Buch lesen: «Monopoly im Ruhrgebiet»

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Dirk Schulte

Monopoly im Ruhrgebiet

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Monopoly im Ruhrgebiet

Impressum neobooks

Monopoly im Ruhrgebiet

Dirk Schulte

Roman

Eine frühere Version von Monopoly im Ruhrgebiet erschien bis Ende 2012 unter dem Namen Der Gott, der Kohle wachsen ließ.

Dirk Schulte

Monopoly im Ruhrgebiet

© 2020 Dirk Schulte

Covergestaltung: Jan Erik Strack

Titelbild: Metropole von Ariyadasa Kandege (www.Ruhrstadtmaler.de)

Schreiben ist leicht. Man muss nur die falschen Wörter weglassen.

Mark Twain

Leben ist das, was passiert, während du dabei bist, andere Pläne zu machen.

John Lennon

****

Vielleicht hätte mir klar sein können, dass es nicht leicht werden würde, aber darauf, dass es so beschissen laufen könnte, wie es dann lief, mit der freundlichen Unterstützung zahlreicher Leute, wäre ich niemals gekommen.

Dabei fing alles mit der verrückten Idee an, tief in mir drin würde ein Schriftsteller stecken, woraus sich die noch verrücktere Idee ergab, dass ich auch einer werden könnte.

Und so hatte ich mich bei dem Literaturwettbewerb beworben, den der Bergbaukonzern ausgeschrieben hatte und hielt jetzt diesen Brief in Händen, der gerade auf meinem Dielenboden gelandet war und las ihn, zur Sicherheit zweimal, durch.

Herzlichen Glückwunsch, Herr Ritter.

Die Jury hat entschieden! Sie sind der glückliche Gewinner, der die Erfolgsgeschichte des Strukturwandels im Ruhrgebiet literarisch festhalten darf. Neben Ihren schriftstellerischen Qualitäten (schade, dass es die Kurzgeschichte Unterwegs nur auf die vorletzte Seite Ihrer Studentenzeitung geschafft hat, aber aller Anfang ist eben schwer), überzeugt uns Ihr unbelasteter Blick auf die Region. Wir würden uns freuen, Sie in unserer Essener Konzernzentrale kennenlernen zu dürfen. Und unser gemeinschaftliches Projekt könnte beginnen.

Mit freundlichen Grüßen, Dr. Meier.

Verdammte Hacke, dachte ich.

Ich faltete den Brief zusammen und rief im Studentenbüro an. Eine Frau, deren Namen ich nicht verstand, piepste mir entgegen.

„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

„Hallo, mein Name ist Mark Ritter. Ich studiere Betriebswirtschaft bei Ihnen und möchte ein Feriensemester beantragen. Nein zwei, also, ich weiß nicht genau, wie viele ich brauche.“

„Was wollen Sie denn machen?“

„Ich möchte einen Roman schreiben.“

Kurze Pause. „Aha, das hört man hier auch nicht allzu oft.“

„Also, Frau…“

„Schmitz.“

„Frau Schmitz, ich habe mich entschieden, ich nehme zwei Semester.“

„Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher.“

Die Person zur piepsigen Stimme versprach, alles fertig zu machen und mir die Unterlagen in den nächsten Tagen zuzuschicken.

Fünf Minuten später rief ich bei meinen Eltern an. Meinem Vater fiel fast der Hörer aus der Hand, als ich ihm von meinem Vorhaben erzählte.

„Du bist verrückt, mein Junge.“

„Vielen Dank auch, Papa.“

„Mark, Dein Studium ist doch viel, viel wichtiger. Du weißt, danach kannst Du bei Werkzeuge Wiesel durchstarten. Der Chef hat schon gefragt, wann Du kommst.“

Werkzeuge Wiesel war die Firma, bei der mein Vater seit gut dreißig Jahren arbeitete. Vielleicht nicht unbedingt glücklich, aber genügend abgesichert. Und bei der ich, aus seiner Sicht, nach meinem Studium in Köln unbedingt anfangen sollte.

