Himmelwärts beten

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Himmelwärts beten
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Himmelwärts beten



Impuls zum Vaterunser



Dirk Kellner




Impressum



Texte: © Copyright by Dirk Kellner

Umschlag: © Copyright by Dirk Kellner, Photo von Jordan Holiday auf pixabay



Verlag: Dirk Kellner - Am Neugraben 4 - 79585 Steinen - dirk.kellner@posteo.de



Auch als Print-Version bei epubli erhältlich.





Die Bibeltexte werden, soweit nicht anders angegeben, nach folgender Ausgabe zitiert: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.




Vorwort



Himmelwärts beten – und mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben. Dies zu lernen und einzuüben ist mein Wunsch für jeden, der dieses Buch in den Händen hält. Ich habe weder den Anspruch, eine umfassende Abhandlung zum Gebet noch einen exegetischen Kommentar zum Vaterunser zu schreiben. Die Impulse sollen lediglich eine Anregung sein, sich selbst mit den Worten Jesu zu beschäftigen und das eigene Beten durch sie bereichern zu lassen.



Die einzelnen Kapitel dieses Buches gehen auf Predigten zurück, die im Rahmen der monatlichen Abendgottesdienste in der Petruskirche Steinen gehalten wurden. Trotz inhaltlicher Vertiefung und sprachlicher Überarbeitung blieb der Stil der direkten Anrede und des generischen Maskulins weitgehend erhalten. Die geneigte Leserin möge sich beim Leser, das höfliche „Sie“ beim liturgischen „du“ wiederfinden.



In den letzten Jahren wurde ich immer wieder gebeten, Predigten zu veröffentlichen. Erst als die Corona-Krise dem umfangreichen Gemeindebetrieb eine Zwangspause verordnete, fand ich die notwendige Muße. Nun habe ich die leise Hoffnung, dass die Rückbesinnung auf das Gebet Jesu einen Beitrag zur Bewältigung der inneren Nöte leistet, die mit den aktuellen äußeren Umständen einhergehen. Während ich diese Zeilen schreibe, sind Gottesdienste noch verboten oder müssen unter besonderen Bedingungen stattfinden. Doch dem persönlichen Gebet sind keine Grenzen gesetzt. Gott, der himmlische Vater, hält keinen Abstand. Wir können ihn jederzeit und überall mit den Worten Jesu anrufen, himmelwärts beten und doch auf dem Boden bleiben. Das Vaterunser kann unser Gebet leiten und bereichern.



Zur Veröffentlichung dieses Buches haben viele Menschen beigetragen. Sie sind sich dessen wahrscheinlich nicht immer bewusst. Stellvertretend nenne ich die Korrekturleser Dorothea Burger, Heidrun Trinler und Martin Rösch. Mein herzlicher Dank gilt euch ebenso wie meiner Frau Susanne, die mich zur Veröffentlichung dieses Buches immer wieder ermutigt und mir den zusätzlichen Freiraum verschafft hat.




Himmelwärts und in die Tiefe



Eine Höhlenerfahrung



Meine Augen benötigten einige Augenblicke, um sich an die plötzliche Dunkelheit zu gewöhnen. Nach und nach ließen die schemenhaften Umrisse immer mehr Details erkennen. Vorsichtig wagte ich die ersten Schritte. Eine sparsame Beleuchtung wurde sichtbar, dann Stützpfeiler und schließlich der Weg in die Höhle, den wir bei unserer Führung nehmen würden. Die Expedition dauerte fast eine ganze Stunde und führte uns zu faszinierenden Tropf- und Edelsteinen. Schließlich näherten wir uns wieder dem Ausgang. Der Schritt ins Freie war ein Schock. Die Sonne strahlte hell vom blauen Himmel. Die bunten Farben des Frühlings brannten grell in meinen Augen, die sich auf das dunkle Grau der Höhle eingestellt hatten. Ich wäre gestolpert, hätte nicht jemand in kluger Voraussicht ein robustes Geländer genau an dieser Stelle angebracht. Dankbar ergriff ich es und konnte mich so Schritt für Schritt in die Wirklichkeit der Welt da draußen zurücktasten.



Dieses Erlebnis kommt mir in den Sinn, wenn ich über das Vaterunser nachdenke. Es ist interessant: Die Bibel erzählt davon, dass Gott nicht nur im Licht (1Tim 6,16), sondern auch im Dunkeln (1Kön 8,12) wohnt. Wenn wir beten, kann es uns daher so vorkommen, als verließen wir die dunklen Höhlen des Alltags und träten in Gottes Gegenwart. Sein Licht umstrahlt uns, seine Liebe und Gnade empfängt uns. Hell und grell heben sie sich von unserem Alltag ab. Darum stolpern manchmal die Worte am Anfang unserer Gebete. Die Augen des Herzens sind noch nicht bereit, Gottes Schönheit zu schauen.



Doch auch die entgegengesetzte Erfahrung ist möglich: Aus dem bunten Alltag kommen wir in die Stille und Gegenwart Gottes. Doch sie umgibt uns zunächst wie ein leerer und unergründlicher Raum, den wir kaum mit unseren Worten zu betreten wagen.



