Freundschaft in den Texten und Kontexten des Neuen Testaments

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Freundschaft ist schließlich eine Form des Beziehungsverhaltens, die nicht aus Schwäche, sondern gegenseitiger Stärke resultiert. Die ‚wahre Freundschaft‘ basiert auch bei Cicero auf der hohen Tugend der Wahrheit und des freien Willens:

Saepissime igitur mihi de amicitia cogitanti maxime illud considerandum videri solet, utrum propter imbecillitatem atque inopiam desiderata sit amicitia, ut dandis recipiendisque meritis quod quisque minus per se ipse posset, id acciperet ab alio vicissimque redderet, an esset hoc quidem proprium amicitiae, sed antiquior et pulchrior et magis a natura ipsa profecta alia causa. Amor enim, ex quo amicitia nominata est, princeps est ad benevolentiam coniungendam. Nam utilitates quidem etiam ab iis percipiuntur saepe qui simulatione amicitiae coluntur et observantur temporis causa, in amicitia autem nihil fictum est, nihil simulatum et, quidquid est, id est verum et voluntarium.

Je öfter ich also über die Freundschaft nachdenke, desto mehr scheint mir das folgender reiflicher Überlegung wert: Sucht man Freundschaft nur aus Schwäche und Bedürftigkeit, damit im Geben und Empfangen von Wohltaten ein jeder das, was er von sich aus weniger vermag, von einem anderen erhält und dafür Gegenleistungen erbringt? Oder ist dies zwar ein charakteristisches Merkmal der Freundschaft, aber es gibt doch noch einen anderen Grund, der ursprünglicher und edler ist und mehr der menschlichen Natur entstammt? Die Liebe nämlich, amor, von der der Ausdruck Freundschaft, Freundesliebe, amicitia, gebildet wird, ist ja der erste Antrieb, ein Band gegenseitiger Sympathie zu knüpfen. Vorteile gewinnt man auch oft von denen, die man mit erheuchelter Freundschaft umwirbt und nur bestimmter Umstände wegen achtet. Bei einer echten Freundschaft aber ist nichts erdichtet, nichts erheuchelt, und alles beruht auf Wahrhaftigkeit und freiem Willen.7 (Abschnitt 26)

Für das griechische wie das lateinische Denken, wären φιλία und amicitia wohl zutreffend mit ‚Freundschaftsliebe‘ zu übersetzen, da sie jeweils semantische Aspekte der deutschen Begriffe ‚Freundschaft‘ und ‚Liebe‘ miteinander verbinden. Und auch schon im Lateinischen selbst zeigt sich die Verbindung bereits in der etymologischen Verwandtschaft von amor, amicitia und amare.8

1.3 Freundschaft in alt- und zwischentestamentlichen Texten

Ein kurzer Blick in alt- und zwischentestamentliche Texte lohnt zunächst einmal aufgrund einer Fehlanzeige: Das hebräische Alte Testament kennt im Grunde weder einen Begriff für ‚Freund‘, noch für ‚Freundschaft‘, der vergleichbar wäre mit φίλος und φιλία. Gerade im Vergleich zu den philosophischen bzw. politischen Reflexionen in der griechischen und lateinischen Literatur fällt auf, dass die hebräischen heiligen Texte Israels keinen Diskurs über das Abstraktum der Freundschaft führen. Dort, wo Übersetzungen der Texte vom Freund oder von Freundschaft sprechen, verwendet das Alte Testament zumeist den Begriff רֵעַ, oft übersetzt mit ‚Nächster‘, aber auch im Sinne von ‚Nachbar‘ oder weiter gefasst ‚Mitmensch‘.1 Das Wort kann aber auch vom Eigenen abgrenzen und den Anderen bezeichnen, der in einer zunächst nicht weiter bestimmten Weise nahe, aber doch jenseits einer Grenze verortet wird.

