Buch lesen: «Der Schützling», Seite 3

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Wie das lief, schildert der Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichtes Koblenz, Joachim Vonnahme, 1995 in der Begründung seines auffallend milden Urteils gegen den Spitzenspion. Kanter, im Bonner Flick-Büro von 1974 bis zu dessen Schließung im Jahre 1981 an vorderster Front im Einsatz, war erst lange nach dem Ende der DDR im Jahre 1994 festgenommen und gleich wieder auf freien Fuß gesetzt worden. »Während der gesamten Dauer seiner Tätigkeit im Bonner Büro der Flick-Gruppe«, so der Text des weggeschlossenen Urteils, »hatte der Angeklagte ferner Einblick in die Vergabe von Geldern an Politiker und Parteien, insbesondere zur Wahlkampfunterstützung. An Spenden des Unternehmens bis zu einer Höhe von 10.000 DM wirkte er unmittelbar dergestalt mit, daß er zu Anfang eines Jahre eine Vorschlagsliste mit einem Gesamtvolumen zwischen 100.000 und 200.000 DM erstellte und sie der Konzernspitze vorlegte. Soweit diese die Vorschläge genehmigte, nahm der Angeklagte die entsprechenden Einzelanweisungen vor. Wenngleich er an der Zuteilung größerer Spendenbeträge, die sich die Konzernleitung in Düsseldorf allein vorbehalten hatte, nicht selbst mitwirkte, hatte er gleichwohl gesprächsweise auch davon Kenntnis. Von letzteren, später als die ›Flick-Affäre‹ bekanntgewordenen Vorgängen wußte er auch, daß die ›Spendenbeträge‹ teilweise nach außen verschleiert über gemeinnützige Einrichtungen an die Parteien und Politiker flossen und der Flick-Konzern so unrechtmäßig einen Großteil der Gelder als Steuererstattungen zurückerhielt.«

Vonnahme weiter: »Über die im Rahmen der beschriebenen Tätigkeit erlangten Kontakte und Erkenntnisse berichtete der Angeklagte der HVA. Mündlich informierte er seinen Instrukteur Dr. Krüger etwa über Kontakte zu Beamten und Politikern – vornehmlich aus CDU und FDP – und deren Einschätzungen zu politischen und wirtschaftspolitischen Themen, über Verbindungen zu Journalisten, Organisationen und Institutionen sowie über berufliche und politische Probleme, über Vorkommnisse in dem Bonner Büro der Flick KG und über die von ihm persönlich sowie von der Konzernspitze vorgenommenen Spendenaktionen an Politiker und Parteien. […] Von besonderer Bedeutung erschien ihm [dem MfS, D. K.] dabei die Spendentätigkeit des Flick-Konzerns, über die der Angeklagte bereits vor den Veröffentlichungen in westlichen Medien berichtete. Aufgrund der nachrichtendienstlichen Informationen des Angeklagten, ergänzt durch entsprechende Veröffentlichungen im Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹, vermochte es sich schon früh ein Gesamtbild von Entstehung und Entwicklung der ›Flick-Affäre‹ zu verschaffen. Gerade dieser Komplex schien die Einflußnahme der Wirtschaft auf politische Entscheidungsprozesse in besonderem Maße zu bestätigen. Die Berichte hierüber wurden denn auch innerhalb der HVA nicht, wie das vom Angeklagten zuvor gelieferte Material, an die für die Auswertung üblicherweise zuständige Abteilung VII, sondern direkt an die Leitungsebene der HVA gegeben. Der hohe Stellenwert, den der Operativvorgang in dieser Zeit hatte, wird auch dadurch deutlich, daß sich Leitende Mitarbeiter der HVA mehrfach mit dem Angeklagten trafen.«

