Charisma als Grundbegriff der Praktischen Theologie

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2.1.5 Martin Luther: Die Charismen als «Beigaben» des Glaubens

Bereits die Wortstatistik zeigt, dass weder der Begriff Charisma noch die mit ihm verbundenen theologischen Zusammenhänge eine entscheidende Rolle in Luthers Denken spielen.[113] Der lateinische Terminus charisma erscheint nur selten,[114] und wenn Luther von «Gaben» (bzw. lat. dona) spricht, fasst er darunter fast ausschließlich allgemeine Heilsgaben Gottes, wie den Glauben oder das ewige Leben.[115] Oskar Föller urteilt zutreffend: «Luthers Hauptinteresse gilt nicht der Vielfalt der Charismata, sondern der einen heilsnotwendigen, Zeit und Ewigkeit umfassenden Charis.»[116] Ausführlichere Erörterungen finden sich nur in Luthers Schriftauslegung und Predigten über die entsprechenden neutestamentlichen Stellen[117] – «und auch dort äußert er sich jeweils eher zurückhaltend»[118]. Dabei zeigen sich theologische Akzentuierungen, die für die Frage nach der aktuellen praktisch-theologischen Relevanz der Charismenlehre von Bedeutung sind.

1. Relativierung des Mirakulösen: Luther hat das überkommene Urteil vom Aufhören der (außergewöhnlichen) Charismen nicht unbesehen übernommen. So schränkt er in seinen Himmelfahrtspredigten die wunderhaften Zeichen aus Mk 16,17f nicht grundsätzlich auf die Apostelzeit ein, sondern hält die Möglichkeit eines gegenwärtigen Erscheinens für besondere Situationen offen, in denen die Lehre des Evangeliums durch Wunder verteidigt oder bestätigt werden muss.[119]

«Dann ain Christen mensch hat gleich gewalt mit Christo […] Darumb wa ain Crysten mensch ist, da ist noch der gewalt solch zaichen zu thun, wenn es von noeten ist. Es sol sich aber niemandts understeen die zu ueben, wenn es nicht von noeten ist oder nit erforderet […]. Seytemal aber das Euangelium nun außgebraitet und aller welt kund worden ist, ist nit von noeten zaichen zu thun als zu der Apostel zeiten. Wann es aber die not fordern wurde unnd sye das evangelium engsten und dringen woltten, so muessendt wir warlich dran und muessen auch zaichen thun, ee wir das Euangelium uns liessen schmehen und underdrucken. Aber ich hoff es werd nit von noeten sein und wirt dahyn nyt geraichen: also das ich mit newen zungen solt alhye reden, Ist doch nit von noeten […]. Wann mich got aber hin schickte da sy mich nit vernamen, da kund er mir wol jre zung oder sprach verleyhen, dadurch ich verstanden wurde. Hierumb sol sich niemant understeen on anligende noeten wunderzaichen zu thun.»[120]

Da diese Notwendigkeit aber gegenwärtig nicht gegeben sei, sind die wunderhaften Charismen für Luther ohne herausragende aktuelle Bedeutung.[121] Sie sind der Verkündigung des Evangeliums und dem Glauben als dem wahren und größten Wunder Gottes untergeordnet und verhalten sich zu ihm wie Blei zu Gold.[122] Aufgrund ihrer Zweideutigkeit sind sie wie alle anderen Gaben Gottes immer an der Lehre des Evangeliums zu prüfen.[123]

2. Betonung des Geschenkcharakters: Die rechtfertigungstheologische Prämisse des sola gratia kommt in Luthers Verständnis der geistlichen Gaben immer wieder zur Anwendung. Die Gaben sind «von oben her geschenkt» (e supernis datum)[124], «Gnadengaben»[125], nicht aufgrund eines eigenen Verdienstes verliehen. Sie sind Beigaben, die Gott zusammen mit dem Glauben als der ersten und wichtigsten Gabe schenkt.

