Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

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2.3 Ein Ausblick ins Neue Testament und darüber hinaus

Vielleicht markieren die beiden Beispiele aus dem Matthäus- und Johannesevangelium Extrempunkte im Umgang mit dem antiken Freundschaftsdiskurs im Neuen Testament: Hier Johannes, der darin eine Deutungsoption für die zentrale Frage nach dem Kreuz findet – dort Matthäus, in dessen Entwurf von Gerechtigkeit die griechische Freundschaftsethik defizitär bleibt. In diese Skala der Extreme ließe sich Lukas, besonders auch die Apostelgeschichte einschreiben: Ist beispielsweise die Gemeinde der frühen Christen eine Gruppe von Freunden, die „ein Herz und eine Seele“ sind? Und wie ist es mit Paulus, dessen Briefe auch schon als ‚Freundschaftsbriefe‘ beschrieben wurden, die zumeist mit Grüßen an Gemeindemitglieder (Freunde?) schließen? Sind seine Konzeptionen von κοινωνία und ἐκκλησία letztlich Formen von Freundschaftsbeziehungen?1 Oder sind sie das nur mit Blick auf die ingroup, aber gerade nicht mit Blick auf die Welt außerhalb?

Während der Diskurs über ‚Gegner‘ und ‚Feindschaft‘ im Neuen Testament häufig von der Frage nach den realhistorischen Gegnerschaften Jesu oder der frühen Christen überlagert wird,2 richtet der φιλία-Begriff das Augenmerk auf eine komplexe philosophische, politische und theologische Diskussion, die in verschiedenen Texten der Antike ausführlich geführt wird. Die neutestamentlichen Texte erörtern weniger den Begriff als das zugrundeliegende Konzept, prägen ihre je eigene Terminologie und positionieren sich explizit wie implizit gegenüber anderen Texten. Antike Freundschaftstopoi werden dabei weder einfach übernommen noch können sie als bekannt und gültig für Autor und Leser vorausgesetzt werden.

Die Situation ist komplexer: Das Thema ‚Freundschaft im Neuen Testament‘ und die einschlägigen neutestamentlichen Texte verlangen enzyklopädische Orientierung und intertextuelle Kompetenz – von ihren ersten Leserinnen und Lesern und denen in der Gegenwart.

Literatur

Ralf Adelmann, Von der Freundschaft in Facebook: Mediale Politiken sozialer Beziehungen in Social Network Sites, in: Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld 2011, 127–144.

Stefan Alkier, Neues Testament, UTB Basics 3404, Tübingen 2010.

Stefan Alkier, Jesus und seine Feinde; in: Michael Moxter/Markus Firchow (Hg.), Feindschaft. Theologische und philosophische Perspektiven, Leipzig 2013, 41–59.

ARD ZDF Onlinestudie, abrufbar unter: www.ard-zdf-onlinestudie.de/social-mediawhatsapp/ (Zugriffsdatum 9.10.2020).

Aristoteles, Nikomachische Ethik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 2020.

Cicero, Laelius de amicitia, Marion Giebel, Lateinisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Marion Giebel, Stuttgart 2015.

Bernadette Descharmes, Rächer und Gerächte. Konzeptionen, Praktiken und Loyalitäten der Rache im Spiegel der attischen Tragödie, Göttingen 2013.

Klaus-Dieter Eichler, Philosophie der Freundschaft, Stuttgart 1999.

Alexander Achilles Fischer, Art. Freundschaft (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), www.bibelwissenschaft.de/stichwort/18617/ (Zugriffsdatum 20.10.2020).

John T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World, Leiden 1996.

John T. Fitzgerald, Christian Friendship. John, Paul, and the Philippians, in: Interpretation 61 (2007), 284–296.

Alfons Fürst, Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freundschaftslehre der Antike, Beiträge zur Altertumskunde 85, Stuttgart/Leipzig 1996.

Margareta Gruber, Freundschaft als Lebensform. Zur jesuanischen Fundierung einer Gestalt von Nachfolge, in: dies./Stefan Kiechle (Hg.), Gottesfreundschaft. Ordensleben heute denken. Würzburg 2007, 111–142.

Dietmar H. Heidemann, Die Idee der Freundschaft: Philosophische Überlegungen zu einem polymorphen Begriff, in: Katharina Münchberg/Christian Reidenbach (Hg.), Freundschaft. Theorien und Poetiken, München 2012, 43­–52.

Marco Hofheinz/Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014.

Marco Hofheinz/Frank Mathwig/Matthias Zeindler, Ohne Freunde möchte niemand leben. Eine Einführung in den freundschaftstheologischen Diskurs, in: dies. (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014, 9–19.