Kanter blieb Stasi-Spitzenquelle, selbst als er 1981 den Posten in der Flick-Stabsstelle verlor; der Konzern machte das Lobbybüro an der Bonner Hausdorffstraße beim Aufplatzen der Spendenaffäre dicht. Eine Flick-Abfindung von 320.000 D-Mark in der Tasche, zog Kanter einen Hintergrundinformationsdienst für Topleute in Wirtschaft und Politik auf und quartierte sich im Haus neben der Spiegel-Redaktion an der Welckerstraße ein. Nachrichtendienstliche Delikatessen bekam Ostberlin von »Fichtel« auch aus dessen neuem Büro geliefert, zum Beispiel dieser Güte: Wolfgang Schäuble, der spätere Innen- und Finanzminister, der als Bundestagspräsident an die protokollarisch zweithöchste Stelle in der Bundesrepublik aufstieg, habe durch Zeugenmanipulation und Anstiftung zur Falschaussage massiv gegen Recht und Gesetz verstoßen. Jedenfalls bezeugt dies der 1981 ebenfalls entlassene Flick-Manager von Brauchitsch. Vor seiner ersten Vernehmung durch den Flick-Untersuchungsausschuss des Bundestags habe ihn Anfang 1984 Schäuble, damals in seiner Funktion eines Geschäftsführers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, um ein persönliches Gespräch gebeten. »Wir sollten uns möglichst an einem vertraulichen Ort treffen«, berichtet von Brauchitsch in seinem Buch Der Preis des Schweigens, seiner Rechtfertigungsschrift. »[…] das Büro Kanter schien mir für diesen Zweck bestens geeignet. Schäuble redete auf mich ein: Der Kanzler bitte mich inständig, jetzt keinen Fehler zu machen und Michael Kohlhaas zu spielen. Ich brauchte mich doch gar nicht so genau zu erinnern. Wir stünden unmittelbar vor einer Amnestie, dann sei ohnehin Schluss mit dem ganzen Zirkus. Ich habe meine Verteidigung daraufhin in einigen Punkten zurückgenommen.«

Im Büro Kanter, ausgerechnet. Auf Abhören und Mitschnitt vertraulicher Gespräche verstand sich »Fichtel« ja. Schäuble, mutmaßlich von unheilvollen Ahnungen über Ostberliner Mitwisserschaft seiner mannigfachen Aktivitäten am Rande oder neben der Legalität getrieben, hatte also Gründe, gleich nach der Wiedervereinigung die Vernichtung sämtlicher Stasi-Unterlagen zu fordern. Bürgerrechtler der DDR stoppten Schäuble; Kanter landete aufgrund der so gesicherten Akten vor Gericht. Das bekam kaum einer mit. Das Verfahren in Koblenz, in vier Wochen durchgezogen, fand als Geheimprozess statt, in seinen wesentlichen Teilen war Publikum nicht zugelassen. Das Machtkartell der geschmierten Politiker und Parteien der alten Bundesrepublik, also CDU/CSU, SPD und FDP, schaffte es auch nach der deutschen Einheit, den Fall Kanter vor den Wählern klein zu halten. Ein meisterliches Gemeinschaftswerk der Vertuschung.

Spionagechef Wolf zollte professionellen Respekt. »Als Adolf Kanter im Frühjahr 1994 dann doch verhaftet wurde, blieben die in solchen Fällen üblichen Triumphmeldungen über die Enttarnung eines weiteren ›Topspions‹ aus«, merkt er in seinen Memoiren an. »Die sonst so auf Öffentlichkeit bedachte Bundesanwaltschaft hielt sich zurück. Die Behandlung dieses Falls unterschied sich bemerkenswert von vergleichbaren Verfahren, etwa dem endlosen Spektakel des Prozesses gegen Karl Wienand. Das Hauptverfahren wurde binnen eines Monats durchgezogen. Es fand praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Einige Journalisten wurden erst später auf den Fall aufmerksam und wunderten sich, mit welcher Diskretion er über die Bühne gebracht worden war. Während des Verfahrens wurde Kanter nie in die Verlegenheit gebracht, sein umfangreiches Wissen über Interna der Regierungsparteien und ihre Verbindungen zur Industrie, über ihre Tarnfirmen und Geldwaschanlagen preisgeben zu sollen.«

Hätte Kanter vor Gericht ausgepackt, es wäre schrecklich peinlich, ja gefährlich für Kohl und Konsorten geworden. Seine Aufgabe in der Bonner Stabsstelle an der Hausdorffstraße sei es gewesen, so Wolf, für Flick bei Parteien und Regierung Informationen zu sammeln und politisch im Sinne des Konzerns Einfluss zu nehmen. »Ähnliches erwarteten auch wir von ihm. […] Dem Vertreter des Flick-Konzerns vertrauten Politiker Geheimnisse an, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.«

Kanter durfte darauf setzen, dass ihn sein Wissen schützen würde. Kurz vor Eröffnung der Hauptverhandlung vor dem Koblenzer Oberlandesgericht legte von Brauchitsch im Preis des Schweigens dar, »besaß Kanter die Stirn, mich in Zürich anzurufen. Ich war perplex und drängte darauf, das Gespräch sofort abzubrechen. Er wolle mir doch nur sagen, daß ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. ›Ich habe zwei Eisen im Feuer. Ich werde auspacken, und dann müssen die sehen, wie sie damit fertigwerden.‹«