„Weißt Du, Papa, Werkzeuge interessieren mich nicht.“

„Du wirst ja auch Betriebswirt.“

„Zahlen interessieren mich auch nicht. Kein bisschen. Schon gar nicht die von Feilen und Schleifscheiben.“

Am anderen Ende der Leitung fiel irgendetwas auf den Boden oder wurde absichtlich weggeworfen, das war schwer auseinanderzuhalten. „Was für ein Mist.“

„Weißt Du, ich will nur diesen verdammten Roman schreiben. Durch Eure Bücher im Wohnzimmer bin ich doch überhaupt erst zur Literatur gekommen.“

„Oh Gott.“

„Und um ehrlich zu sein, ich mach das schon mehrere Jahre.“

„Schreiben? Das höre ich zum ersten Mal. Was denn?“

„Kurzgeschichten und Novellen.“

„Hat das Zeug schon jemand gelesen?“

„Den Leuten in Essen scheint es gefallen zu haben. Und ich habe es sogar in unsere Studentenzeitschrift geschafft.“ Die Sache mit der vorletzten Seite ließ ich vorsichtshalber weg.

„Mark, Du machst einen Riesen-Fehler. Deine Kölner Wohnung kostet uns eine Menge Geld, das kannst Du Dir denken.“

„Papa, ich werde Dir zeigen, dass ich es kann.“

Es polterte ein zweites Mal durch den Hörer.

„Papa?“

„Ja?“

„Alles klar bei Dir?“

„Die Vase mit den Stiften ist gerade kaputt gegangen. Dumme Sache. Aber ich möchte, dass Du zwei Sachen weißt.“

„Was denn?“

„Erstens, ich fand die Vase schon immer hässlich.“

„Aha. Und die zweite Sache?“

„Verdammt nochmal, lass den Quatsch mit diesem bescheuerten Buch.“ Dann legte mein Vater auf.

Ich wartete, ob meine Mutter noch einmal anrufen würde, nachdem mein Vater ihr alles erzählt hatte, aber das Telefon blieb stumm wie ein Goldfisch hinter dickem Glas.

Am Nachmittag schmiss ich Klamotten und Bücher in meinen alten Opel Astra, zwängte mich in einen Anzug, der mangels Gelegenheiten ganz hinten im Schrank gelandet war und den ich sonst wahrscheinlich erst wieder für Herrn Wiesel ausgegraben hätte und folgte der Einladung zum Bergbaukonzern.

Nach einer halben Stunde Kampf auf der Autobahn baute sich Essen vor mir auf. Ich verließ die A 40 und schloss mich einer anderen Blechlawine an, die sich durch enge Häuserschluchten quälte.

Vor einem hohen Turm, dem wahrscheinlich größten Gebäude der Stadt, parkte ich meinen Astra und lief in eine riesige Vorhalle. Rechts hinter dem Eingang saß ein Pförtner unter einer großen Mütze. Auf einem Schild an seiner Brust stand Kaschinski.

„Glück Auf, wen haben wir denn hier?“, murmelte er in meine Richtung.

„Guten Tag, ich heiße Ritter und bin von Dr. Meier eingeladen worden.“

Er schaute mich an, als wäre ich von einem anderen Stern gekommen, um ausgerechnet mit ihm als ersten Menschen auf der Erde zu sprechen.

„Sind Sie sicher?“

Ich gab ihm den Brief, den er vermutlich las, was unter der Mütze allerdings nicht zu beweisen war.

„Ah, Dr. Meier, hmmh. Der hat gerade keine Zeit.“

„Schade und was mache ich jetzt?“

„Ich schicke Sie zu Frau Pesch.“

„Wer ist Frau Pesch?“

„Das wird sie Ihnen dann erzählen.“

Er gab mir den Brief zurück und schaute mich an, als wäre die Sprechstunde für Außerirdische ab sofort wieder geschlossen.

„Herr Kaschinski, würden Sie mir vielleicht noch verraten, wo ich diese Frau finde?“

„Einen Moment.“ Er blätterte durch irgendwelche Unterlagen. „Dritte Etage, Zimmer 325.“

Ich quetschte mir ein Dankeschön heraus, nahm einen der vielen Aufzüge und fuhr nach oben. Vor einem gebogenen Gang mit hellgrauem Teppich stieg ich aus und hatte bald Nummer 325 gefunden. Ich klopfte an.