כִּ֣י יְסִֽיתְךָ֡ אָחִ֣יךָ בֶן־אִ֠מֶּךָ אֹֽו־בִנְךָ֨ אֹֽו־בִתְּךָ֜ אֹ֣ו׀ אֵ֣שֶׁת חֵיקֶ֗ךָ אֹ֧ו רֵֽעֲךָ֛ אֲשֶׁ֥ר כְּנַפְשְׁךָ֖ בַּסֵּ֣תֶר לֵאמֹ֑ר

᾿Εὰν δὲ παρακαλέσῃ σε ὁ ἀδελφός σου ἐκ πατρός σου ἢ ἐκ μητρός σου ἢ ὁ υἱός σου ἢ ἡ θυγάτηρ σου ἢ ἡ γυνὴ ἡ ἐν κόλπῳ σου ἢ ὁ φίλος ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς σου λάθρᾳ λέγων […]

Wenn dich dein Bruder, deiner Mutter Sohn, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau in deinen Armen oder dein Freund, der dir so lieb ist wie dein Leben, heimlich überreden würde und sagen […] (Dtn 13,7)

Die Stelle hebt, wenigstens in der LXX-Fassung (ὁ ἴσος τῆς ψυχῆς), Gleichheit als wesentliches Merkmal von Freundschaft hervor. Der kurze Abschnitt aus dem Deuteronomium zeigt aber auch die enge Verknüpfung zwischen Verwandtschafts- und Freundschafts-/Nächstenbeziehungen im alttestamentlichen Kontext. Und so werden auch umgekehrt familiäre Beziehungsbegriffe wie Vater, Mutter, Bruder, Schwester auf freundschaftliche Beziehungen übertragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um die Auszeichnung als besonders enge Freundschaften geht. Aber auch hier unterbleibt die Diskussion des Abtraktums ‚Verwandtschaft‘. Wenn der Sache nach Freundschaft thematisiert wird, wird die Geschichte einzelner Freundesbeziehungen narrativ entfaltet: Zweier-Freundschaften wie zwischen David und Jonathan im 1. Samuelbuch oder Rut und Noomi im Buch Rut sowie die Freundschaft kleiner Gruppen, etwa bei Hiob und seinen Freunden in der Rahmenerzählung des Hiob-Buchs oder Daniel und seinen Freuden im Daniel-Buch.

Während das Griechische ἔρως und φιλία sprachlich wie systematisch trennen und noch einmal jeweils differenzieren kann, begegnen in hebräischen Texten Formen von אָהַב für sexuelle und freundschaftliche Liebesbeziehungen. So wird etwa die im Hohelied angesprochene Geliebte in Hhld 1,9 als רֵעַ (LXX: πλησίον) bezeichnet, also mit dem Begriff, der klassischerweise auch den Freund bzw. Nächsten bezeichnet. Zugleich wird durch den Wortgebrauch deutlich, dass Freundschaft und Liebe in gewisser Weise auf einer Stufe stehen und beide als „intensive, personale Liebe“2 verstanden werden. Für den φίλος wie ihn die griechische Literatur beschreibt, fehlt jedoch das klare hebräische Äquivalent; vielmehr begegnen verschiedene Begriffe, die Aspekte der Freundschaft in bestimmten Kontexten bezeichnen können.3

Zu diesen Kontexten gehört auch der Bereich der Politik: Freundschaften begegnen der Sache nach auch bei der Bezeichnung politischer Ämter bzw. politischer Beziehungen.4 Genausowenig wie die Abstrakta ‚Liebe‘ und ‚Freundschaft‘ im Alten Testament in einer der griechischen Welt vergleichbaren Weise entfaltet werden, wird aber der Topos der ‚politischen Freundschaft‘ als solcher reflektiert. Die alttestamentlichen Texte entfalten vielmehr narrativ bestimmte Freundschaftstopoi, die durchaus Parallelen etwa zu den oben dargestellten Überlegungen des Aristoteles aufweisen. Der Aspekt der Gleichheit wurde bereits mit Blick auf Dtn 13 erwähnt. Häufig begegnet in den alttestamentlichen Texten eine theologische Qualifizierung des Freundschaftsdiskurses, am offensichtlichsten vielleicht in der Zusage der Freundschaft durch Rut (Rut 1,16): Dein Gott ist mein Gott. Unter dem Einfluss griechischer Texte formulieren spätere weisheitliche Schriften wie Jesus Sirach dann noch expliziter den Zusammenhang zwischen Gottesfurcht und Freundschaft:

φίλος πιστὸς φάρμακον ζωῆς, καὶ οἱ φοβούμενοι κύριον εὑρήσουσιν αὐτόν. ὁ φοβούμενος κύριον εὐθυνεῖ φιλίαν αὐτοῦ, ὅτι κατ᾽ αὐτὸν οὕτως καὶ ὁ πλησίον αὐτοῦ.

