Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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2.3.2 Ernst Käsemann und Georg Eichholz: Exegetische Erinnerung an die paulinische Ekklesiologie

Den theologischen Ausgangspunkt von Käsemanns Ausführungen zur paulinischen Charismenlehre bildet sein dynamisch-aktuales Verständnis der göttlichen Gnade, der Charis. Sie werde von Paulus «konstitutiv als Macht verstanden»[268]. Auf dem Hintergrund des Grundsatzes, dass Gabe und Geber nicht voneinander zu trennen sind, «hat» man diese Gnade nie als «ruhende[n] Besitz und totes Kapital», sondern nur indem «sie von uns Besitz ergreift und in ihr die Herrschaft Christi uns zum Dienen bringt».[269] Das Charisma versteht Käsemann nun als «Konkretion und Individuation der Gnade»[270]. Es unterstellt jedes einzelne Glied des Leibes Christi der Herrschaft Christi und beruft, begabt und bevollmächtigt es zu einem jeweils spezifischen Dienst.

«Charisma [ist] der spezifische Anteil des einzelnen an der Herrschaft und Herrlichkeit Christi […] und dieser spezifische Anteil am Herrn [erweist] sich in einem spezifischen Dienst und einer spezifischen Berufung. Denn es gibt keine göttliche Gabe, die nicht Aufgabe wäre, keine Gnade, die nicht aktivierte.»[271]

Das Feld des Charismatischen wird von Käsemann bis ins Ethische und Soziale ausgeweitet. Nicht nur das Wunderhafte, sondern «die gesamte Wirklichkeit unseres Lebens»[272] ist mit erfasst und «steht unter charismatischer Möglichkeit»[273], sofern sie im Glaubensgehorsam der Herrschaft Christi unterstellt wird. Paulus habe «seine gesamte Paränese vom Charisma her begründet»[274]. Die Charismenlehre sei «die konkrete Darstellung der Lehre vom neuen Gehorsam» und «nichts anderes als die Projektion der Rechtfertigungslehre in die Ekklesiologie hinein».[275]

Weiterhin entfaltet Käsemann das kritisches Potential des Charismabegriffs gegenüber jeder Form von Gemeindeordnung, die auf «Ämtern, Institutionen, Ständen und Würden aufgebaut»[276] ist. Bereits das Fehlen eines neutestamentlichen Terminus für den heutigen kirchlichen Amtsbegriff deute darauf hin, dass «ein Herrschaftsverhältnis […] in der Ordnung der Kirche keinen Platz hat»[277]. Stattdessen sei allein Charisma «ein Begriff, der Wesen und Aufgabe aller kirchlicher Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend beschreibt»[278]. Aus der Universalität des Charismas – jeder ist Charismatiker, da jeder Anteil am Geist und an der Gnade hat – folge, dass es nach Paulus im Leib Christi weder «passive Mitgliedschaft»[279], noch ein «Privileg eines einzelnen Charismatikers gegenüber dem Christusleibe»[280] geben könne, ohne sich «an der ihr [d.h. der Kirche] von Gott gegebenen Ordnung»[281] zu vergreifen. Da das Charisma «nicht mehr Auszeichnung einzelner Auserwählter [ist], sondern das, was allen zuteil geworden ist»[282], seien «Amtsträger […] hier alle Getauften»[283] und zum Dienst entsprechend der ihnen verliehenen Gabe ermächtigt und verpflichtet. Des «Widerspruch[es] zum neulutherischen Amtsverständnis» und der «Spannung mindestens zum Wortlaut vieler reformatorischer Aussagen»[284] ist sich Käsemann hierbei bewusst, denn nach Paulus sei auch das ministerium verbi divini «jedem Christen übertragen und geboten»[285].

