam stabilis, quae tam firma civitas est quae non odiis et discidiis funditus possit everti? Ex quo quantum boni sit in amicitia, iudicari potest.

Nimmt man jedoch die Bande der Zuneigung aus der Welt, dann kann keine Hausgemeinschaft, keine Stadtgemeinde mehr bestehen, nicht einmal die Feldbestellung kann weitergehen. Wem es weniger einleuchtet, wie stark einträchtige Freundschaft wirkt, dem wird es im Blick auf Uneinigkeit und Zwietracht klarwerden. Denn welche Hausgemeinschaft, welche Bürgerschaft ist so gesichert, dass sie nicht durch Hass und Zwietracht von Grund aus zerstört werden könnte? Hieran lässt sich ermessen, wie viel Wert in der Freundschaft liegt.5

Seneca schließlich liefert in De beneficiis nicht weniger als eine umfassende Theorie des sozialen Gabentauschs unter den gesellschaftlichen Bedingungen der Principatszeit, in der zum einen die tradierten Freundschaftspraktiken fortgesetzt wurden, zum anderen aber Freundschaftsnetzwerke dem Kaiser politisch suspekt erscheinen konnten:

De beneficiis dicendum est et ordinanda res, quae maxime humanam societatem adligat; danda lex vitae, ne sub specie benignitatis inconsulta facilitas placeat, ne liberalitatem, quam nec deesse oportet nec superfluere, haec ipsa observatio restringat, dum temperat;

Über Wohltaten ist zu sprechen, und für einen Sachverhalt sind Regelungen zu treffen, der die menschliche Gesellschaft am meisten zusammenhält; gegeben werden muß dem Leben ein Gesetz, damit nicht unter dem Anschein der Güte unberatene Willfährigkeit gefällt, damit nicht eben dieser Grundsatz die Großzügigkeit, die weder fehlen darf noch überborden, einschränkt, während er sie mäßigt;6

In den Texten des Neuen Testaments finden sich anders als bei Platon, Aristoteles, Cicero und Seneca eher implizite Modelle von Freundschaft, sowohl in den narrativen Texten (hier vor allem im Lukas- und im Johannesevangelium), als auch in diskursiven Texten bei Paulus (vgl. exemplarisch den Brief an Philemon). Insgesamt ist eine lebensweltliche Grundierung der neutestamentlichen Textwelten durch Konzepte und Praktiken von Freundschaft festzustellen. Neben jüdischen und hellenistischen Freundschaftspraktiken und Konzepten ist m.E. für die Texte des Neuen Testaments vor allem die römische Freundschaftspraxis von eminenter Bedeutung. Römisch geprägte Praktiken, mentale Modelle, Begriffe und Konzepte von Freundschaft waren durch die Expansion und die Integrationskraft des Imperium Romanum seit Generationen in den Lebenswelten der neutestamentlichen Texte und ihrer Autoren präsent. Nicht nur der Senat, der 40 v.Chr. Herodes den Großen mit dem Titel rex et amicus populi Romani geehrt hatte, und Führungspersönlichkeiten wie Sulla, Pompeius, Caesar, Antonius, Augustus sowie spätere Kaiser unterhielten auf freundschaftlichen Semantiken und Praktiken basierende Beziehungen und Netzwerke, sondern auch Senatoren, Ritter,7 Anhänger spezifischer Kulte, Kaufleute und andere Berufsgruppen, die teils in collegia8 organisiert waren, knüpften und pflegten soziale Netzwerke,9 die nach antiken Maßstäben den Kategorien einer Freundschaftsbeziehung entsprachen. Diese politischen, sozialen, beruflichen und religiösen Freundschaftsnetzwerke innerhalb der imperialen, regionalen und lokalen Ober- und Mittelschichten trugen nicht wenig zur Romanisierung und Romanisation der Provinzen des Imperium Romanum bei. Die Lebenswelten der neutestamentlichen Texte waren entsprechend geprägt von den Semantiken, Praktiken und Konzepten römisch-hellenistischer Freundschaftsbeziehungen. Man könnte mit einigem Recht sagen, dass trotz der vorgeblichen Sprachdifferenz Cicero und Seneca sowie die Korrespondenzen eines Augustus oder Plinius den neutestamentlichen Texten lebensweltlich näher stehen als Aristoteles oder Platon. Dass man den beiden letztgenannten dennoch nicht ihre bleibende lebensweltliche Bedeutung absprechen darf, ergibt sich aus ihrer lebendigen Tradierung innerhalb der römisch-hellenistischen Kultur10 und aus der Trägheit einer habitualisierten Praxis, die durch das Fortbestehen sowohl hellenistischer als auch republikanischer Freundschaftspraktiken in der Kaiserzeit belegt ist.11

Anders als die mentalen Modelle in den Lebenswelten der neutestamentlichen Texte, die sich lediglich aus Konzepten und Praktiken von Freundschaft rekonstruieren lassen, sind uns eben jene Praktiken weitaus besser zugänglich. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier einige dieser Freundschaftspraktiken zu nennen12 und zu interpretieren.