Eine kleine Dame, etwa vierzig Jahre alt, mit schwarzen Haaren und einer runden Brille, öffnete mir.

„Guten Tag, Sie sind Herr Ritter?“

„Ganz richtig.“

„Mein Name ist Pesch. Glück Auf.“

„Äh, ja, ebenso, wenn man das so sagt.“

„Kommen Sie erstmal rein.“

Sie ging voran in einen hellen Raum und ich folgte ihr. Vor einer Glaswand stand ein großer Schreibtisch mit allerlei Stapeln Papier. Links ragte eine beeindruckende Bücherwand in die Höhe.

„Herr Kaschinski hat mich geschickt“, sagte ich und reichte ihr den Brief.

„Herr Kaschinski?“

„Die Plaudertasche, die gerade an der Pforte Dienst hat.“

Sie lachte, überflog den Brief und bot mir einen Platz auf der anderen Seite ihres Schreibtisches an. „Wissen Sie, diesen Humor mag ich auch an Ihren Geschichten.“

„Sie haben sie gelesen?“

„Ja klar, alle. Starke Figuren, solide Handlungsentwicklung, wenn auch nicht immer subtil genug, kurzum, noch viel Potenzial nach oben.“ Sie machte eine kurze Pause. „Na gut, jetzt wissen Sie ja schon fast, was ich hier mache. Ich habe mal Literaturwissenschaften studiert, Gott, ist das lange her und dann bin ich in diesem Haus gelandet. Seitdem versuche ich hier, Wirtschaft und Kultur miteinander zu vernetzen.“

Sie nahm sich ein paar Blätter, die auf ihrem Schreibtisch lagen und legte sie sorgsam zu einem Stapel übereinander.

„Irgendwann hatte ich die Idee zu dem Wettbewerb, an dem Sie teilgenommen haben. Und dann habe ich Dr. Meier bequatscht, Sie zum Sieger zu machen.“

„Das heißt, Sie saßen in der Jury?“

„Ich bin die Jury.“

Sie stand auf und lief zum Bücherschrank, vor dem sie geradezu winzig erschien. „Sehen Sie, in diesen Regalen stehen Romane über Romane, aber einer fehlt: das große Buch über das Ruhrgebiet. Es gibt Berlin Alexanderplatz über unsere Hauptstadt zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, Buddenbrooks über Lübeck, aber da ist nichts Vergleichbares über unsere Region. Das wollen wir ändern.“ Sie setzte sich wieder hin. „Das sollen Sie ändern. Ist doch zu schaffen, oder?“

Noch ehe mir eine Antwort einfiel, bimmelte das Telefon. Frau Pesch nahm ab und sagte „Mache ich“, bevor sie wieder auflegte.

„Wir werden uns später weiter unterhalten. Dr. Meier hat jetzt Zeit für Sie. Sie fahren am besten gleich zu ihm hoch. Fünfundzwanzigste Etage. Unsere höchste.“

„Und welches Zimmer ist es?“, fragte ich.

Sie grinste. „Da oben gibt es nur eins.“

****

Ich ging zum Aufzug und drückte die oberste Taste. Wahrscheinlich würde ich wieder mit einem Glück Auf begrüßt werden und für dieses Mal nahm ich mir vor, das Gleiche zu entgegnen.

Kurz danach stand ich vor dem Zimmer von Frau Cieselinski, der Chefsekretärin.

Cieselinski, was für ein typischer Ruhrgebietsname. Wahrscheinlich aß sie jeden Mittag eine Currywurst mit Pommes und war dazu noch Schalke Fan.

„Schön, dass es so schnell geklappt hat“, sagte sie. Vom Aussehen schien es mit der Currywurst hinzukommen.

„Frau Cieselinski, mögen Sie Schalke?“

„Warum wollen Sie das wissen? Na, ist auch egal, ich bin Bayern Fan, aber das bleibt besser unter uns. Kommen Sie mit. Der Chef wartet auf Sie.“

Sie öffnete die Tür und schickte mich in einen riesigen Raum, dessen Außenwand fast vollständig aus Glas bestand.

„Hallo Herr Ritter“, sagte eine sonore Stimme von weit hinten. Ein Mann um die fünfzig Jahre, mit grauen Haaren und einem gewinnenden Lächeln, kam auf mich zu und begrüßte mich mit festem Handschlag.