Marco Hofheinz, Umstrittene Freundschaft. Eine kleine Apologie der theologischen Konzeptualisierung des Freundschaftsbegriffs, in: ders./ Frank Mathwig/Matthias Zeindler (Hg.), Freundschaft. Zur Aktualität eines traditionsreichen Begriffs, Zürich 2014, 23–52.

Axel Honneth/Beate Rössler, Einleitung: Von Person zu Person: Zur Moralität persönlicher Beziehungen“, in: dies. (Hg.), Von Person zu Person. Zur Moralität persönlicher Beziehungen, Frankfurt 2006, 9–25.

Luke Timothy Johnson, Making connections. The material expression of friendship in the New Testament, in Interpretation 58/2 (2004), 158–171.

Hans-Josef Klauck, Kirche als Freundesgemeinschaft? Auf Spurensuche im Neuen Testament, Münchener Theologische Zeitschrift 41,1 (1991), 1–14.

Jaqueline E. Lapsley, Friends with God? Moses and the Possibility of Covenantal Friendship, in: Interpretation 58 (2004), 117–129.

Markus Lau, Freundschaft – bis in den Tod, in: feinschwarz.net. Theologisches Feuilleton, https://www.feinschwarz.net/freundschaft-bis-in-den-tod/ (letzter Abruf 28.10.2020).

George Lyons/William H. Malas, Paul and his friends within the Greco-Roman context, in: Wesleyan Theological Journal 42 (2007), 70–86.

Rainer Metzner, In aller Freundschaft. Ein frühchristlicher Fall freundschaftlicher Gemeinschaft (Phil 2.25–30), in: NTS 48/1 (2002), 111–131.

Jürgen Moltmann, Open Friendship. Aristotelian and Christian Concepts of Friendship, in: Leroy S. Rouner (Hg.), The Changing Face of Friendship, Notre Dame 1994, 29–42.

Elisabeth Moltmann-Wendel, Die Wiederkehr der Gottesfreundschaft. Freundschaft als gesellschaftliche und theologische Herausforderung, in: EvTh 61 (2001), 428–440.

Armin Müller/August Nitschke/Christa Seidel, Art. Freundschaft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1113.

Gail R. O’Day, Jesus as a friend in the Gospel of John, in: Interpretation 58 (2004), 144–157.

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Profilseite Prof. Dr. Stefan Alkier, www.uni-frankfurt.de/40063464/Profil (Zugriffsdatum 29.10.2020).

Francis Rapp, Art. Gottesfreunde, in: TRE 14, 98–100.

Alexandra Rapsch, Soziologie der Freundschaft. Historische und gesellschaftliche Bedeutung von Homer bis heute, Stuttgart 2004.

Andreas Schmidt, Jesus der Freund, Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 48, Würzburg 2011.

Andreas Schmidt, Was heißt Freundschaft mit Jesus?, in: GuL 85/1 (2012) 31–43.

Rudolf Schnackenburg, Freundschaft mit Jesus, Freiburg/Basel 21996.

Michael Schneider, Dialog der Gegner. Ein Blick auf das Matthäusevangelium mit Michail Bachtin, in: ZNT 26 (2015), 22–31.

Michael Schneider, Offene Konflikte im Matthäusevangelium, in: Christian Wiese/Stefan Alkier/Michael Schneider (Hg.), Diversität– Differenz– Dialogizität. Religion in pluralen Kontexten, Berlin u.a. 2017, 223–246.

Michael Schneider, Antagonismen? Gegensatzbeziehungen und Konfliktkonstellationen im Matthäusevangelium, in: Stefan Alkier (Hg.), Antagonismen im Neuen Testament, Paderborn 2021 (im Erscheinen).

Heinz-Horst Schrey, Art. Freundschaft, in: TRE 11, 590–599.

Klaus Scholtissek, „Eine größere Liebe als diese hat niemand, als wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Die hellenistische Freundschaftsethik und das Johannesevangelium, in: Jörg Frey/Udo Schnelle (Hg.), Kontexte des Johannesevangeliums, Tübingen 2004, 413–439.

Jens Schröter, Sterben für die Freunde. Überlegungen zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, in: Axel Dobbeler (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. FS Klaus Berger, Tübingen 2000, 263–288.

Ruth Scoralick, Freundschaft in der Bibel. Ansätze zum Weiterdenken, in: Diakonia 33 (2002), 393–399.

Thomas Söding, Freundschaft mit Jesus. Ein neutestamentliches Motiv, in: IKaZ 36 (2007) 220–231.