Kanters Drohung zeigte Wirkung, er konnte seine Eisen im Feuer belassen. Richter Vonnahme hütete sich, in seiner Urteilsbegründung das Treiben Kanters bis in die Einzelheiten zu schildern. Ein Geheimprozess, so Richter Vonnahme, sei es »aber nicht so ganz gewesen«. Presse und Publikum hätten allerdings des Öfteren ausgeschlossen werden müssen, »wenn es um VS-Sachen ging«, um vertrauliche Verschlusssachen. Also fast immer. Denn während des ganzen Verfahrens ging es ja um Geheimdienstliches, also Verschlusssachen. Man hatte es darauf angelegt, dass bei den Journalisten, die häufig bei geschlossener Gerichtssitzung draußen warten mussten, nach einer Weile das Interesse erlahmen würde. Die Rechnung ging auf. Als das Urteil verlesen wurde, war keine Presse im Raum.

Wie nutzte Ostberlin seinen von Kanter gelieferten Wissensschatz? »Lange bevor die illegale Spendenpraxis des Flick-Konzerns der Öffentlichkeit bekannt wurde, waren wir bis in die Details informiert«, schreibt Wolf. »Was ›Fichtel‹ uns an Informationen über die Verbindung von Kapital und Politik lieferte, illustrierte die marxistische Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus recht deutlich. Schon um unsere Quelle zu schützen, widerstanden wir der Versuchung, das Material westdeutschen Medien zuzuspielen. Zur Aufdeckung des Parteispendenskandals im Jahr 1981 hat mein Dienst nicht beigetragen. Allerdings wurde auch damals nur die Spitze eines Eisbergs bekannt.«

Nur die Spitze des Eisbergs. Stimmt. Der Chef der Auslandsspionage der DDR wusste sehr viel mehr über diesen Bundeskanzler und seine beileibe nicht makellose Vergangenheit, als je in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Hatte Wolf den Pfälzer Kohl doch schon seit dessen Zeiten in der Jungen Union aus dem Dunkel heraus begleitet, gesteuert, finanziell fördern lassen. Über Kanter alias »Fichtel«. Was nicht sehr schwierig war. Kohl hatte früh kapiert: Für Aufstieg in der Politik und Erfolge auf dem Weg nach oben braucht es Geld. Um sich davon viel zu verschaffen, ließ er sich mit den Zwielichtigen Kanter und von Brauchitsch ein, und als Viertem im Bunde, wenn auch unwissentlich, mit Markus Wolf. Der saß bestens informiert unsichtbar mit am Tisch, wenn Kanter und von Brauchitsch ihre Pläne ausheckten, wie sich über vorgeblich gemeinnützige Einrichtungen wie die »Europäische Vereinigung für gegenseitigen Meinungsaustausch« Spenden beschaffen und waschen ließen.

Wolf lügt nicht, wenn er schreibt, die DDR hätte beim Aufdecken des Flick-Skandals nicht mitgefingert. Von Brauchitsch sah sich ja gerne als Opfer Ostberliner Durchstecherei. Er irrte. Der Autor weiß, wie die Parteispendenaffäre ins Rollen kam, er hat sie ja als Spiegel-Mann in Bonn mit seinen Kollegen angeschoben. Die allerersten Unterlagen sind ihm in der Tiefgarage unter der Kölner Domplatte in sein Auto hineingereicht worden. Von einem Unbekannten. Dass die DDR uns das Material hat unterjubeln wollen, war der erste Verdacht, als wir in unserer Redaktion die Papiere prüften. Waren sie gefälscht? Recherchen ergaben, das Material war echt, seinem Inhalt und seiner Beschaffenheit nach konnte es nur entweder von der Steuerfahndung oder der Staatsanwaltschaft oder teils, teils von beiden stammen. Beide Institutionen hatten dasselbe Motiv, sich hilfesuchend an die Öffentlichkeit zu wenden: Sie wurden massiv von den Regierungen und Parteizentralen in Bonn und Düsseldorf, wo die Nutznießer der Flick-Gelder saßen, in ihrer Arbeit behindert. Dass wir auf den Komplex Flick stießen, hat sich erst Zug um Zug bei den recht mühsamen weiteren Recherchen ergeben.