Käsemanns Ausweitung und anti-institutionelle Akzentuierung des Charismabegriffs wurde zu Recht immer wieder kritisch hinterfragt (→ 5.6.3). Es bleibt aber sein Verdienst, durch die konsequente Lösung des Charismas vom «fascinosum des Übernatürlichen»[286] den Charismabegriff von der Peripherie des Wunderhaften wieder ins Zentrum des paulinischen Evangeliums gerückt und seine grundsätzliche ekklesiologische Bedeutung erhoben zu haben. Am Ende seiner Ausführungen wird deutlich, dass Käsemanns Interesse von Anfang an nicht der rein historischen Rekonstruktion der neutestamentlichen Anschauungen, sondern ihrer theologischen Relevanz für die gegenwärtige kirchliche Gestaltung gilt. Eine «direkte Antwort […] für unsere Nöte» finde man freilich im Neuen Testament «nur, wenn man die eigenen Lösungen in die Vergangenheit zurückprojiziere».[287] Dennoch werden der Blick und das Gewissen geschärft, «daß es keiner Zeit erspart bleibt, neu anzufangen, kritisch und zugleich demütig die Geister auch des Vergangenen zu prüfen».[288] So nimmt er den Hörer bzw. Leser[289] in die ihn bedrängende Frage mit hinein:

«Warum [hat] selbst der Protestantismus nie ernsthaft versucht […], eine Gemeindeordnung unter dem Aspekt der paulinischen Charismenlehre zu schaffen, sondern das den Sekten überlassen»?[290]

Noch deutlicher als Käsemann lässt Georg Eichholz das paulinische Gemeindeverständnis «zur kritischen Anfrage»[291] an die gegenwärtige kirchliche Wirklichkeit werden. Diese habe durch das weithin herrschende «Einmannsystem» bestenfalls zu einer Degradierung der Gemeinde zum Helferdienst, meist aber zu ihrer Dispensierung von jeglichem Dienst geführt. Die von Paulus in 1Kor 12 skizzierte «charismatische Gemeinde», in der die vom Geist verliehenen Gaben wie in einem reich besetzten Orchester zusammenspielen, sei kein unwiederholbarer und unübertragbarer Sonderfall, sondern «Gemeinde schlechthin»[292]. Sie ist für Eichholz keine «Utopie, die schon für ihn [Paulus] letztlich in unerreichbarer Ferne bleibt und höchstens gelegentlich am äußersten Rand des Horizontes auftaucht», sondern «Ruf, Verkündigung, Angebot»[293]. Daher könne sie auch nicht als gesetzliche Forderung erhoben, sondern nur als «Angebot des Geistes»[294] verkündigt werden. Die entscheidende Frage sei daher, «ob wir uns als Christen […] nicht immer wieder gegen das wehren, was Gott von uns und mit uns will […]. Sind wir für dieses Angebot offen?»[295]

2.3.3 Hans Küng, Gotthold Hasenhüttl und Jürgen Moltmann: Dogmatische Besinnung auf die charismatische Grundstruktur der Kirche

Die exegetischen Impulse wurden in den 60er Jahren vor allem von katholischen Dogmatikern aufgenommen und in die kontroverse Debatte um ekklesiologische Grundsatzfragen eingebracht – am umfassendsten und pointiertesten von Hans Küng und Gotthold Hasenhüttl.[296]

Hans Küng nimmt in seinem umstrittenen Buch «Die Kirche»[297] (erste Auflage 1967) die Herausforderung an, «die bleibende charismatische Struktur der Kirche von der paulinischen Ekklesiologie her zu erhellen»[298]. Küng nennt und überwindet drei «Mißverständnisse des Charismas», die bisher seine grundlegende Bedeutung für Theorie und Praxis der Kirche verdunkelt hatten.

«Die Charismen sind nicht eine primär außerordentliche, sondern eine alltägliche, sind nicht eine einförmige, sondern eine vielförmige, sind nicht eine auf einen bestimmten Personenkreis beschränkte, sondern in der Kirche ganz und gar allgemeine Erscheinung. Und dies alles heißt zugleich: sie sind nicht nur eine damalige […], sondern eine höchst gegenwärtige und aktuelle, sind nicht nur eine periphere, sondern eine höchst zentrale und wesenhafte Erscheinung in der Kirche.»[299]