Ekkehard W. Stegemann, Freundschaftstopik im Neuen Testament, in: Freundschaft, Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, München 2006, 9–24.

Svenja Wiertz, Freundschaft, Grundthemen Philosophie, Berlin/Boston 2020.

Ursula Wolf, Aristoteles Nikomachische Ethik, Darmstadt 32013.

Freundschaft als Haltung und Praxis

Soziale und politische Aspekte von Freundschaft in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments

Michael Rydryck

1 „Wem der große Wurf gelungen…“ – Freundschaft als mentales Modell1

In einem ZDF-Interview beantwortete der CSU-Politiker Horst Seehofer die Frage „Gibt es überhaupt so etwas wie Freundschaft unter Politikern?“ mit einem ebenso lakonischen wir resigniert wirkenden „Nein“.2 Vergleichbar skeptisch äußerte sich Seehofer in einem Interview mit dem Donaukurier.3 Auch Seehofers antiker Politiker-Kollege Marcus Tullius Cicero teilte diese Skepsis:

 

Itaque verae amicitiae difficillime reperiuntur in iis qui in honoribus reque publica versantur; ubi enim istum invenias qui honorem amici anteponat suo?

So erklärt es sich, dass man wahre Freundschaft nur schwer bei Männern antrifft, die hohe Ämter innehaben oder überhaupt im öffentlichen Leben stehen. Denn wo findet sich wohl der Mann, der unter diesen Umständen dem Freund das Ehrenamt eher gönnt als sich selbst?4

Das politische Feld in Antike und Gegenwart scheint besonders affin für Konkurrenz-, Rivalitäts- und Streitbeziehungen zu sein, die Freundschaftsbeziehungen stören, beenden oder deren Aufbau und Fortbestehen nachhaltig erschweren:

quodsi qui longius in amicitia provecti essent, tamen saepe labefactari, si in honoribus contentionem incidissent; pestem enim nullam maiorem esse amicitiis quam in plerisque pecuniae cupiditatem, in optimis quibusque honoris certamen et gloriae; ex quo inimicitias maximas saepe inter amicissimos exstitisse.

Und falls einige die Freundschaft noch länger hätten aufrechterhalten können, käme es doch öfter zum Bruch, wenn sie in Konkurrenz um ein Amt geraten. Die schlimmste Pest, die Freundschaften bedroht, ist nämlich bei der Mehrzahl die Geldgier, gerade bei den Besten aber der Wettstreit um Ehre und Ruhm, woraus schon oft die bittersten Feindschaften zwischen engsten Freunden entstanden sind.5

Nicht nur diese lebensweltliche Beobachtung Ciceros oder die in der gegenwärtigen Politik gebrauchte Klimax „Feind, Todfeind, Parteifreund“6 scheint der Skepsis gegenüber Freundschaften im politischen Feld recht zu geben, denn es mangelt nicht an Beispielen für Konkurrenz, Rivalität und zerbrochene Freundschaften in der Politik: Die noch bestehenden Bande der Freundschaft unter den Gefährten von Alexander dem Großen zerrissen endgültig im Kampf um dessen Nachfolge. Die politische Freundschaft zwischen Gnaeus Pompeius Magnus und Gaius Julius Caesar wandelte sich nach dem Tod Julias, durch die Konkurrenz um den Führungsanspruch in der res publica und durch die wachsende Polarisierung innerhalb der Führungsschicht in eine offene Rivalität. Der nicht zuletzt in dieser Rivalität begründete Bürgerkrieg entzweite die langjährigen Waffengefährten Caesar und Titus Labienus. Die Parteifreundschaft zwischen Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble erlitt irreparable Friktionen in der CDU-Spendenaffäre. Die Parteifreunde Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder entzweiten sich unwiderruflich in ihrem Streit um den Führungsanspruch in der SPD. Die Liste ließe sich erweitern.

Indes gilt es vor dem Hintergrund des Scheiterns all dieser Freundschaften festzuhalten, dass etwas nur dann zerbrechen kann, wenn es zuvor Bestand hatte. Zudem lassen sich ohne Weiteres auch Gegenbeispiele finden: Trotz anhaltender äußerer Kritik hält die Männerfreundschaft zwischen Gerhard Schröder und Vladimir Putin bis auf den heutigen Tag. Auch Helmut Kohl und Michail Gorbatschow blieben nach ihren Interaktionen im Kontext der deutschen Wiedervereinigung freundschaftlich verbunden. Augustus und Marcus Vipsanius Agrippa waren Freunde seit ihrer gemeinsamen Schulzeit und blieben es in der Zeit der Bürgerkriege und dem beginnenden Principat. Caesar war mit Antipater, dem Vater von Herodes dem Großen, freundschaftlich verbunden. Und schließlich schlossen Lk 23,12 zufolge Pontius Pilatus und Herodes Antipas, die zuvor eine Feindschaftsbeziehung verbunden hatte, Freundschaft im Kontext des Prozesses gegen Jesus.7 Auch diese Liste ließe sich mit Beispielen aus Antike und Gegenwart ergänzen.