Seneca benennt in De beneficiis lebensweltlich gängige Praktiken der Freundschaft, wie finanzielle Unterstützung (vgl. auch 1Joh 3,17), das Übernehmen von Bürgschaften, das Geltendmachen von Einfluss sowie das Ratgeben:

Ne cessaveris, opus tuum perage et partes boni viri exequere. Alium re, alium fide, alium gratia, alium consilio, alium praeceptis salubribus adiuva.

Zögere nicht, dein Werk setz fort und verfolge die Aufgabe eines Mannes von Wert. Einen unterstütze mit Geld, einen anderen mit Bürgschaft, einen anderen mit Einfluß, einen anderen mit Rat, einen anderen mit heilsamen Lehren.13

Zu ergänzen sind wesentliche Praktiken wie Gerichtshilfe, der Austausch von Geschenken, politische Unterstützung und die testamentarische Berücksichtigung von Freunden. Auch das Gewähren von Gastfreundschaft sowie die gemeinsame Gestaltung von Freizeit und hier nicht zuletzt das gemeinsame Speisen14 (lat. convivium15, das schon aufgrund seiner Grundbedeutung deutlich mehr umfasst als das griechische Symposion) sind zentrale Freundschaftspraktiken in den Lebenswelten des Neuen Testaments. Eine römische Besonderheit stellen die salutationes dar, eine als morgendliche Begegnung ritualisierte Kommunikationspraxis zwischen Patron und Klient, um ihre freundschaftliche Beziehung zum Ausdruck zu bringen.16

Das semantische Feld der Akteure, die an einer Freundschaft beteiligt sind, umreißt die sozialen Felder und Funktionen, in denen freundschaftliche Bindungen von Bedeutung sind: amicus bezeichnet zunächst den Freund und Gefährten, aber auch den Geliebten sowie innen- und außenpolitisch den Verbündeten; in der Kaiserzeit tragen Vertraute und Höflinge des Kaisers die Bezeichnung amicus,17 die sich mehr und mehr zu einem Titel verfestigt.18 Für Verwandte wie vertraute Freunde kann der Begriff familiaris gebraucht werden, der nicht zuletzt anzeigt, dass die semantischen Grenzen zwischen Freundschaft und Verwandtschaft in der römischen Gesellschaft weniger strikt gezogen waren als in gegenwärtigen Freundschaftskonzepten.19 Als Freundschaft bzw. amicitia gilt in der römischen Gesellschaft auch das asymmetrische Verhältnis von patronus und cliens,20 d. h. der gesamte Bereich sozialer und politischer Bindungen, die mit Begriffen wie Patronage, Treu- und Nahverhältnisse sowie Bindungswesen umschrieben und in der Forschung analysiert werden.21 Freundschaftsbeziehungen waren ebenso privater wie politischer Natur.

„Jedoch wurde niemals ernsthaft angestrebt, zwischen den verschiedenen Bindungsarten eine Hierarchie herzustellen – anders als dies der moderne Staat tut, der die Loyalität gegenüber seiner (gesetzlichen) Ordnung den anderen Loyalitäten überordnet“.22

Freundschaft beschreibt vielfältige, in der Regel nicht exklusive, sondern multipolare23 Beziehungen und Bindungen „horizontaler, vertikaler und geschichtlich-generationeller Natur“24, die sich, etwa mit Blick auf Symmetrien und Asymmetrien, auf Verbindlichkeit oder Affektivität, graduell, nicht aber substantiell unterscheiden lassen.