Bestimmen die Charismen die Kirche in ihrem Wesen und in ihrer Grundstruktur als Geistgeschöpf, so muss man nach Küng «von einer charismatischen Struktur der Kirche reden»[300]. Die kirchliche Ämterstruktur ist der charismatischen Struktur nicht als das eigentliche Konstitutivum übergeordnet, sondern bildet einen «bestimmten Aspekt der allgemeinen, grundlegenden charismatischen Struktur der Kirche»[301] und ist ihr als «diakonische Struktur»[302] dienend eingebettet. Ihre Besonderheit liegt darin, dass die charismatische Berufung «nicht willkürlich kommt und geht», sondern «in einer bestimmten Stetigkeit mit bestimmten Personen verbunden bleibt».[303]

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt zwei Jahre später (1969) Gotthold Hasenhüttl, der «vom Blickwinkel des Dogmatikers historisch untersuchen [will], welche Bedeutung der Begriff Charisma für die Struktur der Gemeinde hat».[304] In seiner umfassenden Monographie «Charisma» (1969) lehnt er die Vorstellung ab, das Charisma sei eine «vorübergehende Erscheinung», die «nur für die Anfangszeit der Kirche galt»,[305] und versteht es als «Ordnungsprinzip der Kirche» (so der Untertitel), das die Kirche in ihrem Wesen und ihrer Grundstruktur bestimmt. Er kommt zu der Schlussfolgerung:

«Die Gemeinde würde ihre Grundstruktur aufgeben, würde sie nicht von den Charismen leben […]. Charismatische Grundstruktur der Kirche bedeutet, daß jeder seinen Platz in der Gemeinde hat, der ihm durch die Vollmacht geschenkt ist, daß dieser Platz der Ort ist, an dem er durch sein Charisma gestellt wurde, und daß er gerade an diesem Ort Kirche mitkonstituiert […]. Ordnung in der Gemeinde ist nur möglich durch die charismatische Grundstruktur, die jedem seine Stelle offenhält.»[306]

Wie Küng versteht Hasenhüttl die kirchlichen Ämter als «zweite Form der Berufung» neben der allen Christen geltenden charismatischen Berufung. Diese ist ebenfalls charismatisch zu verstehen, aber «nicht vorübergehend, sondern auf Dauer gedacht»[307]. Sie formt die «Ordnungsstrukturen der Kirche»[308], welche eine gewisse Notwendigkeit haben, aber als «Hilfsstrukturen»[309] der charismatischen Grundstruktur der Kirche zu- und untergeordnet sind.

Küng und Hasenhüttl widersprechen in ihren Erörterung nicht nur der vorkonziliaren katholischen Ekklesiologie, die das Wesen der Kirche in der kirchlichen Hierarchie begründen und den Charismen weithin als «eine Art Luxus der übernatürlichen Ordnung» und «eine geheimnisvolle Ergänzung» zur Bekräftigung der urkirchlichen Missionspredigt verstehen.[310] Sie gehen auch bewusst über die Beschlüsse des zweiten Vatikanischen Konzils hinaus, bzw. wollen sie «nach vorne interpretieren»[311]. In ihnen seien zwar, zum Teil erst nach kontroversen Diskussionen,[312] bemerkenswerte Aussagen über die bleibende Bedeutung der Charismen für die Kirche aufgenommen worden, allerdings werde, so ihre Kritik, das Charismatische als Grundstruktur der Kirche nicht deutlich genug der hierarchisch amtlichen Hilfsstruktur vor- bzw. übergeordnet.[313] Küng und Hasenhüttl berufen sich vor allem auf die berühmte Passage in LG 12/DH 4131:

 