«Aber ich acht […], Das der Glaube mit sich bringe als ein heupbt gutt die andern gaben […], das wyr solche gaben nicht verdienet haben, sondern wo glaube ist, da ehret Gott den selben glauben mit ettlichen gaben als zur mitgabe odder ubergabe,[126] wie viel er will […]. Eben darumb spricht er auch, es seyen mancherley gaben, nicht nach unserm verdienst, sondern nach der gnaden, die uns geben ist; das also die gnade gleich wie der glaube mit sich bringe solch edle kleynot und geschencke, eym iglichen seyne mas.»[127]

Die Gaben dienen daher auch nicht dazu «fur Gott frum, selig odder besser denn der andre»[128] zu werden. Es ist eine Verkehrung von «Gottis warheyt […] ynn eyne lugen», wenn die Glaubenden «aus den gaben Gottis eynen dienst fur Gott [machen], die doch zum dienst des nehisten geben sind»[129].

3. Hervorhebung des Ordnungsgedankens: Auf dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit radikalen Reformbestrebungen legt Luther besonderes Gewicht auf die paulinische Mahnung zur Selbstgenügsamkeit und Ordnung. Wie die Einheit des Glaubens und die Gemeinschaft des Geistes die Geringschätzung einer Gabe ausschließt,[130] so widerspricht die Verschiedenheit des nach Gottes Willen je individuell zugeteilten Charismas der geistlichen Selbstüberschätzung. Es sei kennzeichnend für die Schwärmer, sich in einen Dienst zu drängen, zu dem sie weder Gabe noch Verständnis haben.[131] In der Schrift «Von den Schleichern und Winkelpredigern» (1532) wird die Frontstellung gegenüber den Spiritualisten des linken Flügels der Reformation exemplarisch greifbar. Luther polemisiert gegen Prediger, die ohne Berufung öffentlich auftreten und «jnn ein frembd ampt greiffen und fallen»[132] Sie legitimieren ihr Rederecht mit einem Verweis auf die Charismenlehre, besonders auf 1Kor 14,30f. Luther widerspricht, indem er in problematischer Umdeutung der paulinischen Aussagen behauptet, die Stelle habe nur die (amtlich eingesetzten) Propheten und Lehrer im Blick, nicht den «pobel, der da zu hoeret»[133]. Luther ermahnt daher, dass sich niemand als «hans ynn allen gassen»[134] zu allem berufen fühlen und in Aufgabe und Dienst der anderen eingreifen dürfe, sondern bei seinem «Amt» bleiben solle.[135] Durch die Verbindung der Leib-Christi-Metapher mit der mittelalterlichen Standes- und Berufsethik geht Luther aber über die paulinische Ermahnung zur τάξις (1Kor 14,40) hinaus.[136] Die Dynamik der paulinischen Charismenlehre geht verloren, wenn das Charisma zu einer statischen Ortzuweisung wird.[137]

4. Fokussierung auf das kirchliche Amt: Die statische Auffassung der Charismen als angelegte oder erworbene Begabung begünstigt ihre Fokussierung auf den kirchlichen Amtsträger.[138] Er wurde von Gott mit der Gabe des Weissagung, interpretiert als die Gabe der Verkündigung ausgestattet,[139] bzw. hat sich durch sein Studium die Gabe der Auslegung der Sprachen, d.h. in Luthers Verständnis die Kenntnis der biblischen Ursprachen und die Fähigkeit der Übersetzung, angeeignet.[140] In der Fastenpostille von 1525 bezieht Luther ausdrücklich die ersten sechs in Röm 12,6–8 genannten Charismen auf das «gemeyn regiment der Christenheyt, wilchs man nu heysst den geystlichen stand»[141], und hält die Begabung einer einzigen Amtsperson mit mehreren Gaben für die Regel.[142] Zu den «stücke, die yderman angehen ynn der Christenheyt»[143] zählt er neben den in Röm 12,9–16 folgenden Tugenden und Wohltaten nur das Charisma der Barmherzigkeit. Für die Gemeinde hat die paulinische Charismenlehre nur wenig Bedeutung. So beginnt Luther eine Predigt über 1Kor 12,1–11 mit den Worten: «Haec Epistola ist nicht fast von noten pro gmeinen man.»[144]