Wie lässt sich diese Diskrepanz in der Wahrnehmung von Freundschaft im politischen Feld erklären? Die Antwort verweist auf einen zentralen hermeneutischen Aspekt im Freundschaftsdiskurs: Freundschaft ist ein mentales Modell. Es war Ludwig Wittgenstein, der die hermeneutische Grundlegung mentaler Modelle formuliert hat:

„Wir machen uns Bilder der Tatsachen. Das Bild stellt die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten vor. Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände. Das Bild besteht darin, daß sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten. Das Bild ist eine Tatsache. Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten. Dieser Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung. Die Form der Abbildung ist die Möglichkeit, daß sich die Dinge so zu einander verhalten, wie die Elemente des Bildes. Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr. Es ist wie ein Maßstab an die Wirklichkeit angelegt.“8

Bereits Seneca weist in De beneficiis darauf hin, dass Wohltaten (beneficia), die ja zugleich Anzeichen und Ausdruck der Freundschaft sind, mentaler Art sind:

Eodem animo beneficium debetur, quo datur, et ideo non est neglegenter dandum: sibi enim quisque debet, quod a nesciente accepit; ne tarde quidem, quia cum omni in officio magni aestimetur dantis voluntas, qui tarde fecit diu noluit;

In derselben Gesinnung wird eine Wohltat geschuldet, wie sie erwiesen wird, und deswegen darf man sie nicht gedankenlos erweisen: sich schuldet nämlich ein jeder, was er von einem Menschen ohne dessen Wissen erhalten hat; auch nicht langsam, denn – da ja doch bei jeder Gelegenheit hoch gewertet wird des Gebenden Wille – wer langsam gegeben hat, wollte lange nicht geben;9

Non potest beneficium manu tangi: res animo geritur. Multum interest inter materiam beneficii et beneficium; itaque nec aurum nec argentum nec quicquam eorum, quae pro maximis accipiuntur, beneficium est, sed ipsa tribuentis voluntas.

Nicht kann eine Wohltat mit der Hand berührt werden: es handelt sich um einen seelischen Vorgang. Groß ist der Unterschied zwischen dem Gegenstand einer Wohltat und einer Wohltat; daher ist weder Gold noch Silber, noch irgend etwas von den Dingen, die für die wichtigsten gehalten werden, eine Wohltat, sondern eben gerade der Wille dessen, der gewährt.10

Freundschaft existiert als mentales Modell. Modellcharakter haben auch die literarischen Konzepte von Freundschaft, die in Antike und Gegenwart formuliert wurden. Modelle aber sind zeit- und kulturgebundene Akte der Positionierung.11 Diskrepanzen in der Wahrnehmung von Freundschaft sind daher nicht zuletzt modell- und kulturbedingt.12 Freundschaft entspringt und partizipiert an der Wirklichkeit, Freundschaft prägt Wirklichkeit, konkrete Gestalt gewinnt sie jedoch in mentalen Modellen, in denen Praktiken, Normen, Emotionen, Erfahrungen und Ideale der Freundschaft konvergieren. Mentale Modelle sind dementsprechend keine beliebigen Konstruktionen, sondern müssen sich im Sinne Wittgensteins an der Wirklichkeit messen lassen. Mentale Modelle sind darüber hinaus geeignet, Praktiken zu prägen, Erfahrungen bzw. Emotionen zu deuten und Normen zu reflektieren. In diesem Sinn gestalten mentale Modelle von Freundschaft Wirklichkeit.

Im Diskurs über historische und gegenwärtige Ausprägungen von Freundschaft ist es unabdingbar, die Modellhaftigkeit von Freundschaftskonzepten sowie deren kulturelle Bedingtheit zu erkennen und anzuerkennen. Kulturbedingt sind entsprechend auch die Praktiken, Kommunikationsformen und sozialen Funktionen von Freundschaft, auf die sich die mentalen Modelle beziehen. Freundschaft ist keine überzeitliche, transkulturelle anthropologische Gegebenheit, sondern das zeit- und kulturgebundene mentale Modell einer sozialen und kulturellen Beziehungspraxis. Gegenüber substantialistischen Fragen nach „der“, nach „wahrer“ bzw. „echter“ Freundschaft ist daher hermeneutische Zurückhaltung geboten, führen sie doch nicht selten in die Aporie:

„Gibt es wahre Freundschaft unter Menschen? Davon ist die Antike, davon ist auch die Moderne überzeugt. Die Sehnsucht nach Freundschaft sitzt tief, nicht nur bei Kindern: Gibt es unter Männern, unter Frauen, zwischen Mann und Frau eine Liebe, die nicht von Sexualität beherrscht wird, sondern von Solidarität? Ohne Konkurrenz zur Elternliebe, zur Kinderliebe, zur ehelichen Liebe? Gibt es eine Wahlverwandtschaft, die auf Freiheit, Anteilnahme und Zuneigung beruht, aber keine Einbuße am eigenen Glück bedeutet, sondern eine Steigerung des Lebens? Weder die Antike noch die Moderne wollen vom Glück solcher Freundschaft lassen;“13

Thomas Söding stellt dieses Modell von Freundschaft seinem Aufsatz Freundschaft mit Jesus voran. Er stellt darin die These einer Antike und Moderne umgreifenden Konzeption von Freundschaft in den Raum, die ebenso in der Tradition Schillers zu stehen scheint wie in der Tradition spezifisch christlicher Beziehungsnormen. Man könnte hier nicht nur kritisch anmerken, dass in der Antike sexuelle Facetten von Freundschaft keineswegs ausgeschlossen waren,14 ebenso wenig asymmetrische Freundschaften zwischen Ungleichen oder die Konkurrenz von Freundschaft zu anderen Beziehungsformen15. Differenzierend sei auch darauf hingewiesen, dass die antiken Freundschaftsdiskurse in der Regel auf die Freundschaft unter Männern abzielen. Schwierig ist nicht zuletzt die Eingangsfrage nach „wahrer Freundschaft“, zielt diese doch auf eine substantialistische Bestimmung und Bewertung von Freundschaft unter der Maßgabe des von Söding formulierten Ideals. Indes wusste schon Platon in substantialistischer Perspektive keine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Freundschaft zu geben. Vielmehr hält Platon am Ende des Lysis fest:

Wo sollen wir nun noch hinaus mit unserer Rede? Offenbar gibt es keinen weiteren Weg. Ich will also nach Art der weisen Herren in den Gerichtshöfen alles Gesagte noch einmal kurz zusammenfassen. Wenn nämlich weder die Geliebten noch die Liebenden, weder die Gleichen noch die Ungleichen, weder die Guten noch die sich Angehörigen noch was wir sonst alles durchgegangen haben – denn mein Gedächtnis reicht nicht aus für diese Überfülle – also wenn nichts von alledem das Befreundete ist, so bin ich mit meiner Weisheit am Ende. […] Heute, mein Lysis und Menexenos, haben wir uns lächerlich gemacht, ich der alte Mann, und ihr. Denn sie, die da jetzt fortgehen, werden sagen, wir hätten geglaubt untereinander Freund zu sein – denn auch mich rechne ich zu euch – und doch wären wir noch nicht imstande zu entdecken, was man eigentlich unter „Freund“ zu verstehen habe.16

Vor dem Hintergrund dieser Aporie zeigen sich bereits die antiken Autoren bestrebt, den Freundschaftsdiskurs anders zu führen. Von Platon über Aristoteles und Cicero bis hin zu Seneca lässt sich eine Tendenz beobachten, in deren Folge weniger das Wesen der Freundschaft, stattdessen aber zunehmend Habitus und Praktiken von Freundschaft in den Blick genommen werden. Denn auch wenn Freundschaft als mentales Modell bei den genannten Autoren literarische Gestalt gewinnt, ist sie doch zuallererst Haltung und Praxis einer positiv konnotierten, personalisierten Beziehung, mithin eine soziale und in der Antike nicht selten auch eine politische Praxis. Mentale Modelle, Praktiken und Konzepte von Freundschaft sind interdependent, wenngleich sie sich nicht immer oder sogar eher selten kongruent verhalten. Über die Konzepte von Freundschaft, private Freundschaft und die Freundschaft unter Gleichen in den Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments ist bereits Vieles geschrieben worden,17 da diese Aspekte in der Regel ebenso im Fokus des exegetischen Interesses stehen wie der griechische Kultur- und Sprachraum. Im Folgenden soll es dagegen vornehmlich um die soziale Praxis, die Freundschaft unter Ungleichen und um politische Aspekte von Freundschaft18 in den griechischen und vor allem in den römisch-lateinischen Text- und Lebenswelten des Neuen Testaments gehen, Aspekte, die m.E. oft zu wenig berücksichtigt werden.