Ein treuer Freund ist ein Trost im Leben; wer Gott fürchtet, der bekommt einen solchen Freund. Denn wer Gott fürchtet, der wird auch gute Freundschaft halten; und sein Nächster wird so werden, wie er selbst ist.

(Sir 6,16f.)

Eine gewisse Parallele zur griechischen Vorstellung der Freundschaft unter den Tugendhaften ist die besonders deutlich im Psalter (z.B. Ps 26,4f.) auftretende Gegenüberstellung zwischen ‚Gerechten‘ und ‚Gottlosen/Frevlern‘. Als anzustrebendes Ziel wird die Gemeinschaft unter den Gerechten genannt. Bei einigen der o.g. Freundschaften, explizit bei Rut/Noomi und David/Jonathan, wird die Bedeutung der dauerhaften, lebenslangen, auch den Tod überdauernden Gemeinschaft betont. Doch auch wenn es in diesen Aspekten – Gleichheit, Gemeinschaft, gerechtes/tugendhaftes Leben – Übereinstimmungen gibt, kann das griechische Freundschaftsethos für die Vielfalt der alttestamentlichen Zeugnisse nicht einfach als Voraussetzung angenommen werden.5 Die Texte des Alten Testaments entwickeln vielmehr ein eigenes System sozialer Beziehungen, das in der späteren Zeit zunehmend in intertextuellen Bezügen zu griechischen Texten steht.

An zwei exponierten Stellen im Alten Testament sowie häufiger in zwischentestamentlichen Texten begegnet der besondere Topos der Gottesfreundschaft.6 In Ex 33,11 wird wiederum der Begriff רֵעַ verwendet, hier zur Beschreibung einer Begegnung Gottes mit dem Menschen Mose:

καὶ ἐλάλησεν κύριος πρὸς Μωυσῆν ἐνώπιος ἐνωπίῳ, ὡς εἴ τις λαλήσει πρὸς τὸν ἑαυτοῦ φίλον.

Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet.

Stärker von der hebräischen Semantik ausgehend übersetzt die Einheitsübersetzung hier wie Menschen miteinander reden und vermeidet damit die Vorstellung einer ‚Freundschaft mit Gott‘, ohne gleichwohl die Vorstellung einer Kommunikation zwischen Mose und Gott auf einer Ebene aufzugeben.

Über die Vulgata-Fassung von 2Chr 20,7 (Abraham amici tui) wird auch Abraham als ‚Freund Gottes‘ bezeichnet. Im Blick scheint aber sowohl bei Mose als auch bei Abraham nicht die klassisch griechische Freundschaftstopik zu sein, sondern vielmehr das besondere Offenbarungsgeschehen, das diesen beiden Figuren zuteilwird: Gott wendet sich ausgewählten Menschen in der Offenbarung so zu, dass in gewisser Hinsicht von ‚Kommunikation auf Augenhöhe‘ gesprochen werden kann.

Beeinflusst vom griechischen Denken entwickelt das Weisheits-Buch v.a. im 7. Kapitel die Vorstellung der Gottesfreundschaft ermöglichenden Weisheit (Weish 7,14.27):

ὃν οἱ κτησάμενοι πρὸς θεὸν ἐστείλαντο φιλίαν διὰ τὰς ἐκ παιδείας δωρεὰς συσταθέντες.

die ihn erwarben, erlangten Gottes Freundschaft, weil die Gaben sie empfahlen, die die Unterweisung verleiht.

ἐν αὑτῇ τὰ πάντα καινίζει καὶ κατὰ γενεὰς εἰς ψυχὰς ὁσίας μεταβαίνουσα φίλους θεοῦ καὶ προφήτας κατασκευάζει·

 

Und obwohl sie bei sich selbst bleibt, erneuert sie das All, und von Geschlecht zu Geschlecht geht sie in heilige Seelen ein und macht sie zu Freunden Gottes und zu Propheten.