Luthers Charismenverständnis bietet somit bedeutsame Einsichten, überwindet aber letztlich nicht die überkommene Fokussierung der Charismen auf die kirchlichen Amtsträger. Dies ist umso bedauerlicher, als Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum in der neutestamentlichen Charismenlehre eine wichtige pneumatologische Vertiefung erfahren hätte. Damit wäre sie eventuell nachhaltiger gegen die Gefahr gewappnet gewesen, auf den Bereich der persönlichen Gottesbeziehung oder des privaten Lebensumfeldes beschränkt zu werden. Ihre reformerische Kraft konnte sie bisher jedenfalls nicht zur vollen Entfaltung bringen.[145]

2.1.6 Tobias Pfanner: Die Charismen als «dona miraculosa antiquae ecclesiae»

Während sich bei Luther die Charismen im kirchlichen Amt konzentrieren, aber nicht gänzlich der Vergangenheit überlassen werden, findet sich in der altprotestantischen Orthodoxie erstmals eine explizite definitorische Beschränkung der Charismen auf wunderhafte Phänomene der Urchristenheit. Von Tobias Pfanner stammt die erste monographische Abhandlung der Theologiegeschichte über die Charismen.[146] Schon der Titel deutet ihre Identifikation mit den Wundergaben der Alten Kirche an: «Diatribe de charismatibus sive donis miraculosis antiquae ecclesiae» (1680). Die Charismen bleiben auf die Gaben beschränkt, die der auferstandene Christus der Kirche nach Mk 16,17f verheißen hat (Exorzismus, Sprachengabe, Krankenheilung, Unversehrtheit). Hinzu kommt noch das donum prophetiae, das Pfanner allerdings nicht wie Luther auf die Verkündigung bezieht,[147] sondern als visionäre Zukunftsweissagung versteht.[148] Die weniger wunderhaften Gaben aus Röm 12,6–8 sind nicht im Blick. Zugleich versucht Pfanner mit zahlreichen Belegen aus den Schriften der Kirchenväter nachzuweisen, dass die Charismen nur die zeitlich begrenzte Funktion hatten, die Heiden zur Zeit der ersten Kirche vom Evangelium zu überzeugen.[149] Nach der Ausbreitung der Kirche hätten sie ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit verloren, in ihrer Häufigkeit nachgelassen und schließlich gänzlich aufgehört. Seine «Diatribe» schließt folgerichtig mit dem Kapitel «De Cessatione Miraculorum».[150] Als Größen der Vergangenheit sind die Charismen für die heutige Theologie und Kirche ohne eine Bedeutung, die das historische Interesse übersteigt.[151]

2.2 Impulse zur Neuentdeckung der Charismenlehre in der Theologie des 19. Jahrhunderts

Die von Tobias Pfanner definitorisch fixierte Historisierung des Charismabegriffs wurde von den unterschiedlichen Frömmigkeitsbewegungen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts nur zögerlich überwunden. Die neutestamentliche Charismenlehre wurde auch dort nur selten rezipiert, wo sich die Reformbemühungen auf die geistliche Mündigkeit und Aktivierung der (erweckten) Gemeindeglieder konzentrieren.

 

So propagiert zum Beispiel Philipp Jacob Spener in seinen «Pia Desideria» die «auffrichtung und fleissige übung deß Geistlichen Priesterthums» und empfiehlt die Einrichtung von «versamlungen […], auff die art wie Paulus I.Corinth. 14. dieselbe beschreibet / wo nicht einer allein aufftrette zu lehren / (welches zu andernmahlen bleibet) sondern auch andere / welche mit gaben und erkanntnuß begnadet sind».[152] Die neutestamentliche Charismenlehre klingt hier und an wenigen weiteren Stellen an.[153] Sie hat aber für Speners Theologie keine konstitutive Bedeutung. Die argumentative Begründung des geistlichen Priestertums bleibt daher, wie Hans-Martin Barth bemerkt, «eher dürftig»[154], der «ihm so wichtige pneumatologische Ansatz [wird] nicht nach allen Hinsichten einfaltet, die dieser ihm zur Verfügung stellen würde»[155]. Die fehlende theologische Reflexion kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Charismenlehre den weitgehend unthematisierten Legitimationshorizont für die praktische Realisierung der Laientätigkeit in den Spener’schen Collegia pietatis oder in der Herrenhuter Brüdergemeine mit ihren an Röm 12 orientierten Ämtern und ihrer Durchgliederung in «Banden», «Classen» bzw. «Chöre» bildet.[156] So ist es wenig verwunderlich, dass ein «Herrnhuter […] von einer höheren Ordnung»[157] sich von 1Kor 12 inspirieren lässt.