„Sie haben vielleicht ein ´Glück Auf ´ erwartet, aber das ist ein alter Hut. Wir lösen uns von der Steinkohle und wollen ein modernes Unternehmen werden, und da habe ich angeordnet, diese Floskel, etagenweise von oben nach unten, nicht mehr zu verwenden.“

„Was erwidert man denn?“

„´Glück Auf´, ganz einfach, aber belasten Sie sich nicht damit. Es stirbt aus. Nach und nach.“

Der angegraute Herr mit der Zahnlücke nahm mich mit zu der großen Fensterwand. Von der man einen tollen Blick aufs erstaunlich grüne Ruhrgebiet hatte.

„Schauen Sie, das alles haben wir dem Bergbau zu verdanken“, sagte Dr. Meier und führte seinen ausgestreckten Arm von links nach rechts, wie früher Feldherren über eine Karte gefahren sein mussten. „Tausende Bergleute sind damals in unsere Region gezogen, um gutes Geld zu verdienen, viele haben ihre Familien nachgeholt und der Bergwerksdirektor, also mein Vorgänger, hat sich um alles gekümmert.“

Er deutete auf ein großes Gelände mit Förderturm und unzähligen Schornsteinen.

„Schauen Sie, da drüben, die Zeche Zollverein, einst die größte und modernste Anlage auf der Welt. Zur Untätigkeit verdammt. Ein furchtbarer Anblick, nicht wahr?“ Er schüttelte sich kurz, als sei er aus einem Traum erwacht. „Man kann also kaum übersehen, dass es mit der Kohle so gut wie vorbei ist. Und genau deshalb brauchen wir ein neues Geschäftsmodell. Und was wird das wohl sein, Herr Ritter, was meinen Sie?“

„Ähm, keine Ahnung.“

„Die Kultur natürlich. Sagt Frau Pesch mir jedenfalls immer.“

Er führte mich von der Glasscheibe zurück in den Raum. Vielleicht kam nun, was das Ganze mit mir zu tun hatte.

„Ich möchte, dass Sie genau darüber schreiben. Über Kultur. Über Kunstausstellungen auf Zollverein zum Beispiel. Ja, so was planen wir.“

„Natürlich, sehr gerne. Deshalb bin ich ja hier.“ Und hatte, aber das nur am Rande, mein Studium geschmissen und meine Eltern verprellt.

„Dann freue ich mich auf unsere Zusammenarbeit. Im Übrigen habe ich einen Mitarbeiter für Sie freigestellt, der Ihnen rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, zur Verfügung steht. Er zeigt Ihnen all die Schmuckstücke, die wir im Angebot haben.“

Er lief zu seinem Schreibtisch. „Frau Cieselinski, seien Sie so nett und schicken uns Herrn Panzer herein.“

Er schaute mich mit einem gequälten Lächeln an. „Allerdings, nun ja...“

„Was denn?“

„...ist er etwas schwierig.“

„Schwierig? Wie meinen Sie das?“

„Er kommt aus einfachen Verhältnissen, Sohn eines Bergmanns, der früh arbeitslos geworden ist, und das verleugnet er keine Sekunde. Nennen Sie es Stolz oder Sturheit, ganz wie Sie wollen. Aber schauen Sie selbst.“

Nicht viel später betrat das Arbeiterkind Panzer den Raum. Er war groß und stämmig und trug einen stattlichen, hellbraunen Schnäuzer, der von einem Dreitagebart eingerahmt war. Er hatte kräftige Hände und wirkte wie ein Bauarbeiter. Sein Gesicht lief über von einem gespielten Desinteresse, das ich von Anfang an nicht mochte. Stenger Zigarettengeruch erfasste plötzlich den Raum und vernebelte mir fast die Sinne.

Mit schnellem Augenschwung schaute er mich von oben bis unten an.