«Derselbe Heilige Geist heiligt außerdem nicht nur das Volk Gottes durch die Sakramente und die Dienstleistungen, er führt es nicht nur und stattet es mit Tugenden aus, sondern ‹teilt den Einzelnen, wie er will› (1Kor 12,11), seine Gaben (dona) aus und verteilt unter den Gläubigen jeglichen Standes auch besondere Gnaden (gratias quoque speciales), durch die er sie geeignet und bereit macht, verschiedene für die Erneuerung und den weiteren Aufbau der Kirche nützliche Werke und Dienste zu übernehmen gemäß dem Wort: ‹Einem jeden wird der Erweis des Geistes zum Nutzen gegeben› (1Kor 12,7). Solche Gnadengaben (charismata), ob sie nun von besonderer Leuchtkraft oder auch schlichter und allgemeiner verbreitet sind, sind mit Dankbarkeit und Trost anzunehmen, da sie den Erfordernissen der Kirche besonders angepaßt und nützlich sind. Außerordentliche Gaben (dona extraordinaria) soll man aber nicht leichtfertig erstreben, noch soll man vermessen von ihnen Früchte für die apostolischen Bemühungen erwarten; vielmehr steht das Urteil über ihre Echtheit und geordnete Ausübung denen zu, die in der Kirche die Leitung haben und denen es in besonderer Weise zukommt, den Geist nicht auszulöschen, sondern alles zu prüfen und, was gut ist, zu behalten (vgl. 1Thess 5,12.19–21).»

In der evangelischen Dogmatik greift v.a. Jürgen Moltmann die Thematik auf und folgt im Wesentlichen den exegetischen Erkenntnissen Käsemanns.[314] Er bestimmt die Kirche als eine charismatische Gemeinschaft, in der die eschatologischen Lebenskräfte des Geistes an jedem und durch jeden Einzelnen wirken – und zwar gerade in der Konkretheit seines Lebens. Bekannt wurde die universale Tendenz, die er dem Begriff «Charisma» verlieh: «Leben ist überall begabt. Es gibt kein unbegabtes Leben.»[315] Auch das «behinderte Leben» ist als «Charisma» zu verstehen: «Jede Behinderung ist auch eine Begabung»[316]. Darüber hinaus hebt auch Moltmann das kritische Potential des Begriffs «Charisma» gegenüber der kirchlichen Wirklichkeit hervor: Er widerspreche der «Usurpation aller Ämter und Aufgaben durch eine Hierarchie ‹geistlicher Würdenträger› oder eine Aristokratie von Pastoren»[317].

2.3.4 Peter Zimmerling: Die charismatischen Bewegungen als (praktisch-) theologische Herausforderung

Die pfingstlerisch-charismatische Bewegung[318], der sich nach einem in der Kirchengeschichte einzigartigen Wachstum gegenwärtig fast ein Sechstel der gesamten Christenheit zurechnet,[319] ist von ihren Anfängen vor einem Jahrhundert bis heute durch das Auftreten spektakulärer Geistesgaben geprägt. Die Zungenrede erlangte bereits in der Erweckung innerhalb der Azusa-Street-Mission (Los Angeles) im Jahre 1905, dem «Ausgangspunkt der weltweiten traditionellen Pfingstbewegung»[320], die Bedeutung eines Beweises für die empfangene Geisttaufe. Sie gilt bis heute in den meisten Pfingstkirchen als «initial sign» der persönlichen Pfingsterfahrung.[321] Daneben erfahren andere spektakuläre Charismen wie Prophetie, Heilungen und Wundertaten eine besondere Wertschätzung und nehmen eine zentrale Rolle im Gemeindeleben ein. Besonders bei den Charismatikern der «Dritten Welle», z.B. John Wimber und C. Peter Wagner, werden die Zeichen und Wunder zur Evangelisationsmethode («power evangelism»).[322]

Die charismatische Bewegung, die sich Anfang der 60er Jahren als innerkirchliche Erneuerungsbewegung bildete, ist wie die traditionellen Pfingstkirchen und neopfingstlichen Gruppen durch die Wertschätzung und Praktizierung der neutestamentlichen Charismen gekennzeichnet. Die spektakulären Geistesgaben werden in ihr nicht abgelehnt, spielen aber eine weniger zentrale Rolle im Selbstverständnis der Bewegung. Sie werden in das charismatische Wirken des gesamten Leibes Christi in seinen unterschiedlichen Funktionen und Diensten eingeordnet. Die innerkirchlichen charismatischen Bewegungen «betonten von Anfang an nicht einzelne spektakuläre Geistesgaben, sondern die charismatische Dimension des Christseins als Ganzes und die ekklesiologische Ausrichtung der Charismen»[323]. Durch diese Zurückhaltung und Ausrichtung gewann die Bewegung Sympathien und Einfluss bei zahlreichen Vertretern der traditionellen Kirchen. So berichtet Pfr. Arnold Bittlinger, einer der Schlüsselfiguren der späteren «Geistlichen Gemeindeerneuerung» (GGE), von seiner Reise in die Vereinigte Staaten im Jahr 1962:

«Ich hatte Gelegenheit, in mehreren Gemeinden dieses neuerwachte charismatische Leben kennenzulernen und war vor allem beeindruckt von den Gebetsgottesdiensten, in denen die Geistesgaben, von denen Paulus in 1. Kor 12–14 spricht (also z.B. Prophetie, Offenbarung, Zungenrede und Interpretation), in großer Disziplin und Ordnung und in einer feierlichen liturgischen Schönheit praktiziert wurden.»[324]

Bei den innerkirchlichen charismatischen Bewegungen kam es bereits in ihren ersten Jahren zu Versuchen, die neuen Erfahrungen biblisch-theologisch zu klären und mit der jeweils eigenen theologischen Tradition in Verbindung zu setzen. Dokumente dieser Auseinandersetzung sind u.a. die Veröffentlichungen zweier ökumenischer Tagungen,[325] zu denen Vertreter aus der syrisch-orthodoxen, russisch-orthodoxen, römisch-katholischen, anglikanischen, evangelisch-lutherischen und evangelisch-reformierten Kirche ihr Verständnis der Charismen auf dem Hintergrund ihrer jeweiligen theologischen Tradition vortrugen.[326] Bei allen unterschiedlichen und sich zum Teil widersprechenden Akzentsetzungen fallen die gemeinsame Betonung der Universalität der Charismen und die Relativierung der spektakulären Geistesgaben auf.[327] Inwieweit sich in neuester Zeit die innerkirchlichen charismatischen Kreise durch die starke Betonung der «Zeichen und Wunder» im Zusammenhang der sogenannten Dritte Welle beeinflussen lassen oder in Zukunft lassen werden, ist kaum pauschal zu beantworten.[328] Die letzte offizielle Veröffentlichung der GGE zu den Charismen scheint dieser von Christian Möller befürchteten Tendenz[329] zu widersprechen. Die Autoren Friedrich Aschoff und Paul Toaspern wenden sich jedenfalls explizit gegen eine Theologie, nach der «die Gaben des Geistes als ‹übernatürlich› eingegeben und ‹senkrecht von oben› empfangen» werden, ohne dass die menschlichen Bedingungen und kulturelle Prägungen berücksichtigt werden. Charismen sind vielmehr «Dienstgaben, die auch ‹auf unsere Natur aufbauen›»[330]. Obwohl sich Aschoff v.a. den «auffälligere[n] Gaben»[331] Prophetie, Sprachengebet und Heilung widmet, entfaltet und beschreibt er im einleitenden Kapitel die biblische Vielfalt der Charismen. Besondere Wertschätzung erfährt dabei die «Diakonia» als «Gabe der Dienst- und Hilfsleistung», die meistens im Verborgenen geschehe und oft mehr zum Bau des Reiches Gottes beitrage als andere Gaben.[332] Dem Charisma, Wunder zu tun, wird zwar gegenwärtige Bedeutung zugeschrieben. Es sei aber «kirchengeschichtlich eher besonderen Situationen zuzuordnen, wie beispielsweise der Mission oder in Zeiten der Verfolgung» und unterliege der Gefahr, von der Verkündigung gelöst zu werden bzw. zu einem Personenkult zu führen.[333]

Die pfingstlerisch-charismatische Bewegung und ihre «Wiederentdeckung der charismatischen Dimension von Gemeinde» können als Reaktion auf und zugleich als kritische Anfrage an Praxis und Theorie der traditionellen Kirchen gewertet werden.[334] Nach Peter Zimmerling machen sie «ein schweres Defizit der reformatorischen Kirchen» offenbar, die trotz der Theorie des allgemeinen Priestertums «keine Überwindung der Pfarrerzentriertheit des Gemeindelebens» erreichten.[335] Darüber hinaus konfrontieren sie die Praktische Theologie mit der Verlegenheit, dass die Charismenlehre bis heute kaum zum Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion geworden ist.