In diesem späten alttestamentlichen Text wird über die Figur der Weisheit die Bezeichnung ‚Gottesfreund‘, die bislang höchstens den besonderen Personen Mose und Abraham zuteilwurde, auf alle Weisheit Besitzenden bzw. Weissagenden/Propheten übertragen. Zugleich wird damit die Figur des Propheten in einem für den griechischen Kontext anschlussfähigen Konzept als weiser Gottesfreund übersetzt.

2 Freundschaft im Neuen Testament
2.1 Überblick und Einführung

In der Theologie insgesamt und auch in der neutestamentlichen Exegese wird das Thema Freundschaft eher am Rande betrachtet.1 Wie schon im Alten Testament sind Verwandtschaftsbeziehungen – man denke nur an Gott, den Vater oder die Brüder und Schwestern innerhalb der Gemeinde – und die Rede vom ‚Nächsten‘ die weitaus gebräuchlichere Terminologie. Hinzukommt, dass im Neuen Testament von den verschiedenen im griechischen Sprachgebrauch üblichen Konzepten für liebende Beziehungen die ἀγάπη bzw. die Derivate von ἀγαπᾶν die absolut dominierenden sind. Gegenüber dem eher eingeschränkten semantischen Spektrum von ἔρως und dem umfangreichen Diskurs über die φιλία war der Begriff der Begriff ἀγάπη in gewissem Sinn ‚neutraler‘ und konnte mit neuen, spezifischen Inhalten gefüllt werden. Dabei konnten sowohl zwischenmenschliche Beziehungen als auch die Beziehung zu Gott beschrieben werden.

Anders als die genannten Texte aus dem griechischen und lateinischen Sprachraum, die über die φιλία bzw. die amicitia ganze Abhandlungen verfassen, begegnet der Ausdruck Freundschaft im Neuen Testament nur an einer Stelle (Jak 4,4). In dieser geht es zudem nicht um die philosophische Diskussion dieses Begriffs. Eine Bestimmung ergibt sich höchsten indirekt, da φιλία und ἔχθρα bzw. φίλος und ἐχθρός als Gegensatzpaare verwendet werden. Gegenübergestellt werden allerdings primär die Begriffe κόσμος und θεός:

μοιχαλίδες, οὐκ οἴδατε ὅτι ἡ φιλία τοῦ κόσμου ἔχθρα τοῦ θεοῦ ἐστιν; ὃς ἐὰν οὖν βουληθῇ φίλος εἶναι τοῦ κόσμου, ἐχθρὸς τοῦ θεοῦ καθίσταται.

Ihr Ehebrecher, wisst ihr nicht, dass Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.

Ebenfalls im Jakobusbrief (Jak 2,23) wird der Topos der Gottesfreundschaft Abrahams zitiert, allerdings in einem für die protestantische Theologie nicht einfachen Kontext: Abraham, der ‚Freund Gottes‘ genannt wird, wird an dieser Stelle als ein Beispiel eines aus Werken Gerechten genannt. Jürgen Moltmann hat diese Stelle im Blick, wenn er vom engeren Begriff des ‚Gottesfreundes‘ spricht und blickt demgegenüber auf johanneische Schriften, wenn er von der Erweiterung dieses Konzepts spricht:

„In classical Christianity, then, the expression ‚friend of God‘ has had two meanings. First, it was used in a narrow, exclusive sense. […] But at the same time, a broad, inclusive formulation has always been there too; that is, that through Christ’s friendship, all Christians have become friends of God.“2

Während φιλία explizit nur im Jakobusbrief genannt ist, begegnet φίλος neben dem Jakobusbrief an einigen Stellen im lukanischen Doppelwerk, im Johannesevangelium und den Johannesbriefen.3

John T. Fitzgerald,4 Luke Timothy Johnson,5 Thomas Söding6 und Ekkehard W. Stegemann7 haben in ihren Untersuchungen mit je unterschiedlichen Perspektiven instruktive Überblicke über die Relevanz des Konzepts der Freundschaft im Neuen Testament gegeben. Insbesondere Johnson macht darauf aufmerksam, dass die relativ sparsame Verwendung der Begriffe φιλία und φίλος nicht bedeuten muss, dass die entsprechenden Konzepte – sei es mit neuer Profilierung oder mit Rückgriff auf die erwähnten griechischen und lateinischen Quellen – wenig relevant waren:

„[…] the presence of common conceptions about friendship shows that friendship is a pervasive theme in the New Testament even when the term itself is not used. The themes commonly associated with friendship occur so frequently that ancient readers or hearers would have understood them within that context.“8

Das Konstatieren einer generellen expliziten oder impliziten Präsenz der Freundschaftsethik bzw. Freundschaftstopik in den neutestamentlichen Schriften lässt die jeweilige Relevanz in einzelnen Texten noch offen. Diese Beurteilung bleibt dem Blick in einzelne Schriften vorbehalten; dabei ist jeweils zu entscheiden, ob griechische Konzeptionen der φιλία vorausgesetzt, weiterentwickelt, theologisch profiliert oder kritisiert und verworfen werden. Die folgenden zwei exegetischen Skizzen greifen in diesem Sinne einzelne neutestamentliche Texte exemplarisch heraus und beleuchten das Thema ‚Freundschaft‘ vor dem intertextuellen Hintergrund griechischer, lateinischer und hebräischer Texte.

2.2 Intertextuelle Skizzen zur Freundschaft
2.2.1 Jesus und seine Freunde im Johannesevangelium

Vielfach wird das Johannesevangelium als der Text genannt, der im neutestamentlichen Kanon am explizitesten und zudem in affirmativer Weise auf den griechischen φιλία-Diskurs Bezug nimmt.1 Das Johannesevangelium bezeichnet etwa in der Rede seiner Schwester Lazarus als den, der mit Jesus persönlich befreundet ist (κύριε, ἴδε ὃν φιλεῖς ἀσθενεῖ. Joh 11,3). Und auch Jesus selbst bezeichnet ihn explizit als Freund (ὁ φίλος ἡμῶν Joh 11,11), so dass auch das ἠγάπα in Joh 11,5 als Ausdruck dieser Freundschaft gegenüber der ganzen Familie des Lazarus verstanden werden muss.

Die christologisch bzw. theologisch zentralen Aspekte der Freundschaftsthematik finden sich aber in Joh 15,12–17:

Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς. μείζονα ταύτης ἀγάπην οὐδεὶς ἔχει, ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ. ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν. οὐκέτι λέγω ὑμᾶς δούλους, ὅτι ὁ δοῦλος οὐκ οἶδεν τί ποιεῖ αὐτοῦ ὁ κύριος· ὑμᾶς δὲ εἴρηκα φίλους, ὅτι πάντα ἃ ἤκουσα παρὰ τοῦ πατρός μου ἐγνώρισα ὑμῖν. οὐχ ὑμεῖς με ἐξελέξασθε, ἀλλ’ ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς καὶ ἔθηκα ὑμᾶς ἵνα ὑμεῖς ὑπάγητε καὶ καρπὸν φέρητε καὶ ὁ καρπὸς ὑμῶν μένῃ, ἵνα ὅ τι ἂν αἰτήσητε τὸν πατέρα ἐν τῷ ὀνόματί μου δῷ ὑμῖν. Ταῦτα ἐντέλλομαι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους.

Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch hinfort nicht Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Euch aber habe ich Freunde genannt; denn alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebt.

Die Freundschaftsbeziehung zwischen Jesus und den Jüngern wird hier als Liebesbeziehung qualifiziert. Diese drückt sich insbesondere darin aus, dass innerhalb dieser Beziehung Wissen geteilt wird (alles […] habe ich euch kundgetan) und durch die Aufhebung der Knechtschaft eine hierarchische Ordnung in gewissem Sinn in Gleichheit aufgeht. Gleichwohl betont gerade das Johannesevangelium die bleibende Ungleichheit, die Asymmetrie, ja die Hierarchie zwischen Jesus und den Jüngern bzw. allen Menschen. Die Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft Jesu mit den Jüngern besteht also nur in gewisser Hinsicht, und auch nur aufgrund der aktiven Preisgabe des göttlichen Wissens durch Jesus.