2.2.1 Friedrich D. E. Schleiermacher: Evangelische Gemeinde als Prozess gegenseitiger Begabung

Der junge Schleiermacher wurde in seinen Gedanken zur Erneuerung der Kirche entscheidend vom Beispiel der Herrnhuter Brüdergemeine und ihren praktischen Ansätzen zur Wiedergewinnung der charismatischen Vielfalt geprägt. Seine berühmte Rede «Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum» kann als eigentümliche Reformulierung der paulinischen Charismenlehre gelesen werden – auch wenn Schleiermacher wie sonst in seinen «Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern» biblische Begrifflichkeiten meidet und sich weder der Begriff «Charisma» noch ein entsprechendes Äquivalent («Gabe», «Geistesgabe» oder «Gnadengabe») finden lässt. Schleiermacher versteht die «wahre Kirche» als eine Gemeinschaft religiös affizierter Menschen, die auf «gegenseitige[r] Mitteilung» beruht und in der der Gegensatz zwischen Priestern und Laien überwunden ist.[158] Jeder ist Priester und bringt das «Feld» des Religiösen zur Darstellung, «welches er sich besonders zugeeignet hat, und wo er sich als Virtuose darstellen kann».[159] Jeder ist aber auch Laie, «indem er der Kunst und Weisung eines anderen dahin folgt, wo er selbst Fremder in der Religion ist»[160]. Die wahre Kirche ist eine «vollkommene Republik» ohne «tyrannische Aristokratie»[161], eine «Akademie von Priestern», in der jeder Einzelne «die reifsten Früchte seines Sinnes und Schauens, seines Ergreifens und Fühlens mit fröhlichem Herzen herbeibringt», je nachdem wie die «Religion […] aus ihrem unendlichen Reichtum […] einem jeden ein eigenes Los» erteilt hat.[162]

Das Bild, das Schleiermacher, «von dem reichen, schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes» zeichnet, nimmt sprachliche Anleihen und inhaltliche Impulse sowohl aus den paulinischen Anweisungen zur gottesdienstlichen Feier in 1Kor 14,26–33a, als auch aus der Charismenliste von 1Kor 12,8–10 auf.

«Wenn ihre Bürger zusammenkommen, [ist] jeder voll einer Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde, alles aufzufassen und sich anzueignen, was die anderen darbieten mögen. Wenn einer hervortritt vor den übrigen, ist es nicht ein Amt oder eine Verabredung, die ihn berechtigt […]: es ist freie Regung des Geistes […]. Er tritt hervor, um seine eigne Anschauung hinzustellen, als Objekt für die übrigen […]; er spricht das Universum aus, und im heiligen Schweigen folgt die Gemeinde seiner begeisterten Rede. Es sei nun, daß er ein verborgenes Wunder enthülle, oder in weissagender Zuversicht die Zukunft an die Gegenwart knüpfe; es sei, daß er durch neue Beispiele alte Wahrnehmungen befestige oder daß seine feurige Phantasie in erhabenen Visionen ihn in andere Teile der Welt und eine andre Ordnung der Dinge entzücke.»[163]