3 Die Rezeption der Charismenlehre in der Oikodomik
3.1 Vorbemerkungen
3.1.1 Zu den Anfängen der modernen Oikodomik und ihren Verbindungen zur Charismenlehre

Die Kirche Jesu Christi steht als ecclesia semper reformanda zu jeder Zeit in der Verantwortung, die gegenwärtige und zukünftige Gestalt ihrer Praxis vom Evangelium Jesu Christi her kritisch-reflexiv zu bedenken und konstruktiv-prospektiv zu entwerfen. Insofern sie das Evangelium als Befreiung des Menschen zu einer neuen Gemeinschaft mit Gott und Mensch versteht – eine Gemeinschaft, die keine abstrakte Idee bleiben, sondern konkrete Gestalt in der Wirklichkeit des Lebens annehmen will –, kommt den Fragen nach Ordnung und Aufbau, Entwicklung und Wachstum von Kirche und Gemeinde eine besondere Bedeutung zu. Dennoch gehört die Oikodomik als wissenschaftlich-theologische Reflexion dieser Fragen zu den jüngeren praktisch-theologischen Disziplinen, die die klassische Trias von Homiletik, Poimenik und Katechetik ergänzen.[336]

Als «Vater des modernen Gemeindedenkens» gilt der neuprotestantische Dresdner Pfarrer Emil Sulze (1832–1914).[337] Er sah in den übergroßen Parochien das Haupthindernis für ein lebendiges Gemeindeleben und forderte die Schaffung von überschaubaren «Seelsorgegemeinden» mit nicht mehr als 3000–4000 Gemeindegliedern.[338] Der Begriff «Gemeindeaufbau» erhielt allerdings erst durch den Afrikamissionar Bruno Gutmann (1876–1966) Eingang in die theologische Fachsprache.[339] Gutmann beschreibt in seinem Buch «Gemeindeaufbau aus dem Evangelium» (1925) die Grundsätze, nach denen er unter den Dschagga am Kilimandscharo christliche Gemeinde baute, und die er «für Mission und Heimatgemeinde»[340] für bedeutsam hält.

Weder Bruno Gutmann noch Emil Sulze nehmen in ihren Ausführungen explizit Bezug auf die Charismenlehre, obwohl beide Konzeptionen eine gewisse Nähe zum paulinischen Bild der charismatischen Gemeinde aufweisen. So kommt es Gutmann darauf an, «das Bewußtsein der inneren Bezogenheit aller Glieder aufeinander zu erwecken»[341]. Dazu stärkt er die Verwurzelung der Menschen in den natürlichen Bindungen von Sippe, Nachbarschaft und Altersklassen und integriert sie in den Gemeindeaufbau. Er richtet zum Beispiel Nachbarschaftsversammlungen nach dem Gottesdienst ein, die ihre internen Probleme selbst lösen sollen. Weiterhin fügt er zwei, später auch vier Konfirmierte zu einer «Schildschaft» zusammen, die lebenslang besteht und sich zu gegenseitiger Hilfe verpflichtet. Ziel des Gemeindeaufbaus ist für Gutmann die «Selbstwirksamkeit der Gemeinde» als dienender Organismus.[342] Dabei kreist sein Denken nach Christian Möllers Darstellung «unermüdlich um die paulinische Rede vom Leib und den Gliedern»[343]. Diese wird von ihm allerdings ausschließlich schöpfungstheologisch ausgelegt, während die christologische und pneumatologische Dimension in den Hintergrund tritt. Folglich wird auch die Charismenlehre von Gutmann nicht weiter bedacht.