Vor allem aber wird hier ganz im Sinne des oben dargestellten aristotelischen Ideals das Hingeben des eigenen Lebens für die Freunde als höchste Stufe des Freundschaftsdienstes genannt. Und damit liegt in Joh 15 ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis des johanneischen Passionsgeschehens:

„Anthropologisch betrachtet stempelt diese Deutung des Todes Jesu all jene, für die Jesus gestorben ist, – ganz im Gegensatz zur sühnesoteriologischen Deutung des Todes Jesu – nicht zu Sündern, sondern zu Freunden Jesu. […] Jesus stirbt für seine Freunde. Das transformiert seine Schülerinnen und Schüler zu Freunden Jesu. […] Zugespitzt formuliert: Weil Jesus den Tod des Sklaven stirbt, deshalb sind seine Nachfolgerinnen und Nachfolger nicht mehr Sklaven, sondern Freunde.“2

Zugleich verbindet sich bei Johannes griechische Freundschaftsethik mit Aspekten der Freundschaft aus dem Alten Testament: Die Freundschaft Jesu mit seinen Jüngern ist nicht – wie etwa bei Rut und Noomi – durch die gleichzeitige Treue zu Gott bzw. zum Bund Gottes gekennzeichnet, sondern direkt mit dem inkarnierten λόγος selbst möglich. Gleichzeitig ist die Freundschaft zwischen Jesus und seinen Jüngern durchaus vergleichbar mit Beziehungen im Alten Testament, in denen jemand seinen Nächsten/Freund liebt wie sein eigenes Leben.3 Auf diese Weise verbindet Johannes zugleich die Vorstellung einer Freundschaft als zwischenmenschliche Beziehung mit dem Topos der Gottesfreundschaft. Während Gottesfreundschaft im Alten Testament auf Abraham und Mose beschränkt bleibt, wird diese über das Kreuz universalisiert und auf alle in der Nachfolge Jesu übertragen.

Das Motiv der Freundschaft liefert hier in jedem Fall im Vergleich zu den Paulusbriefen oder den Synoptikern ein Alternativmodell zur Deutung des Kreuzes. Dabei wird ein in der Enzyklopädie der frühen Christen verbreiteter Topos auf die Jesus-Christus-Geschichte bezogen und zudem noch mit alttestamentlichen Vorstellungen verschränkt. Im Johannesevangelium geht es dabei weniger um eine Freundschaftsethik als um Theologie, Christologie und auch Ekklesiologie: Die Gemeinde ist in dieser johanneischen Perspektive weniger eine ‚Gemeinschaft der Heiligen‘ oder eine ‚Gemeinschaft der Sünder‘ als eine ‚Gemeinschaft der Freunde‘.

2.2.2 Jesus und die Liebe zu den Freunden im Matthäusevangelium

Während die johanneische und lukanische Literatur aufgrund des Gebrauchs des φίλος-Begriffs in verschiedenen Untersuchungen zur Freundschaft in den Blick gerät, ist dies beim Matthäusevangelium weniger der Fall. Zumeist wird Mt 11,19 auf eine einzige einschlägige Stelle verwiesen, die zudem noch einen Paralleltext bei Lukas besitzt:

ἰδοὺ ἄνθρωπος φάγος καὶ οἰνοπότης, τελωνῶν φίλος καὶ ἁμαρτωλῶν.

Sieh, ein Mensch, Fresser und Weinsäufer, ein Freund von Zöllnern und Sündern.

Das, was dem Volk hier vom sprechenden Jesus selbst in den Mund gelegt wird, ist ein Vorwurf, der verfängt und zugleich auf der Reziprozität von Freundschaft aufbaut. ‚Freund‘ ist ja hier gerade deswegen pejorativ zu verstehen, weil dahinter die Vorstellung des Sich-Gleich-Machens mit den genannten Gruppen der Zöllner und der Sünder steht. Jedenfalls ist das Tun des Schlechten, die Ausbeutung anderer das Gemeinsame, das hinter diesem Vorwurf der Freundschaft steht und von dem sich der Text abgrenzt:

„He becomes the friend of sinners and tax collectors because of his joy in their common freedom – God’s future. When ‚respectable society‘ calls him a ‚friend of sinners and tax collectors,‘ however, it wants only to denounce and compromise him. In keeping with the law according to which ist ranks are organized, respectable society identifies people with their failings and speaks of sinners […] From this society speaks the law, which defines people always by their failings. Jesus, however, as the Son of Man without this inhuman law, becomes the friend of sinful and sick persons. By forgiving their sins he restores tot hem their respect as men and women.“1

Eine weitere Abgrenzung, die eine besondere Pointe vor dem intertextuellen Hintergrund der griechischen Texte zur Freundschaft erhält, findet man in Mt 5,47:

καὶ ἐὰν ἀσπάσησθε τοὺς ἀδελφοὺς ὑμῶν μόνον, τί περισσὸν ποιεῖτε; οὐχὶ καὶ οἱ ἐθνικοὶ τὸ αὐτὸ ποιοῦσιν;

Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?

Bemerkenswert ist zunächst die von maßgeblichen Zeugen überlieferte Lesart, die ἀδελφούς durch φίλους ersetzt. Ein liebenswertes (in Mt 5,47 auch: ehrerbietendes)2 Verhalten gegenüber den Gleichen, den Freunden, den Geschwistern innerhalb einer Freundschaftsbeziehung ist hier als typisches Verhalten der nicht zur eigenen Gruppe gehörenden Anderen (οἱ ἐθνικοὶ) vorgestellt – eine offensichtliche Kritik genau an der etwa bei Aristoteles entfalteten Freundschaftsethik.

 

Der Matthäustext setzt hier eine bemerkenswerte Pointe, die sich vor dem Hintergrund der griechischen Texte noch einmal anders liest:

„Selbst dann, wenn der ‚Nächste‘ sich seinerseits nicht als liebenswürdiger und solidarischer Mitmensch oder gar als Freund erweist, ist das Gebot gültig, so daß in der radikalen und demonstrativen Vollkommenheitsforderung der Bergpredigt, wie noch zu zeigen ist, die Einschränkung des Gebotes der Nächstensliebe auf bestimmte (pejorative) Formen der Freundschaftsliebe kritisiert und zur Feindesliebe entschränkt werden kann.“3

Durch die Verwendung des Begriffs des ‚Nächsten‘ aus den alttestamentlichen Texten ist diese Entschränkung der Freundschaftsliebe schon angelegt: Auch der Fremdling, der unter euch wohnt (Lev 19,33f.), kann Nächster sein, auf den die liebende Zuwendung sich beziehen soll.

Auch die durch den Folgevers (Mt 5,48) eingeforderte Vollkommenheit grenzt sich von der Reziprozitätslogik griechischer Freundschaftsethik und von einer Form der Gerechtigkeit innerhalb der Talionslogik ab. Die Vollkommenheit besteht gerade darin, sich – wie Gott selbst – den anderen zuzuwenden, auch und gerade dann, wenn ein asymmetrisches Verhältnis besteht und bestehen bleibt:

ἔσεσθε οὖν ὑμεῖς τέλειοι ὡς ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος τέλειός ἐστιν.

Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Diese Abgrenzung wird umso deutlicher, wenn man sich die Ausführungen im siebten Buch der Eudemischen Ethik etwas näher anschaut:

>ὅτι γὰρ ὁ θεὸς οὐ τοιοῦτος οἷος δεῖσθαι φίλου, καὶ τὸν ὅμοιον ἀξιοῦμεν. καίτοι κατὰ τοῦτον τὸν λόγον οὐδὲ νοήσει ὁ σπουδαῖος: οὐ γὰρ οὕτως ὁ θεὸς εὖ ἔχει, ἀλλὰ βέλτιον ἢ ὥστε ἄλλο τι νοεῖν παρ᾽ αὐτὸς αὑτόν. αἴτιον δ᾽ ὅτι ἡμῖν μὲν τὸ εὖ καθ᾽ ἕτερον, ἐκείνῳ δὲ αὐτὸς αὑτοῦ τὸ εὖ ἐστίν.