Schleiermachers Relecture von 1Kor 12–14 stellt trotz einzelner fragwürdiger Implikationen[164] einen bemerkenswerten Versuch dar, die paulinische Charismenlehre aus ihrem mirakulösem Missverständnis zu befreien und ihr eine gegenwärtige Relevanz zuzuschreiben. Er verbindet zentrale Aspekte zu einem Bild von Gemeinde, das den Gegensatz von Priestern und Laien überwindet und «evangelische Gemeinde als Prozeß einer gegenseitiger Begabung»[165] versteht. Im Gegensatz zu seinen späteren Schriften hält er in den Reden von 1799 diese Art religiöser Kommunikation allerdings nur im Rahmen kleiner religiöser Hausgemeinschaften für realisierbar, während für die Amtskirche der Gegensatz von Priester und Laien notwendig ist[166] und die Mehrheit der Gemeindeglieder aufgrund ihrer fehlenden religiösen Ergriffenheit «völlig passiv» bleiben muss.[167]

2.2.2 Johann Hinrich Wichern: Die christliche Gemeinde als Entwicklungsschule der Charismen

Die Bedeutung der «Inneren Mission» für den sich allmählich abzeichnenden theologischen Bewusstseinswandel kann kaum überschätzt werden. Das hohe Laienengagement und seine theologische Legitimation u.a. durch Johann Hinrich Wichern befreiten die Charismen mehr und mehr vom Schleier des Historischen und bereiteten den Weg für die Wiederentdeckung ihrer gegenwärtigen Bedeutung. Wer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über die Charismen reflektierte, musste früher oder später auf die Innere Mission zu sprechen kommen.[168]

Johann Hinrich Wicherns Reformprogramm nimmt seinen Ausgangspunkt beim reformatorischen Prinzip des allgemeinen Priestertums.[169] Es geht ihm immer wieder um den «Beruf der Nichtgeistlichen für die Arbeiten im Reiche Gottes und den Bau der Gemeinde»[170]. Zu seiner theologischen Begründung bezieht sich Wichern nicht konsequent, aber ausführlicher als Philipp J. Spener auf die Charismenlehre. Wichern entwickelt zwar keine eingehende theologische Theorie über die Charismen,[171] doch ihre praktische Freisetzung ist ein zentrales Motiv seiner neuen Vision von Gemeinde und Gesellschaft.[172] In den bekannten zwölf Thesen zum «Beruf der Nichtgeistlichen für die Arbeit im Reiche Gottes und den Bau der Gemeinde» (vorgelegt zum Kirchentag 1867) schreibt Wichern:

«Es kommt darauf an, […] die in der Gemeinde vorhandenen und bis dahin noch vielfach gebundenen Charismen zu erwecken, zu entwickeln und zu verwerten […]. Die Gemeinde selbst mit ihren amtlich geordneten und ihren freien Institutionen […] muß die praktische Erziehungs- und Entwicklungsschule für die geweckten Charismen der Nicht-Geistlichen werden.»[173]

In der darauf folgenden, frei gehaltenen und nur in Nachschrift erhaltenen Rede ermahnt er die Zuhörer, es nicht einem badischen Pfarrer gleich zu tun, der einer engagierten Christin verbat, sich um arme Waisenkinder zu kümmern. Wer so handelt «werde […] nirgends Charismen entdecken»[174]. Vielmehr gilt: «Charismen sollen nicht getötet, sondern erweckt werden.»[175] Wichern ist überzeugt: Wer in der Gemeinde wahrhaft Seelsorge übt, Gottes Wort als lebendiger Zeuge verkündigt und «stille und treu sucht», der wird «die freudige Entdeckung machen, daß ein, ja welch’ ein Reichtum von Gaben in einer solchen Gemeinde aus der Verborgenheit erwacht»[176].