„Sie sind also…“- er machte eine klitzekleine Pause - „… dieser Schriftsteller, der dieses, äh, Dings schreiben soll?“

„Korrekt. Interessieren Sie sich auch für Bücher?“

Sein Gesicht lief rot an. „Um Himmels willen nein. Ich kann Geschwafel nicht ausstehen.“

„Wie schade für Sie.“

„Stopp, meine Herren“, unterbrach uns Dr. Meier. „Sie haben in den nächsten Wochen noch genügend Zeit, sich kennenzulernen.“

„Dann Schlüssel her“, brummte Panzer und schaute mich missmutig an. Er fuhr seinen Arm mit der beeindruckend großen Hand und nikotingelben Fingern wie ein Teleskop zu mir aus.

„Warum, wenn ich fragen darf?“

„Herr Panzer parkt Ihr Auto in unserer Tiefgarage, wenn Sie einverstanden sind. Sie brauchen es vorerst ja nicht mehr.“

„Natürlich“, sagte ich. „Es ist ein roter Opel Astra.“

„Ich hole Sie dann mit Susi ab“, sagte Panzer und verschwand durch die Tür.

„Und wo bringt mich dieser komische Mensch hin?“, fragte ich Dr. Meier.

„Ah, das habe ich ganz vergessen, zu erwähnen. Sie werden ein Hotel in der Essener City beziehen, das wir für Sie gebucht haben.“

Stimmt, in inspirierender Umgebung werden Sie sich literarisch auslassen können, hatte in der Ausschreibung gestanden. An die Passage, ein durchgeknallter Reiseführer wird Ihnen rund um die Uhr auf die Nerven gehen, konnte ich mich allerdings nicht mehr erinnern.

„Einen anderen Fahrer haben Sie nicht?“

Dr. Meier schüttelte den Kopf. „Leider nein. Aber er kennt sich in der Region wirklich hervorragend aus.“

„Na dann.“

„Sie klingen nicht sehr begeistert.“

„Naja, ich kenne ihn zwar kaum. Aber er scheint ein sehr spezieller Mensch zu sein.“

„Sie haben Vorbehalte, das kann ich verstehen. Na gut, ich mache Ihnen folgenden Vorschlag. Wenn Sie überhaupt nicht klarkommen sollten, melden Sie sich bei mir und wir suchen nach einer Lösung. Ich darf mich aber jetzt entschuldigen, Herr Ritter, wir haben eine Strategiebesprechung und ich wünsche Ihnen alles Gute und Toi, toi, toi.“

Der letzte Bergwerksdirektor, Herr über noch fünf aktive Zechen und unzählige Liegenschaften, gab mir verbindlich die Hand. Dann fuhr ich nach unten.

****

Wie sich herausstellte, war Susi ein weißer Ford Mustang, der seine besten Zeiten schon lange hinter sich hatte und dessen Armaturenbrett bei höheren Drehzahlen bedenklich zu klappern begann. Es stank nach altem Rauch und billigem Parfum. Schweigend fuhr mich Panzer zu meiner neuen Unterkunft. Er sagte noch kurz, dass er morgen früh für einen ersten Ausflug vorbeikommen werde, und dann war ich ihn los.

Ich meldete mich an der Rezeption und wurde von einem Portier auf mein Zimmer begleitet. Auf einem Tisch lagen Zeitschriften mit Klatschgeschichten, ein Reiseführer über die Region und eine aktuelle Ausgabe der WAZ, der selbsternannten Zeitung des Ruhrgebietes.

Abends gab es Rumpsteak, Kroketten und Grillgemüse. Schriftsteller zu sein, hatte sich noch nie besser angefühlt.

Am nächsten Morgen holte mich Panzer kurz nach dem Frühstück ab. Er wirkte verschlafen, schien genauso schlecht gelaunt wie tags zuvor und musterte mich von oben bis unten.

„Wie hat der Herr Schriftsteller geschlafen?“

„Hervorragend“, sagte ich, auch wenn ich so aufgekratzt gewesen war, dass das wirklich nicht stimmte. Die meiste Zeit hatte ich mich im Bett mit der frisch duftenden Wäsche hin- und her gewälzt und vage über das Buch gegrübelt, das ich mal schreiben sollte. „Reden wir von Ihnen. Sie sehen müde aus.“

„Ich musste meinen Frust wegspülen, dass ich Sie in der nächsten Zeit am Hals haben werde.“

„Ah, vielen Dank.“

„Keine Ursache.“

„Und, wo ist Susi heute?“

„Die hat frei. Wir können alles zu Fuß erledigen.“

Schweigend liefen wir in die Essener Innenstadt und passierten klobige Wohnblöcke und triste Bürogebäude.