Dass Wolf seine Quelle »Fichtel« nicht gefährden wollte, mag so gewesen sein. Doch es gab noch einen gewichtigeren Grund für die Zurückhaltung der Stasi. Aus dem Herrschaftswissen ließ sich anders Kapital schlagen, viel lohnender für die DDR. Werner Großmann, der Nachfolger Wolfs an der Spitze der HVA, deutete nach der Wende an, wie und was da lief: »Aus politischer Rücksichtnahme« habe man auf die Weitergabe von Informationen über Flicks Politikerkauf an die westdeutsche Presse verzichtet. »Politische Rücksichtnahme«? Was sollte die Roten in Ostberlin zu »politischer Rücksichtnahme« auf die schwarze Kohl-Regierung getrieben haben? Der Grund ist einfach: Weil man Geld aus Bonn brauchte, in rauen Mengen. Der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden stand kurz vor der Pleite.

Helmut Schmidt und Erich Honecker hatten Ende der 1970er-Jahre hinter dem Rücken ihrer jeweiligen Vormacht – USA und Sowjetunion – eine Politik der Annäherung betrieben, bei der es erst einmal um wirtschaftliche Hilfen aus dem Westen gegen Ostberliner Erleichterungen im deutsch-deutschen Reiseverkehr ging. Seit Helmut Schmidts Zeiten und später, nach dem Regierungswechsel zu Kohl, tauschten sich die beiden deutschen Regierungen streng vertraulich über Möglichkeiten einer großzügigen Finanzhilfe und einer weiteren deutsch-deutschen Annäherung bis hin zu einer Konföderation der beiden Staaten aus. Nicht außerhalb jeder Realität: Die Mauer hätte schon in den frühen 1980er-Jahren fallen können. Die Chance zerrann, auch wegen Kanter.

Geheimprojekt »Zürcher Modell«. Jürgen Nitz, als DDR-Wirtschaftswissenschaftler in Ost-West-Kontakten eingesetzt, auch bei Gesprächen mit Vertretern des Bundeskanzleramts, umriss 1995 in einem Vortrag in Pankow, was unter diesem Code lief: »Der Büroleiter von CDU-Kanzleramtsminister Jenninger, Dr. Gundelach, schilderte retrospektiv das Vorhaben [vor einem Bundestagsuntersuchungsausschuss, D. K.] richtig: eine Art deutsch-deutscher Bank mit Sitz in der Schweiz; bei der sich die DDR so in einer Größenordnung von drei bis vier Milliarden DM hätte bedienen können, also im Sinne von Kreditgewährung; wenn es dafür im Gegenzug wirklich substantielle Verbesserungen im Bereich menschlicher Erleichterungen gegeben hätte; zum Beispiel das Rentnerreisealter um fünf Jahre zu senken und im Mindestaustausch für bundesdeutsche Besucher bei DDR-Reisen etwas zu tun. In die Bank sollte die milliardenschwere Kreditanstalt für Wiederaufbau eintreten, eine Finanzinstitution im Eigentum des Bundes, potent, um Milliarden für die DDR zu beschaffen.« Gundelach habe ferner erklärt: »Soweit ich weiß, hat Herr Jenninger auch den Bundeskanzler in der Regel mündlich informiert, vielleicht mal mit einem handgeschriebenen Blatt mit den entscheidenden Punkten.«

Über ein vertrauliches Treffen in der Schweiz mit einem Abgesandten des Bundeskanzleramtes trug Nitz in Pankow weiter vor: »Wie sah Jenninger damals die Chancen? Ich zitiere aus meinem Stenogramm beim Gespräch in Zürich: ›Wenn die DDR zum freien Reiseverkehr übergehen will und dies anbietet, könnte sich der Kanzler dem nicht verschließen. Er müßte die Frage einer Grundgesetzänderung durch den Bundestag neu beantworten lassen. Der Kanzler würde sich nicht der Realisierung einer Position, der zufolge sich die Deutschen nach so langer Trennung an jedem beliebigen Ort wieder zusammenfinden könnten, entgegenstellen.« In jenem engen Beziehungsgeflecht Bonn/Ostberlin außerhalb von Protokoll und Propaganda hatte sich auch die Idee eines Staatenbundes der beiden Deutschlands nach voller völkerrechtlicher Anerkennung der DDR ergeben, einer deutschdeutschen Konföderation. Codename: »Länderspiel«. Der Preis, Fall der Mauer und Freizügigkeit, schien Honecker nicht unter allen Umständen zu hoch. Doch es war ein zähes Gezerre, auch in den jeweils eigenen Lagern zwischen Betonschädeln und Reformern. Die CDU/CSU tat sich schwer mit der finanziellen Rettung der DDR, die DDR tat sich schwer mit den geforderten menschlichen Erleichterungen, die Breschen in ihre Grenze zur BRD reißen würden.