 

In den Kontext der Frage nach den Akteuren von Freundschaft gehört auch die Frage nach den Affekten der Beteiligten. Hier gilt es festzuhalten, dass Freundschaftsbeziehungen in der Regel von den beteiligten Akteuren positiv konnotiert werden und – wenngleich in sehr unterschiedlichen Graden – emotional aufgeladen sind.25 Affekt und Praxis von Freundschaft sind auf Reziprozität angelegt,26 da ohne diese keine Beziehung etabliert werden kann. Diesen Gedanken formuliert schon Aristoteles, wenn er schreibt: „Denn das Wohlwollen, das auf Gegenseitigkeit beruht, nennt man Freundschaft.“27 Und an anderer Stelle führt er mit besonderem Blick auf asymmetrische Beziehungen aus: „In allen Freundschaftsverhältnissen, die auf Überlegenheit beruhen, muss die Liebe proportional sein;“28 denn: „In allen ungleichartigen Freundschaften schafft, wie gesagt, die Proportion den Ausgleich und bewahrt die Freundschaft“29. Cicero weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Freundschaft zumindest der Suggestion von gleicher Augenhöhe bedarf: „Sed maximum est in amicitia parem esse inferiori.“ „Ganz wichtig ist es ferner, sich in der Freundschaft mit einem Rangniedrigeren auf die gleiche Stufe zu stellen.“30

Es liegt auf der Hand, dass Freundschaft als mentales Modell für die befreundeten Akteure zwar immer latent präsent sein mag, dass sich Affekte und Praktiken der Freundschaft im Alltag aber nicht beliebig oder gar unablässig realisieren lassen. Freundschaft bedarf konkreter Gelegenheiten der Aktualisierung.

Ist es aber möglich jenseits dieser Gelegenheiten vom Bestehen einer Freundschaft zu sprechen? Das ist dann möglich und angemessen, wenn man Freundschaft im Sinne der römischen Semantiken als eine praxisbezogene Disposition begreift. Sallust schreibt: „nam idem velle atque idem nolle, ea demum firma amicitia est.“ „denn dasselbe wollen und dasselbe nicht wollen, das erst ist feste Freundschaft“.31 Freundschaft realisiert sich in reziproker Weise im Zusammenspiel von freundschaftlicher Haltung (praxisbezogene Dispositionen) und freundschaftlicher Praxis (praktische Konkretionen). Freundschaft ist dann gegeben, wenn die beteiligten Akteure für einander Gutes wollen (benevolentia), einander Gutes tun (beneficia), wechselseitig wohltätig sind (benignitas)32 und wenn sie einander Vertrauen und Treue erweisen (fides bzw. fiducia):

Firmamentum autem stabilitatis constantiaeque est, eius quam in amicitia quaerimus, fides; nihil est enim stabile quod infidum est.

Der Grundpfeiler einer solchen Beständigkeit und Festigkeit, wie wir sie in der Freundschaft suchen, ist die Treue, denn es gibt keine Beständigkeit, wo die Treue fehlt.33

Freundschaft ist eine ebenso leibliche wie mentale praxisbezogene Haltung,34 eine positiv und reziprok ausgerichtete Disposition, die sich in konkreter Praxis zu realisieren sucht. Freundschaft, so hält Cicero überdies fest, die sich in Wohlwollen, Fürsorge, Liebe, Treue und Vertrauen realisiert, ist eine Bedingung gelingenden (sozialen) Lebens:

Qui velit ut neque diligat quemquam nec ipse ab ullo diligatur, circumfluere omnibus copiis atque in omnium rerum abundantia vivere? Haec enim est tyrannorum vita nimirum, in qua nulla fides, nulla caritas, nulla stabilis benivolentiae potest esse fiducia, omnia semper suspecta atque sollicita, nullus locus amicitiae.

Wer will schon unter der Bedingung, dass er selbst keinen liebt noch von jemand geliebt wird, in größtem Überfluss und Schwelgerei leben? So nämlich sieht ja das Leben der Tyrannen aus, in dem es keine Treue, keine Liebe, kein Vertrauen auf eine unerschütterliche Zuneigung geben kann, wo es überall nur Verdacht und argwöhnische Unruhe gibt und keinen Platz für die Freundschaft.35

Die Beziehungen und Netzwerke, die durch Freundschaft etabliert werden, stellen auch gerade in dieser Hinsicht ein enormes soziales, politisches und symbolisches Kapital dar. Wer durch seine Haltung und eine reziproke Praxis freundschaftliche Beziehungen und Bindungen unterhält, der hat Freundschaft als soziales Kapital inkorporiert, das sich ggf. in andere Kapitalsorten (ökonomisch, symbolisch, politisch) konvertieren lässt.