„Was haben Sie gegen mich?“, fragte ich nach einer Weile.

„Geht Sie gar nichts an.“

„Verdammt nochmal, was habe ich Ihnen denn Schlimmes getan? Warum sind Sie so komisch zu mir?“

„Fragen Sie Dr. Meier, warum er mich ausgesucht hat. Ich vermute, der hat seine Gründe.“

„Welche Gründe?“

„Keine Chance, das geht Sie nichts an.“

Wir bogen ab und kamen zum Hauptbahnhof, der ein wenig heruntergekommen war.

Vor der Lichtburg, einem Kino, machte Panzer halt. Wir gingen ins Restaurant im gleichen Gebäude, ein dunkler Raum mit einfachen Tischen und Stühlen, der Boden aus abgenutztem Parkett und bestellten zwei Nudelgerichte.

„Ich schlage vor, wir duzen uns“, sagte ich. Irgendwie musste man den Knoten doch durchtrennen können. „Ich bin Mark.“

„Stefan.“ Er nahm meine Hand und drückte mit seiner Pranke derart kräftig zu, dass ich es knacken hörte.

„Was halten Sie davon,…“ Meine Finger ließen sich noch bewegen, schmerzten aber höllisch. „was halten Sie davon, wenn wir alles vergessen, was bisher geschehen ist.“

„Was soll das bringen?“

„Wir hätten bessere Laune und das wäre auch gut fürs Buch.“

„Weißt Du, Mark,…“ Panzer schob sich einen Löffel Pasta unter seinen wuchtigen Schnäuzer. „ich habe das schon mal gesagt, Bücher interessieren mich nicht.“

Schweigend aßen wir die übersichtlichen Teller zu Ende und setzten, nachdem Panzer auf Kosten des Bergbaukonzerns alles bezahlt hatte, unseren Spaziergang fort. Wir passierten das Colosseum, ein riesiges Gebäude aus Backstein mit hohen Glastüren, in dem früher Turbinen hergestellt und heutzutage Musicals aufgeführt wurden, von denen Panzer genauso wenig zu halten schien wie von Literatur und erreichten einen Rasenplatz, umstellt von Bänken mit Blick auf das Grün.

Auf der anderen Seite der Bundesstraße brach die Bebauung ab. Panzer ging über ein riesiges Feld mit Unkraut und hohem Gras, ich folgte ihm mit einigem Abstand, bis ich stolperte und fast im Staub versank.

„Was ist los?“ tönte es von oben.

„Keine Ahnung, irgendetwas lag im Weg.“

„Vielleicht ein Gleis. Hier sind noch etliche Kilometer Schienen versteckt“, rief Panzer.

Tatsächlich, ich war über eine Eisenstange gefallen. Ich stand auf und klopfte mir den Staub von der Kleidung. Auch mein rechter Ellenbogen hatte etwas Schotter abbekommen und brannte höllisch. „Kannst Du mir verraten, was wir auf diesem dämlichen Acker machen?“

„Ein bisschen mehr Ehrfurcht bitteschön, wir stehen mitten in der Kruppstadt. Beziehungsweise das, was von ihr übrig geblieben ist. Das war mal ein riesiges Fabrikgelände, doppelt so groß wie die Essener Innenstadt. Bis alles von den Alliierten zerbombt wurde. Weil hier Waffen hergestellt wurden.“

„Was Du nicht sagst.“

„Außerdem wird hier nach und nach ein neues Stadtareal entstehen, Du weißt, Strukturwandel und dieses ganze Zeugs und deshalb hat sich unser Arbeitgeber gewünscht, dass wir uns das anschauen.“

„Immerhin haben die ein Programm für uns. Mehr gibt es hier nicht?“

„Wir haben die `Pferdebahn´“, sagte Panzer und lächelte. Immerhin, so etwas schien möglich zu sein.