Beim Bonner Regierungswechsel hatte Kanzler Kohl vom Vorgänger Schmidt das deutsch-deutsche Geheimprojekt übernommen, ohne sich groß um das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zu scheren. Einer seiner Beauftragten für den vertraulichen Draht zum DDR-Regime wurde Philipp Jenninger als Staatsminister im Kanzleramt. Der war aus alten Oppositionszeiten gut Freund mit diesem spendablen Flick-Manager Kanter, dem er sich auch weiterhin eng verbunden fühlte, als der bei Flick ausschied und sich in Bonn als Politikberater und Publizist selbstständig machte. Jenninger und Kanter trafen sich wiederholt in Kanters konspirativer Wohnung in der Konrad-Adenauer-Allee im Rheinstädtchen Andernach. Für Stasi-Mann »Fichtel« war es ein Leichtes, den ebenso vertrauens- wie redseligen Kohl-Vertrauten über den jeweiligen Stand der deutsch-deutschen Geheimgespräche auszuhorchen. So hatte Wolf, keineswegs der engagierte Reformer, als er sich nach der Wiedervereinigung ausgab, den Hardlinern in Moskau und Ostberlin stets frische Nachrichten über die deutsch-deutsche Affäre zu bieten und ihnen die Obstruktion zu erleichtern.

Doch plötzlich, Andeutungen aus Ostberlin über die Flick-Schmierereien genügten, waren humanitäre Gegenleistungen der DDR nicht mehr nötig. Franz Josef Strauß und Helmut Kohl schoben, ohne Bedingungen, Erich Honecker zwei Milliarden D-Mark an Krediten hin. Einfach so? Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb nach einem Besuch im September 1983 beim DDR-Staatsratsvorsitzenden, der habe ihm erklärt, man sei an den Milliardenkredit »wie die Jungfrau zum Kind« gekommen. Oder vielleicht doch nicht in aller Unschuld? Sondern weil der SED-Chef so viel wusste vom Klassenfeind, dank Kanter, und sich »politische Rücksichtnahme« auf die geschmierten westdeutschen Politiker abkaufen ließ?

VIERTES KAPITEL
Der Brandenburger


»Führung: sehr gut«: Frühe Werdejahre eines Topspions.

»Mein Lebenslauf!

Als Sohn der Eheleute Josef Kanter und Maria geborene Hartung, wurde ich am 27. März 1925 in Plaidt (Kreis Mayen) geboren. Nach der Volksschulzeit (8 Jahre Marienschule Andernach) absolvierte ich eine dreijährige kaufmännische Lehre bei der Pirma Photodrogerie Heinrich Neuhaus, Andernach, die durch den Besuch der Drogistenfachschule in Bonn ergänzt wurde. Im März 1942 legte ich mit Erfolg die Kaufmannsgehilfenprüfung ab. Vom 1. April 1942 bis zu meiner Einberufung im Juni 1943 war ich als kaufm. Angestellter bei der Pirma Eisen- und Hüttenwerke A.G. in Andernach. Nach einer zweijährigen Dienstzeit bei der ehem. Deutschen Wehrmacht, und einer dreimonatigen amerikanischen Gefangenschaft, wurde ich im Juli 1945 entlassen. Seit dem 3. März 1946 bin ich bei der Regierung Koblenz, Dezernat I. – Verkehr, angestellt. Adolf Kanter«

Der kleine Parkplatz mitten in Plaidt, dort wo die Mühlenstraße auf die Hauptstraße trifft, ist für die älteren Bürger des Städtchens über dem Rheintal immer noch »Kanter’s Eck«. Dort stand das Haus samt Schlachterei des aus Niederzibelle im Regierungsbezirk Liegnitz zugezogenen Metzgers Theodor Julius Kanter, der sich im Ort mit seinen vorzüglichen schlesischen Wurstwaren einen Namen gemacht hatte. Sein Sohn Julius Adolf erlernte ebenfalls den Metzgerberuf, übernahm das Geschäft, fand in der Nachbargemeinde Wolken seine Ehefrau Maria Anna, die ihm 1925 den Sohn Adolf Josef Kanter gebar.