Weil Gott nämlich nicht so ist, dass er einen Freund braucht, erachtete es das Argument für richtig, dass auch der (dem Gott) Gleiche (keinen brauche). Indes, nach diesem Argument würde der hochwertige Mensch nicht einmal (etwas außerhalb seiner) denkend erfassen können. Denn nicht in dem Sinn (wie der Mensch) ist der Gott glücklich, sondern sein Glück ist höheren Ranges, so dass der Gegenstand seines Denkens kein anderer sein kann als er selbst. Der Grund aber davon ist, dass für uns das Glück eine Bezogenheit nach außen hat, für Gott aber gilt, dass er selbst allein sein eigenes Glück ist. (Abschnitt 1245b)

Bei Aristoteles wird hier – durchaus in einer gewissen Spannung zu den oben zitierten Passagen aus der Nikomachischen Ethik – der kategoriale Unterschied zwischen Menschen und Göttern hervorgehoben: Menschen sind keine Götter! Und daher werden selbst die tugendhaftesten Menschen kein gottgleiches, und damit auch autarkes Leben ohne Freundschaften führen können. Gott4 ist sich in dieser Perspektive im mehrfachen Wortsinn selbst genug – wie oben bereits zitiert:

οὐθὲν γάρ φασι δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν·

Man sagt nämlich, dass die glückseligen und autarken Menschen keiner Freunde bedürften.

In intertextueller Perspektive profiliert das erste Kapitel der Bergpredigt so eine Ethik, die in zwei zentralen Punkten der griechischen Freundschaftsethik gegenübersteht: Die matthäische Ethik fordert eine ‚höhere Gerechtigkeit‘ als sich nur innerhalb von Freundschaften auch freundschaftlich zu verhalten. Und sie begründet diese Ethik mit dem Verhalten Gottes, dessen wesentliches Kennzeichen gerade nicht eine Autarkie, sondern seine Zuwendung gegenüber den Menschen ist.

Von dieser deutlichen intertextuellen Opposition ausgehend, gewinnen auch die Seligpreisungen zu Beginn von Mt 5 noch einmal eine andere Zuspitzung: Während im aristotelischen Freundschaftsideal gerade die weltabgewandten, autarken Menschen als μακάριοι verstanden werden, sind die μακάριοι bei Matthäus gerade die sich der Welt und dem Nächsten Zuwendenden: Trauer zu tragen (οἱ πενθοῦντες), Mitleid zu empfinden (οἱ ἐλεήμονες), Frieden zu stiften (οἱ εἰρηνοποιοί) und für eine andere Gerechtigkeit einzustehen und dafür verfolgt zu werden (οἱ δεδιωγμένοι ἕνεκεν δικαιοσύνης) sind wohl die deutlichsten Zeichen für diese matthäische Weltzugewandtheit.

Und auch der in Mt 5,43 schon angeklungene und dann bei der Frage nach dem höchsten Gebot in Mt 22,39 komplett zitierte Vers aus Lev 19 unterscheidet sich von der aristotelischen Freundschaftsethik. Während Mt 22,39 (ἀγαπήσεις τὸν πλησίον σου ὡς σεαυτόν.) Selbst- und Nächstenliebe auf eine Stufe stellt, betont Aristoteles – wie oben ausgeführt – den Vorrang der Selbstliebe bzw. Selbstfreundschaft (μάλιστα γὰρ φίλος αὑτῷ / φιλητέον μάλισθ' ἑαυτόν).

Schließlich sei noch bemerkt, dass sich die synoptische, insbesondere aber die matthäische Darstellung der Jünger mit Blick auf den Freundschaftstopos deutlich unterscheidet. Die Jünger sind gerade nicht, wie manche Unterrichtsentwürfe und Kinderbibeln5 vermitteln, ‚Jesu Freunde‘ – zumindest nicht in dem Sinn, wie Kinder und Jugendliche der Gegenwart Freundschaft verstehen.6 Gerade Mt 28,20 macht ja deutlich, dass das Modell einer Lehrer-Schüler-Beziehung nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler im Matthäusevangelium bezogen werden soll, sondern die bleibende, gleichwohl asymmetrische, Beziehungsform mit dem Immanuel, auch über dessen irdisches Wirken hinaus, bezeichnet.