„Pferdebahn? Was ist das?“

„Eine sehr beliebte und belebte Straße.“

„Einverstanden, Stefan, lass uns da hingehen.“

Panzer fummelte sich eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündete sie an. „Sei mir nicht böse, ich rauch mir lieber noch eine. Aber wenn Du gehen willst, immer geradeaus, in diese Richtung.“

Ich wollte, lief an verfallenen Hallen vorbei durch eine verlassene Gegend und kam zu einer Straße mit kleinen Fabrikhallen und heruntergekommenen Geschäften aus der Nachkriegszeit. Die Autos fuhren auffallend langsam.

Auf dem Bürgersteig stand eine spärlich bekleidete Frau. Ihr Alter war wegen der grellen Schminke nur schwer zu schätzen.

„Entschuldigen Sie.“ Ich ging auf sie zu. „Ein Bekannter hat mir die Straße empfohlen. Was gibt es hier zu sehen?“

„Mich natürlich“, sagte sie mit starkem osteuropäischem Akzent. Sie schaute mich skeptisch von unten bis oben an. „Aber hier Du kannst nicht gucken alles.“

„Wo denn dann?“

„Du bist mit Auto hier?“

„Nein, zu Fuß.“

„Schade“, sagte sie und drehte sich mit einer schnellen Wendung von mir ab. „Wenn Du willst schöne Sachen sehen, hier auf Straße kann ich nicht machen.“ Sie zog ihren tiefen Ausschnitt nach oben und begann auf einem Kaugummi zu kauen, das die ganze Zeit vernachlässigt in ihrem Mund gelegen hatte.

Einige Autos hielten am Straßenrand. Die Scheiben auf der Beifahrerseite wurden heruntergekurbelt. Dann unterhielten sich Männer mit Frauen, die genau so knapp bekleidet waren wie mein Gegenüber.

Ihr schien eine Idee gekommen zu sein, denn plötzlich drehte sie ihr angemaltes Gesicht wieder frontal zu mir. „Freundin von mir hat Zimmer in der Nähe. Wenn Du willst, können wir machen gucki, gucki da. Hundert Euro die Stunde, aber nur mit.“

Prima, Panzer hatte mich zum Straßenstrich geschickt.

„Ich bin Beste für Dich, habe gutes Gefühl für uns“, sagte sie und schob eines ihrer stämmigen Beine leicht über das andere.

„Kein Interesse, wissen Sie, Frau…“

„Natascha.“

„Also Natascha, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich habe mich wirklich nur verlaufen.“

„Pah, kannst Du erzählen Deiner Freundin, wenn sie sieht Dich auf Straße hier.“

„Nein, ehrlich, ich arbeite für den Bergbaukonzern und schreibe einen Roman über das Ruhrgebiet. Und wenn ich ihn fertig habe, bekommen Sie ein Exemplar. Versprochen.“ Wo auch immer ich hier gelandet war, eine erste Interessentin für mein Buch hatte ich gerade gefunden.

„Na gut, lese ich gerne, wenn ist mit viel Tamm-Tamm.“

Sie gab mir ein Kärtchen mit ihrer Telefonnummer und dann lief ich durch die Wildnis zurück zu Panzer.

„Wie war es?“ fragte er und zog an seiner Zigarette.

„Ich glaube, Du weißt, wohin Du mich geschickt hast.“

„Täusch ich mich oder wolltest Du zur Pferdebahn?“

„Bring mich zum Hotel. Sofort!

Panzer schmiss seine Kippe ins Gestrüpp und marschierte los. Etwas schwierig, hatte Dr. Meier gesagt. Das war ungefähr so bescheuert, wie einen Elefanten zierlich oder einen Löwen Vegetarier zu nennen.

Vor dem Hotel sagte Panzer, dass er morgen für einen neuen Ausflug vorbeikommen werde, diesmal mit Susi. Kurz darauf, noch ehe ich widersprechen konnte, war er in einer Nebenstraße verschwunden.

****

Am nächsten Morgen, bei einem ausgiebigen Frühstück im Speisesaal mit Müsli und leckerem Kaffee, fiel mir ein, dass ich einen Familienroman schreiben sollte. Nicht über mehrere Generationen, sondern vertikal mit mehreren Geschwistern und ihren verschiedenen Lebensläufen, Talenten und Berufen. Das würde mir genügend Raum geben, um das Ruhrgebiet abzudecken.