Das Jahr 1941 brachte schwere Prüfungen für die streng katholische Familie: Julius Adolf Kanter fiel im Zweiten Weltkrieg; das Haus der Kanters sackte ab wegen eines Stolleneinsturzes im Tuffuntergrund, es musste abgerissen werden. Der 16-jährige Adolf, die verwitwete Mutter und Schwester Agnes zogen um ins nahe Andernach.

Der schlaksige Brillenträger kannte sich gut aus in dem verwinkelten, über 2.000 Jahre alten Ort am linken Rheinufer. Hier hatte er es bei der Hitlerjugend (HJ) zum Oberrottenführer gebracht. Sein bester Kamerad war Werner Spurzem, Drogerielehrbub wie er, gefallen 1944. Hier war Kanter auf die Volksschule gegangen, hatte ihm Schulleiter Rausch 1939 zum Abschluss ein vorzeigbares Zeugnis ausgestellt: Führung: sehr gut, Fleiss: gut, Religion-Katechismus: gut, – Bibl. Geschichte: gut, Deutsch, a) mündlich: gut b) schriftlich: gut, Geschichte: gut, Erdkunde: gut, Naturkunde: gut, Rechnen: gut, Raumlehre: gut, Handschrift: gut, Zeichnen: gut, Musik: gut, Turnen: befriedigend, Schwimmen: ./., Werkunterricht: gut.

Lob für den braven Jungen kam ebenfalls vom Lehrherrn. Der Drogist Heinrich Neuhaus schrieb ihm 1942 ins Lehrlingszeugnis: »Adolf Kanter wurde beschäftigt im Laden, Lager, Büro und Dunkelkammer. Die ihm übertragenen Arbeiten hat er zu meiner vollen Zufriedenheit ausgeführt, […] (er) verband Treue und Fleiss bei sehr gutem Betragen. Für sein ferneres Wohlergehen wünsche ich ihm das Beste.«

»Sein Betragen war jederzeit einwandfrei«, testierten ihm 1943 vor Antritt des Militärdienstes auch die Eisen- und Hüttenwerke Andernach. Er hatte dort seine erste Stelle erhalten, für 1.000 Reichsmark im Monat. »Er war als kaufm. Angestellter auf dem Lohnbüro beschäftigt, wo er zuletzt die Lohnabrechnungen verschiedener Betriebsabteilungen selbständig erledigte. Herr Kanter war fleissig und gewissenhaft und hat die ihm übertragenen Arbeiten zu unserer größten Zufriedenheit ausgeführt.«

Wie gut sich Kanter darauf verstand, dunkle Wesenszüge zu verbergen, belegt auch das »Dienstleitungszeugnis« des Koblenzer Regierungspräsidenten, ausgestellt am 10. Oktober 1947. Über den ersten Nachkriegsjob des Heimkehrers steht dort: »Der Reg.-Angestellte Adolf Kanter ist seit dem 3. März 1946 beim Dezernat I Verkehr beschäftigt. Sein Tätigkeitsgebiet erstreckt sich auf die Bearbeitung von Kassenangelegenheiten, Führung der Registratur und Erledigung der allgemeinen Büroarbeiten. Kanter verfügt über eine gute Allgemeinbildung und seine schnelle Auffassungsgabe ermöglicht es ihm, sich schnell in neue Aufgabengebiete einzuarbeiten. Die ihm übertragenen Arbeiten hat er bisher zur vollsten Zufriedenheit erledigt. Seine Bescheidenheit und sein Fleiß verdienen besonders hervorgehoben zu werden. Auch sein sonstiges Verhalten war stets einwandfrei.«

Fleißig, bescheiden, bestes Benehmen – den Eindruck wusste Kanter auch später stets bei den Leuten zu hinterlassen. Auch Ingeborg Smith, seine langjährige Sekretärin in Bonn, lobte ihn: »Freundlich, hilfsbereit, fleißig, ein ganz normaler Mann.«

Über den anderen Kanter verbreitete sich der Vorsitzende Richter beim Oberlandesgericht Koblenz, Joachim Vonnahme, in der geheim gehaltenen Begründung seines milden Bewährungsurteils. Er schrieb 1995: »Zumindest in der Anfangszeit übte vordergründig die nachrichtendienstliche Verbindung mit der Vorstellung, einen funktionsfähigen fremden Geheimdienst hinter sich zu haben, schon als solche auf den Angeklagten als jungen Menschen einen gewissen Reiz aus. Eigenem Bekunden zufolge fühlte er sich dabei selbst wie eine Art ›James Bond‹.« Richter Vonnahme wusste offenkundig nicht: Vor ihm stand ein kriegsgehärteter Profi, dem Spezialisten der Nazi-Zeit das Tarnen, die Geheimoperationen, das Töten beigebracht hatten.