2.2.3 Johann Christoph Blumhardt: Die Verheißung des Geistes und seiner Gaben

Johann Christoph Blumhardt geht nicht wie Schleiermacher vom idealistisch geschauten Reichtum der wahren Kirche, sondern vom real erfahrenen Mangel der sichtbaren Kirche aus. Sein Verständnis der Charismen ist aufs Engste mit der Klage über die geistliche Armut der Kirche und mit der für ihn eigentümlichen sehnsüchtigen Erwartung einer erneuten Ausgießung des Pfingstgeistes verbunden.[177] Wenige Jahre vor dem Ende seines Lebens gibt Blumhardt in den «Blättern aus Bad Boll» über diese «Hoffnung des Heil[igen] Geistes» Rechenschaft und erinnert sich, dass er seit seiner Kindheit an der Diskrepanz zwischen dem, was in der Schrift über die Wirksamkeit des Geistes und seiner Gaben bezeugt ist, und der von ihm wahrgenommenen kirchlichen Wirklichkeit gelitten habe.[178] Stets war das «Bewußtsein von einer Armuth» mit einer «eine[r] Sehnsucht nach dem geheimnißvollen Etwas» verbunden.[179] In den Möttlinger Erfahrungen, v.a. im Kampf mit den «Banden der Finsternis», erfuhr Blumhardt «einen Anfang» von dem, was er sich für die ganze Menschheit erhofft: «eine neue Ausgießung des Heil[igen] Geistes».[180] Zwar sei «Vieles von dem ersten Feuer» inzwischen wieder zurückgetreten und ihm selbst sei aus dieser Zeit «nur von einer gewissen Gabe für Kranke […] etwas geblieben», doch blieb ihm umso mehr die «Sehnsucht nach der Rückkehr des Verlorenen»[181]. Die Erfahrungen der geistlichen und speziell der charismatischen Armut der Kirche verbindet er mit einer eigentümlichen geschichtstheologischen Konstruktion, in der das orthodoxe Verständnis der Charismen als «dona miraculosa antiquae ecclesiae» (Pfanner; → 2.1.6) nachklingt: «Durch fortwährendes ‹Betrüben des Heil. Geistes› von Seiten der Christenheit»[182] habe sich der persönlich im Glaubenden wohnende Pfingstgeist mitsamt seinen Gaben nach der Apostelzeit immer mehr zurückgezogen und sei schließlich verschwunden.

«Wo sind denn die Gaben, mit und in welchen der Heil. Geist jetzt noch fortwirkt, und als ewig wirkend sich zu erkennen gibt? Wenn die Gaben doch irgendwo wären, so müßten sie sich bemerklich machen; aber man weiß nirgends von solchen, wenn auch viel Edles da und dort zu finden ist.»[183]

Erst in einer von Blumhardt in unmittelbarer Nähe erwarteten dritten Heilszeit werde es zu einer erneuten Ausgießung des Geistes bzw. – wie Blumhardt später präzisiert – zu einer Fortsetzung der sich schon in der Apostelzeit wiederholenden Ausgießungen des Geistes kommen und damit zugleich zu einer neuen Wirksamkeit der geistlichen Gaben.[184] Blumhardt zeigt sich in diesen Anschauungen einerseits abhängig vom traditionellen Verständnis der Charismen als wunderhafte und nunmehr vergangene Größen.[185] Andererseits aber überlässt er sie nicht der Vergangenheit einer vermeintlich einzigartigen Urzeit, sondern gewinnt sie neu für die Zukunft der Kirche. Die Charismen sind Gegenstand der Verheißung Gottes und Bestandteil der sehnsuchtsvollen Erwartung, mit der sich die Kirche auf eine geistliche Erneuerung ausrichtet.

Die umfassendste Darlegung seines Charismenverständnisses bietet Blumhardt in der Abhandlung «von den geistlichen Gaben», veröffentlicht in den «Blättern aus Bad Boll» (Nr.37/1876). Er ermahnt die Glaubenden, in Geduld und Demut auf eine erneute Ausgießung des Geistes mit einer umfassenden Austeilung der geistlichen Gaben zu warten.[186] Er warnt ausdrücklich davor, sie für sich selbst als «etwas Habituelles und Bleibendes» zu erstreben, «statt demüthig um ein Durchkommen im einzelnen Fall, mit stets wiederholten Hilfsleistungen von oben» zu bitten.[187] In einem eigenmächtigen Streben nach dem Besitz von geistlichen Gaben sieht Blumhardt einen ungeistlichen Unabhängigkeitsdrang, mit dem sich der Mensch von Gott lösen, und einen Geltungsdrang, mit dem er sich über den Nächsten erheben will.