Nach dem Essen lief ich hoch auf mein Zimmer, warf meinen Laptop an und erstellte, da mir bessere Ideen nicht kommen wollten, eine Datei mit dem Titel Noch Namenlos. Dann ging es los. Fast wie von Geisterhand strömten die ersten Sätze aus mir heraus. Schnell war die erste Seite geschafft.

Als ich Noch Namenlos nach etwa anderthalb Stunden schloss, hatte ich drei leere Blätter gefüllt und ich hoffte, nicht mit den schlechtesten Sätzen. Wie gut, das würde sich wie immer erst am Folgetag herausstellen. Wenn gekürzt, gestrichen und neu formuliert werden musste. So oder so, die ersten Trippelschritte auf dem Weg zum Gipfel lagen hinter mir. Ein Anfang war gemacht.

Ich wartete im Foyer auf Panzer, als es plötzlich hupte. Alle Köpfe drehten sich nach draußen. In der Einfahrt zum Hotel, im absoluten Parkverbot, stand ein weißer Ford Mustang. Das spiegelnde Seitenfenster ging herunter und ein buschiger Schnäuzer kam zum Vorschein.

„Na endlich“, nörgelte Panzer, als ich widerwillig eingestiegen war. Aber einen anderen Fahrer, der mich vielleicht freundlich begrüßt hätte, gab es ja nicht, hatte man gesagt.

„Kann losgehen“, quetschte ich heraus und versenkte meinen Gurt in der Halterung. „Und kein Wort über gestern.“

„Aber Du…“

Kein Wort!

Schweigend überquerten wir die A40 und tauschten den reichen Süden gegen den armen Essener Norden.

Nach einigen Kilometern auf der Bundesstraße, vorbei an tristen Wohnblöcken aus der Nachkriegszeit, bog Panzer rechts ab und fuhr durch ein rechtwinkliges Gerüst von Straßen, bis ich die Orientierung verlor. Schließlich zog er Susi nach rechts, parkte mit einer Vollbremsung zur Hälfte auf einem Bürgersteig und stieg aus.

Er lief zu einer Hütte hinter gestapelten Zeitungen und Dosen voller Süßigkeiten.

„Na Stefan, wie läuft es?“ fragte der Mann hinter der Glasscheibe und schob diese weiter zur Seite. „Sach ma, wen hast Du denn da angeschleppt?“

„Das ist Herr Ritter“, sagte Panzer und drehte sich kurz zu mir um. „Er schaut sich im Ruhrgebiet um.“

„Na, Herr Ritter, dann bist Du hier genau richtig. Bei uns in Altenessen schlägt das Herz vom Revier, wenn es auch, datt muss man sagen, ein bissken ins Stolpern gekommen ist.“

„Er schreibt über das neue Ruhrgebiet“, schob Panzer mit einer gekünstelten Betonung nach. „Für den Bergbaukonzern.“

„Ach Gott, dafür gibt es Geld. Uns haben sie damals alle rausgeschmissen. Weißt Du, junger Mann, ich war auch mal unter Tage. Bis Neunzehn-sechsundachtzich, als dann auf einmal Schluss sein sollte und die Herrschaften den Laden dicht gemacht haben. Sechsunddreißig war ich, aber klein haben die mich nicht gekriegt. Ein paar Wochen später habe ich den Kiosk hier aus dem Boden gestampft.“

„Gute Entscheidung damals“, sagte Panzer.

„Datt konnte aber nicht jeder von den zehntausend, die man rausgeskickt hat, weil ett halt nicht jedem liegt, Unternehmer zu sein und selbständig, und ett kann ja auch nicht jeder eine Bude betreiben, wer soll denn dann noch kaufen kommen?“

Ein Kunde schlängelte sich an unsere Theke. Er atmete aus und meine Augen fingen an, höllisch zu brennen.

Wortlos legte er zwei Euro in die Schale und nahm sich die Flasche Pils, die ihm Alfons, ebenfalls wortlos, hinstellte.

„Bisch heute mittach“, lallte die Schnapsdrossel und torkelte mit einem dämlichen Grinsen wieder davon.

„Wo ist denn datt neue Revier?“ fragte der Kioskbesitzer durch herabhängende Lebkuchenherzen. „Bei uns hier ist es nicht, glaube ich.“

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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