Über seine Zeit bei der Wehrmacht hatte es Kanter stets bei kargen Angaben belassen. In den Fragebogen der alliierten Militärregierung zwecks Entnazifizierung der Deutschen tippte er am 14. Oktober 1947 in die Antwortzeilen zur Waffengattung: »Heer«; zur Frage, wo er gedient habe: »Frankr.«; über den Dienstrang: »Gefr.«. In die Rubrik »Militäranschrift« trug er handschriftlich ein: »Pz.Rgt. Brandenburg«, als vorgesetzten Offizier: »Maj. Waldeck« und als Grund für die Beendigung des Dienstverhältnisses: »Kriegsende«. Kanter durfte seinen Nachkriegsposten in der Koblenzer Verwaltung behalten. »Belassung im Amt«, stand auf dem Bescheid vom 19. März 1947, ausgestellt von den »Bereinigungskommissionen für Politische Überprüfung« beim Regierungspräsidenten Koblenz.

Er hatte bei Weitem nicht die ganze Wahrheit über sich geschrieben. Den Hitlerjungen Kanter dürften die Heldentaten der »Brandenburger« fasziniert haben, Freiwilligenwerber der Wehrmacht ergingen sich, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, in Andeutungen über die »Gespenstersoldaten« der Division »Brandenburg« und ihre waghalsigen Kommandounternehmen. Einer der kolportierten Tricks: In gegnerischen Uniformen eskortierten »Brandenburger« angebliche deutsche Gefangene, die Waffen und Munition unter ihren deutschen Uniformen verbargen, durch feindliche Stellungen, um dann im Handstreich strategisch wichtige Brücken in Belgien oder Russland zu erobern.

Kant er meldete sich am 25. Juni 1943 als Freiwilliger zur Division »Brandenburg«, gegründet als Sonderverband des deutschen Militärgeheimdienstes, des Amtes Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht. Spezialität der »Brandenburger«: Kommandooperationen hinter feindlichen Linien, oft völkerrechtswidrig in Uniform und mit Ausrüstung der Feindkräfte. Die Division wurde bis kurz vor Kriegsende nie geschlossen eingesetzt, sondern in einzelnen Spezialeinheiten bei diversen Heeresgruppen.

»Ein großer Teil der Kommandoeinsätze der ›Brandenburger‹ erfolgte in ›Halb-‹ oder ›Volltarnung‹«, berichtet das Bundesarchiv. »›Halbtarnung‹ bedeutete die Annäherung an ein Objekt im gegnerischen Hinterland unter oberflächlicher Maskierung als Zivilisten oder als Soldaten der Gegenseite […] Vor Beginn feindlicher Auseinandersetzungen war die Halbtarnung abzustreifen und eine deutliche Selbstkennzeichnung als deutsche Soldaten zu gewährleisten. Befand sich dieses Verhalten bestenfalls noch am Rande der Haager Landkriegs-Ordnung, so stellte die ›Volltarnung‹ klar einen Verstoß dar. Ausgestattet mit feindlichen Uniformen, perfekt einstudiertem Verhalten und Beherrschung der entsprechenden Sprache sickerten derart getarnte Kommandos in das Hinterland, zum Teil in gegnerische Garnisonen und Stäbe ein und erfüllten bis zuletzt in ›Volltarnung‹ ihre Aufklärungs-, Verwirrungs- und Sabotage-Aufträge.«

Das 2007 veröffentlichte Buch Geheime Krieger – Co-Autoren sind der Ex-»Brandenburger« Regimentskommandeur Wilhelm Walther, GSG-9-Grenzschutzkommandeur Ulrich Wegener und Brigadegeneral Reinhard Günzel, ehemals Kommandeur der Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr – pries die Verbände der »Brandenburger« und ihren Korpsgeist als legendäre Vorbilder für das Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr. Die LINKE im Bundestag protestierte: Bei den »Brandenburgern« handele es sich um eine »verbrecherische Wehrmachtsdivision«, eine »terroristische Sondereinheit«.