«Denn es sieht sich an, als ob man sichs nur bequemer machen wollte, um nicht immer wieder den Heiland bitten zu müssen, wenn mans vermöge der innwohnenden Gaben von selbst, und dann gewissermaßen sicher machen könnte. Warten wir, bis es dem Herrn gefällt, im Ganzen und Großen die Kräfte des Heiligen Geistes auszugießen; und daß diese Zeit beschleunigt werde, dürfen wir immerhin bitten […]. Soll Er etwas geben, so muß Er es von sich aus thun. Um dieses aber kann und darf ich nicht bitten, ohne vor Ihm und Andern anmaßend zu erscheinen, weil ein Gelüste darin liegt, darum hoch angesehen zu werden vor den Menschen.»[188]

Von den in Demut zu erwartenden «eigentlichen ächten geistlichen Gaben» unterscheidet Blumhardt die «natürlichen Gaben». Sie sind «angeboren, im eigenen Geiste des Menschen wurzelnd», können aber «durch Nachdenken, Studium, Fleiß, Uebung, Ausdauer […] sehr gesteigert werden».[189] Weil sie aber «nie als unmittelbar von oben gegeben» erscheinen, unterliegen sie der Gefahr des Irrtums und sind «um so gefährlicher, weil sie gerne mit einer gewissen Macht auftreten, und überwältigend für kleinere Geister werden»[190]. Trotz dieser Warnungen schreibt Blumhardt den natürlichen Gaben in einer Morgenandacht zu 1Petr 4,10 eine hohe Bedeutung für den Aufbau der Gemeinde zu:[191] Im Vergleich zu den Gaben der Apostelzeit sind die heutigen zwar «nicht mehr dieselben», aber dennoch «ist ihrer Vielen Vieles gegeben». Durch den gegenseitigen Dienst, «durch Belehren, durch Ermahnen und Warnen, durch Besuche, durch tröstliche Aufrichtung, durch Hilfeleistungen mit Rath und That»[192], soll nicht nur der Gesamtheit der Glaubenden geholfen werden, vielmehr «hängt das Leben der Gemeinden, ja der ganzen Kirche [daran], dass man viel nach allen Richtungen einander dienen lerne».[193] Die gegenwärtige kirchliche Wirklichkeit sieht Blumhardt allerdings auch bei der Praktizierung der natürlichen Gaben in einem Widerspruch zur biblischen Weisung. Die Mehrheit der Gläubigen «lassen Alles liegen und überlassen Alles nur dem Amt»[194]. Dadurch liege nicht nur «die geistliche Pflege der Einzelnen durch Einzelne […] ganz darnieder»[195], auch das Amt könne nicht viel ausrichten, wenn ihm die Gaben der Gemeinde nicht dienend zur Seite stehen. So bleibt Blumhardt auch im Blick auf die natürlichen Gaben nur die sehnsüchtig bittende Hoffnung auf ein Wirken des heiligen Geistes: «Hoffen wir auf solche Gnadenzeit, welche die Christen auch wieder regsamer für einander machte!»[196]

 

Blumhardt ist einer der ersten Theologen, der den Mangel an Charismen als Anzeichen einer geistlichen Armut der Kirche versteht und sich durch die biblische Verheißung zu einer erneuerten «Erwartung des Geistes und seiner Gaben und Kräfte»[197] führen lässt. So problematisch die geschichtstheologische These vom Verschwinden des Geistes und die skeptische Geringschätzung der vorhanden Charismen ist, so bedeutsam ist doch die Wiedergewinnung des promissionalen Charakters der Charismen und ihrer Bedeutung für eine geistliche Erneuerung der Kirche. Mit diesen Ansichten ist Blumhardt seiner Zeit weit voraus und findet bei seinen Zeitgenossen nur wenig Verständnis – am wenigsten bei seinen Amtskollegen und den Theologen.