Freundschaft ist in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments eine leibliche, mentale und affektgeladene Haltung, eine praxisbezogene Disposition, darauf gerichtet, positiv konnotierte, auf Reziprozität gegründete und stabile Beziehungen und Bindungen zu etablieren und zu unterhalten, mit anderen Worten: Freundschaft ist ein Habitus, d. h. im Sinne Pierre Bourdieus ein System „dauerhafter Dispositionen, strukturierte[r] Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken“36.

Habitualisierte Freundschaft ist gerade in den römisch-hellenistischen Lebenswelten der neutestamentlichen Texte unverzichtbares, inkorporiertes soziales und symbolisches Kapital, dass sich unter bestimmten Bedingungen in politisches Kapital, d. h. in soziale wie politische Agency (Handlungsmacht) konvertieren lässt.37 Die Möglichkeit einer solchen Kapitalkonvertierung besteht sowohl für symmetrische als auch für asymmetrische Freundschaftsbeziehungen. Wichtig ist auch hier der Aspekt der Reziprozität: Der eine Freund ist nicht oder nicht vollständig handlungsfähig ohne den anderen. Isolation und Feindschaften beschränken die Handlungsfähigkeit, Freundschaften und Netzwerke machen dagegen handlungsfähig:38

4 μείνατε ἐν ἐμοί, κἀγὼ ἐν ὑμῖν. καθὼς τὸ κλῆμα οὐ δύναται καρπὸν φέρειν ἀφ’ ἑαυτοῦ ἐὰν μὴ μένῃ ἐν τῇ ἀμπέλῳ, οὕτως οὐδὲ ὑμεῖς ἐὰν μὴ ἐν ἐμοὶ μένητε. 5 ἐγώ εἰμι ἡ ἄμπελος, ὑμεῖς τὰ κλήματα. ὁ μένων ἐν ἐμοὶ κἀγὼ ἐν αὐτῷ οὗτος φέρει καρπὸν πολύν, ὅτι χωρὶς ἐμοῦ οὐ δύνασθε ποιεῖν οὐδέν. (Joh 15,4f.)

4 Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. 5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. (Übers. Luther 2017)

Das bekannte Zitat aus dem Johannesevangelium zeigt sowohl den Zusammenhang von Freundschaft und Agency als auch mögliche Grenzen von freundschaftsbasierter Agency auf. Aber nicht nur Abwesenheit, Entzug oder Bruch von Freundschaftsbeziehungen schränken die Handlungsmacht von Akteuren ein.39 Das soziale Kapital von Freundschaft wird in seiner Konvertierbarkeit auch durch die konkreten sozialen und politischen Bedingungen bestimmt und begrenzt, in denen ein Akteur agiert. Besonders deutlich wird dies an zwei Beispielen: Trotz weit gespannter horizontaler und vertikaler Netzwerke der Freundschaft, die er in Rom und in den Provinzen unterhielt, fiel es gerade dem großen Pompeius sichtlich schwer, sein ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital in konkrete politische Handlungsfähigkeit umzusetzen.40 Dagegen gelang es dem gänzlich unpolitischen Atticus sein ökonomisches und soziales Kapital selbst in den Zeiten der Bürgerkriege in Agency im Interesse seiner Freunde zu konvertieren und auf diese Weise nicht nur hinter den Kulissen handlungsfähig zu bleiben, sondern auch neues soziales Kapital in Gestalt von Freundschaften zu erwerben.41 Freundschaft ist ein Habitus, der sich nur unter bestimmten lebensweltlichen Bedingungen in Agency konvertieren lässt. Ohne freundschaftliche Beziehungen und Bindungen ist soziale und politische Agency in den Lebenswelten des Neuen Testaments indes kaum zu generieren.

3 „vos autem dixi amicos“ – Freundschaft in asymmetrischen Beziehungen

Cicero schreibt zu Beginn seines Laelius in methodologischer Hinsicht: „Wir müssen uns jedoch an das halten, was auf der Erfahrung des täglichen Lebens beruht – nicht an das, was man sich so zusammenfabuliert oder wünscht.“1 Fragen wir Cicero folgend weniger nach den Idealen bzw. Konzepten und mehr nach der alltäglichen Praxis von Freundschaft in den Lebenswelten des Neuen Testaments, so wird deutlich erkennbar, dass in der römischen Gesellschaft asymmetrische Freundschaften,2 selbst unter Standesgenossen und Familienangehörigen, dominierten:

„Denn die politische Ungleichheit unter den römischen Bürgern war – verglichen mit den griechischen Stadtstaaten – übermäßig groß. Ähnliches gilt für die Rechtsgleichheit; bei großen ökonomischen und sozialen Unterschieden ist sie illusorisch, wie die modernen westlichen Gesellschaften zeigen: denn die Chancen, zu seinem Recht zu kommen, sind mitnichten gleich, mag die Gleichheit vor dem Recht auch verfassungsmäßig postuliert werden. Bei expliziter politischer Ungleichheit, wie sie in Rom bestand, kann sie a priori nicht existieren.“3

Vor diesem Hintergrund wird die eminente Bedeutung asymmetrischer Freundschaften für die römische Gesellschaft deutlich:

„Tatsächlich waren amicitia (›Freundschaft‹) und patrocinium (›Schutz‹) der Kitt, der die verschiedenen Teile der römischen Gesellschaft zusammenhielt und ihr Auseinanderdriften verhinderte: Patrocinium herrschte zwischen dem pater familias und seinen Angehörigen, zwischen dem Herrn und seinem freigelassenen Sklaven, zwischen den angesehenen Angehörigen der großen Familien und ihren Schutzbefohlenen (clientes) von bescheidener Herkunft. Das Band der fides verpflichtete den Patron, seinem Klienten vor Gericht Rechtsbeistand zu leisten, sein Fortkommen durch Empfehlungen zu befördern und ihn überhaupt gegen jede Art von Übergriffen in Schutz zu nehmen. Der Klient seinerseits hatte die Gunstbeweise, beneficia, seines Patrons durch Pflichterfüllung, officia, zu erwidern: Insbesondere hatte er sein Stimmverhalten in der Volksversammlung an ihm auszurichten und ihm bei der salutatio, dem morgendlichen Besuch in dessen Haus, seine Aufwartung zu machen. Die schiere Zahl seiner Klienten mehrte Ansehen (dignitas), soziales Gewicht (gravitas) und politischen Einfluss (auctoritas) des Patrons entscheidend. Selbstverständlich galt das Gebot unbedingter Solidarität auch in Nahverhältnissen zwischen Gleichrangigen: Senatoren schlossen Freundschaften, banden andere mächtige Männer durch quasi-dynastische Eheschließungen an ihre Familie – amicitia und ihr Gegenteil, inimicitia, wurden so zu Bindemitteln auch von Interessengruppen und Seilschaften.“4

In der Gesellschaft des Imperium Romanum brauchten gerade die Schwächeren starke Freunde und Beziehungen. Asymmetrische Freundschaften waren daher alltäglich in der stratifizierten römischen Gesellschaft und im gesamten Imperium. Das Bedürfnis nach solchen Freundschaften ging dabei von den Unterprivilegierten aus in dem Wunsch, an der Agency der Privilegierten zu partizipieren.5 Die Privilegierten wiederum mussten sich offen dafür zeigen, diesem Partizipationsbedürfnis zu entsprechen, um ihr eigenes soziales und politisches Kapital, d. h. ihre Handlungsmacht nicht zu gefährden:

„Jede der genannten synchronen Bindungen zwischen Ungleichen, auch die zwischen Magistrat und Bürger in Krieg und Frieden, war von einer Ausrichtung auf die Führung geprägt. In der Summe stellten sie der res publica ein Maximum an Aktionspotential, Gehorsam und Erleidensfähigkeit zur Verfügung.“6

Die lebensweltlich vorherrschende soziale „Distanz mit ostentativen Gesten der Nähe zu überbrücken, ist daher nur der einen Seite möglich, nämlich den Herrschenden.“7 Durch asymmetrische Freundschaften konnte soziales Kapital für beide Seiten generiert werden, denn solche Freundschaften gaben den einen Anteil an der Handlungsmacht der anderen und legitimierten zugleich eben diese vertikale Verteilung von Macht.8

Die Habitualisierung von asymmetrischen Freundschaften diente auf diese Weise der sozialen Integration:

„Wenn die soziale Distanz sich auf übermächtige Weise kundgibt, dann erschwert sie die Integration der sozial Minderprivilegierten, weil sie stets eine affektive Dissonanz erzeugt, das Bewusstsein, sozial abgetrennt und missachtet zu werden. Diese affektive Dissonanz bedroht den sozialen Konsens und senkt die Motivation der sozial Untergeordneten, sich für etwas Gemeinsames einzusetzen. Römische Adlige hatten daher mimetische Annäherung zu leisten, mittels sichtbarer und verstehbarer Gesten; das war ihr semiotischer Einsatz im interaktiven Spiel, um starke affektive Bindungen der Untergebenen auf sich zu konzentrieren.“9