Autor Walther über seine alte Truppe: »Unsere Kampfweise war von den Elementen List und Tücke geprägt. Unsere Operationen waren so geheim, dass sie weder in der Presse noch in den täglichen Wehrmachtsberichten Erwähnung fanden. Von ›normalen‹ Stoßtruppeinsätzen unterschieden sich die Kommandounternehmungen der deutschen Abwehr durch die Anwendung geheimdienstlicher Methoden und Mittel. Die meisten unsere Einsätze (waren) nicht von dem damaligen Kriegsvölkerrecht gedeckt. Es war wichtig, dass der ›Brandenburger‹ absolute Bescheidenheit an den Tag legte. Denn es war klar, dass aufgrund der hohen Geheimhaltungsstufe die eigenen verwegenen Einsätze nicht an die Öffentlichkeit getragen werden durften. Maulheldentum galt bei uns als unsoldatisch und war in höchstem Maße verpönt. Deswegen galt für uns mehr als für alle anderen Soldaten der alte preußische Grundsatz ›Mehr Sein als Schein‹.«

Die »Brandenburger« hatten offenkundig Interesse an einem Fotodrogisten, der sich auf das Entwickeln von Filmen und Bildern, auf das Vergrößern von Fotoausschnitten verstand – wichtige Mittel der Feindaufklärung. So geriet der junge Kanter in der Hitler-Armee in die Welt der Geheimoperationen, des Ausspähens, der Heimtücke, der Decknamen, der Nachrichtendienste, der Sabotage, der Spionage. Auch wenn die Division »Brandenburg« nach Kriegswende 1943 nach Stalingrad mehr und mehr als gewöhnliche Panzertruppe gegen die Rote Armee eingesetzt wurde, so »starb jedoch«, schrieb Ex-Brandenburger Walter, »der Kommandogeist keineswegs. Denn die Abwehrtrupps und -kommandos blieben bei ihren Armeen und Heeresgruppen.«

Laut in Berlin verwahrten Akten der Wehrmachtauskunftsstelle stieß Kanter am 24. Juni 1943 im besetzten Frankreich zur »1. Kompanie Panzer Ersatz- und Ausbildungs-Abteilung 100«, stationiert in Versailles, unterstellt dem »Kommandeur der Schnellen Panzertruppen«. Sechs Monate später wechselte er zur »2. Panzer Kompanie zur besonderen Verwendung 12, Unterstellung: Heerestruppe«.

Im Fragebogen der Siegermächte hatte er als Einsatzgebiet lediglich Frankreich angegeben. Was er verschwieg und verbarg: Mit seiner Spezialeinheit, die zum Panzerregiment »Brandenburg« gehörte, wurde er auf den Balkan verlegt. Die Bezeichnung seiner Panzerkompanie 12 »zur besonderen Verwendung« weist auf sogenannte Spezialoperationen hin; es waren gepanzerte Killerkommandos. Kanter und seine 2. Panzerkompanie z. b. V. 12 waren 1944 in Serbien im Einsatz, im erbarmungslosen, von Kriegsverbrechen auf beiden Seiten geprägten Kampf mit Partisanen. Eintrag im Lexikon der Wehrmacht: »Die Panzer-Abteilung 12 wurde im März 1944 in Serbien aufgestellt. Die Abteilung wurde durch das Höhere Kommando LXV mit 3 Kompanien als Heerestruppe aufgestellt. Als Stamm wurde die 1942 errichtete Panzer-Kompanie z. b. V. 12 verwendet. Die Abteilung wurde in Serbien eingesetzt. Im Dezember 1944 wurde die Abteilung zur II. Abteilung beim Panzer-Regiment Brandenburg und damit der Panzer-Grenadier-Division Brandenburg unterstellt.« Ausgerüstet war Kanters Panzerkompanie mit schweren Beutepanzern aus Frankreich vom Typ B2, Bewaffnung: Maschinengewehr, 4,7-cm-Kanone und 7,5-cm-Haubitze.

Unter Historikern gilt es als »wahrscheinlich«, dass »Brandenburg«-Verbände bei der Partisanenbekämpfung zahlreiche Kriegsverbrechen gegen Zivilisten verübten. Die Quellenlage sei schlecht. Über viele Einsätze der »Brandenburger« gebe es keine Akten, und falls doch, sei eine Zuordnung wegen der Verwendung von Decknamen kaum möglich.

Hitler hatte beim Balkanfeldzug der Wehrmacht seine Generale aufgefordert, im Partisanenkampf »brutal« durchzugreifen, »alle europäischen Hemmungen« abzulegen. Gefangene Partisanen waren zu liquidieren, als Vergeltung für erschossene oder verwundete deutsche Soldaten zivile Geiseln hinzurichten, Häuser und Gehöfte, ganze Ortschaften in Schutt und Asche zu legen. Im überfallenen Jugoslawien haben die Deutschen mehr als 80.000 Geiseln umgebracht.

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