Ein ähnliches Bild zeigt sich bei Emil Sulze. Er tritt nicht nur für eine Aufteilung der übergroßen Großstadtparochien in «Seelsorgegemeinden» ein, sondern auch für deren Untergliederung in weitere Unterbezirke von etwa 200 Gemeindegliedern. Jeweils ein Laien-Mitarbeiter, von Sulze «Presbyter» genannt, ist für einen Bezirk zuständig. Die Laien-Mitarbeiter verantworten zusammen mit den tüchtigsten Hausvätern (wobei auch Frauen nicht ausgeschlossen sind) die seelsorgliche und diakonische Arbeit des Bezirks. Auf diese Weise soll die «Selbsttätigkeit der Gemeinden»[344] wieder angeregt werden:

«Es muß […] das Ziel unseres Strebens sein, daß in der Gemeinde eine Arbeit aller an allen geschieht.»[345] «Dann regt sich in den Gemeinden ein selbständiges Leben, das die Geistlichen nur im Gange zu erhalten und zu leiten haben. Eine über das Maß der Kraft […] hinausgehende Produktivität braucht dann nicht mehr von ihnen gefordert zu werden. Ihre Arbeit wird bescheidener und doch reicher an Inhalt und Erfolg.»[346]

Sulze tritt demnach für eine Aktivierung der Laien zu gegenseitigem Dienst in Seelsorge und Diakonie ein – «ein revolutionärer Gedanke in einer Zeit, in der ausschließlich das geordnete Amt der Kirche dafür zuständig war»[347]. Ob man Sulze mit Gottfried Knospe «den Wiederentdecker der Gemeinde»[348] nennen sollte, ist im Blick auf Hinrich Wichern und andere Befürworter des Gemeindeprinzips fraglich (→ 2.2.2). Jedenfalls nimmt er das reformatorische Prinzip des allgemeinen Priestertums in seiner ekklesiologischen Bedeutung ernst und bedenkt seine Konsequenzen für die Gestaltung von Gemeinde und Kirche intensiver als viele zeitgenössischen Theologen. Die Begründung seiner Reformvorschläge bleibt allerdings vorwiegend pragmatisch und wird nicht durch Rekurs auf die paulinische Charismenlehre pneumatologisch fundiert.

 

Darin unterscheidet er sich von seinem Zeitgenossen Ernst Christian Achelis, der sich in seinem umfang- und einflussreichen «Lehrbuch der Praktischen Theologie» ([31911) mehrfach auf die «praktisch so sehr vernachlässigte Lehre des Neuen Testaments von den Charismen» bezieht.[349] Achelis kommt Sulzes Reformvorschlägen in vielen Punkten nahe. Seine «pia desideria»[350] richten sich ebenfalls auf lebendige Ortsgemeinden, in denen das allgemeine Priestertum von der instituierten Presbyterialordnung bis hin zur Laienpredigt durch begabte Gemeindeglieder praktiziert wird.[351] Dieses Ziel eines «Gemeindeleben[s], in dem kein Glied nur empfangend, kein Glied nur gebend ist»[352], verbindet Achelis nun aber mit der Charismenlehre:

«Die Durchführung aber der Idee des Allgemeinen Priestertums heißt nichts anderes, als die Gaben, die Gott reichlich in der Gemeinde ausgeteilt hat, und die Kräfte, die zum großen Teil müßig am Markt stehen und für das Gemeindeleben unfruchtbar bleiben, für dieses unter der Leitung des Geistlichen Amtes und der geordneten Gemeindeorgane zu verwerten. Die Charismen sind nicht ausgestorben in der Gemeinde Christi, sie harren nur der Erweckung und Inanspruchnahme.»[353]

Das Ziel, «lebendige Gemeinden»[354] mit Beteiligung möglichst vieler Gemeindeglieder zu schaffen, vereint am Ende des 19. Jahrhunderts Sulze und Achelis mit vielen zeitgenössischen Verantwortungsträgern in Kirche und Theologie.[355] Es bleibt ein zentrales Motiv in der Diskussion um den Gemeindeaufbau bis heute.[356] Seit den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wird dabei der von Achelis vorgezeichneten Spur vermehrt nachgegangen und die Charismenlehre als zentrales Theorieelement in die oikodomische Reflexion eingebracht.