 

Symmetrische wie asymmetrische Freundschaftsbeziehungen und das durch sie generierte soziale Kapital in Gestalt von Motivation, Konsens und Vertrauen waren entscheidend für das politische Zusammenspiel der römischen Gesellschaft. Welche sozialen und politischen Folgen die Erschütterung der durch Freundschaft generierten und am Leben erhaltenen Bindungs- und Vertrauensverhältnisse haben konnte, zeigt ein Blick auf die Vertrauenskrise in der Zeit der Bürgerkriege am Ende der römischen Republik.10

Das Stichwort vom „interaktiven Spiel“ innerhalb der römischen Gesellschaft verweist darüber hinaus darauf, dass auch asymmetrische Freundschaften auf Reziprozität hin angelegt waren und bei den beteiligten Akteuren Erwartungshaltungen weckten. An dieser Stelle sah bereits Aristoteles ein Friktionspotential in der Freundschaftsbeziehung zwischen Ungleichen, wenn die Beteiligten die Interaktion durch mangelnde Reziprozität stören:

„Zu Differenzen kommt es auch in den Freundschaften, die auf Ungleichheit beruhen. Denn jeder von beiden verlangt, mehr zu bekommen; wenn das der Fall ist, löst sich die Freundschaft auf.“11 Um das soziale, politische und symbolische Kapital der Freundschaft zwischen Ungleichen – und damit den sozialen Frieden – nicht zu gefährden, wurde den römischen Oberschichten ein Habitus der Jovialität12 abverlangt, dem reziprok ein Habitus der Unterschichten entsprach, der durch Vertrauen, Gehorsam und Gefolgschaft gekennzeichnet war.13 Zur Wahrung des sozialen Friedens und zur Aufrechterhaltung der interaktionalen Gesellschaftsordnung trug es auch bei, dass die soziale Ungleichheit durch Freundschaft und in Freundschaften oft nivelliert und so Nähe fingiert wurde. Habitus und Praxis der Freundschaft stellten eine ritualisierte Kommunikationspraxis14 dar, die zum Erwerb, Erhalt und Gebrauch von Agency sozial und politisch unerlässlich war:

„Da die römische Politik den Senatoren stark personalisierte Formen der Kommunikation aufnötigte, mussten sie persönliche Beziehungen fingieren, wo sie nicht realiter bestanden. Das ging so weit, dass sie einen nomenclator mit sich führten, einen Sklaven, der seinem Herrn die Namen derer zurief, die ihm auf der Straße begegneten und die er begrüßen wollte.“15

„Die nach Substanz, Dauer und Intensität sehr unterschiedlichen Bindungen wurden zusätzlich durch die Bezeichnung ‚Freundschaft‘ (amicitia) überhöht, Ungleichheiten damit verdeckt. Die Bindungen wurden möglichst weiträumig eingegangen und gepflegt, während die ausdrückliche Dissoziation in Form persönlicher ‚Feindschaft‘ (inimicitia) selten blieb.“16

Wenn die Gleichheit als Freundschaftsideal, insbesondere bei Aristoteles und Cicero, im Diskurs immer betont wird, ist lebensweltlich vollkommen klar, dass es sich um eine Gleichheit unter Gleichen, mithin um Oberschichtendiskurse handelt. Lebenswelt und Alltag waren dagegen von asymmetrischen Freundschaften geprägt, die aller berechtigten Ideologiekritik zum Trotz eine wichtige soziale und politische Funktion erfüllten.

Wenn in den Textwelten des Neuen Testaments daher Semantiken und Praktiken der Freundschaft in den Blick genommen werden, muss gefragt werden, ob in den Texten die symmetrische Freundschaft unter Gleichen im Sinne der antiken Oberschichtendiskurse thematisiert wird, oder ob die lebensweltlich plausiblere asymmetrische Freundschaft unter Ungleichen zur Sprache kommt.

Im Folgenden soll anhand von Beispielen die Bedeutung und Praxis von asymmetrischen Freundschaften in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments konkretisiert werden. Hierzu dient ein exemplarischer Blick auf Habitus und Freundschaftspraxis der Kaiser Augustus und Trajan, auf den Freundschaftshabitus in der Figurenzeichnung Jesu im Johannesevangelium, sowie auf Praxis und Habitus der Freundschaft zwischen Paulus und Philemon im gleichnamigen Brief.