In kluger Voraussicht hat Jesus uns ein geistliches Geländer gegeben: das Vaterunser. Es führt uns Schritt für Schritt in die Tiefe und gleichzeitig himmelwärts – und damit hinein in Gottes Gegenwart.



Das Vaterunser – bekannt und verkannt



Nach einer Umfrage von TNS Infratest erkennen 94 % der Bundesbürger das Vaterunser wieder, wenn es ihnen vorgelesen wird. Fast die Hälfte der Menschen kennt es auswendig. Damit ist dieses Gebet bekannter als die Nationalhymne, deren Text, wenn man einer anderen Umfrage glaubt, nur 44 % ohne fremde Hilfe aufsagen oder vorsingen können. Ich selbst habe nur sehr wenige Bestattungen erlebt, bei denen die überwiegende Mehrheit der Trauergäste geschwiegen hat, als am Grab gemeinsam das Vaterunser gebetet wurde. Doch ich spüre immer noch die bedrückende Atmosphäre dieser Verlegenheit, angesichts des Todes stumm bleiben und anderen beim Beten zuschauen zu müssen.



Das Vaterunser ist bekannt und dennoch verkannt. Nur ein Bruchteil der Menschen betet es persönlich. Selbst für manche Christen, die sich klar zu ihrem Glauben bekennen und regelmäßig in den Gottesdienst gehen, hat das Vaterunser keine große geistliche Bedeutung. Die häufigen Wiederholungen, so sagen sie, hätten es zu einem leeren Ritual werden lassen. „Der Mund spricht die Worte, doch das Herz ist nicht dabei.“ Schon Martin Luther klagte darüber, dass das Vaterunser der größte Märtyrer sei. Jeder plage und missbrauche es.



Diese Gefahr ist nicht zu leugnen. Die Frage sollte doch aber nicht sein, ob wir das Vaterunser beten sollen, sondern wie wir es beten können, damit wir sein Martyrium nicht verlängern! Denn für Jesus ist das Vaterunser das zentrale Gebet, das uns Schritt für Schritt nicht nur in Gottes Gegenwart, sondern auch durch die Tiefen des Alltags führt.



Lehre uns beten



Das Neue Testament berichtet immer wieder davon, dass Jesus sich in die Stille und Einsamkeit zurückzieht, um dort mit seinem himmlischen Vater zu sprechen. Manchmal bleibt er eine ganze Nacht lang in der Gegenwart Gottes – besonders vor größeren Entscheidungen (Lk 6,12). Er redet, schweigt und hört. Die Jünger nimmt Jesus gelegentlich in sein Gebetsleben mit hinein (Lk 9,28). Sie werden Zeugen der einzigartigen Verbindung, die Jesus mit dem Vater pflegt. Sie können spüren, wie Jesus aus dem Gebet Kraft empfängt und Mut schöpft. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sie ihn bald bitten: „Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1).



In dieser Bitte kann man die Sehnsucht erahnen, ähnlich wie Jesus eng mit Gott verbunden zu sein. Vielleicht klingt sogar eine Spur Traurigkeit an, dass die eigenen Gebete diese innere Vertrautheit und verändernde Energie vermissen lassen. Jedenfalls enthält die Bitte „Lehre uns beten“ zwei wichtige Botschaften: Beten muss man lernen, und Beten kann man lernen.



1. Beten muss man lernen. Beten ist das Luftholen der Seele, und doch ist es uns nicht wie das Atmen als Instinkt in die Wiege gelegt. Der Volksmund sagt zwar, dass die Not beten lehre. Und tatsächlich wenden sich viele Menschen gerade dann an Gott, wenn sie selbst mit ihren eigenen Möglichkeiten nicht weiterkommen. Doch beschränkt sich das Gebet in diesen Grenzsituationen oft auf ein kurzes Bitt- oder Stoßgebet. Sobald sich die Lage geklärt hat, wird die Verbindung mit Gott nicht weiter gepflegt. Wie oft fällt mein eigenes Dankeschön viel kürzer aus als die dringende Bitte?



Aus unserem Wesen heraus können wir Menschen nicht so beten, dass die innere tiefe Verbindung zu Gott spürbar und aufrechterhalten wird. Wir sind nicht mit den geistlichen Fähigkeiten geboren, im Gebet nicht nur zu reden, sondern auch Gottes leises Reden in unserem Inneren zu hören. Das ist ein Geschenk des Heiligen Geistes (1Kor 2,10–12) und gleichzeitig eine Übung (Heb 5,14), die man erlernen muss.



2. Die gute Nachricht ist aber: Beten kann man lernen. Sonst hätte Jesus die Bitte der Jünger abgewiesen. Seine Antwort bestätigt vielmehr: Mit innerer Vertrautheit und verändernder Kraft zu beten, ist kein Privileg, das nur Jesus als Sohn Gottes zukommt. Jedes Kind Gottes wird vom himmlischen Vater ganz persönlich dazu eingeladen, es geschenkt zu bekommen und zu üben.



Vielleicht ist es wie beim Schwimmenlernen. Einige Kinder springen mutig ins Wasser, strampeln sich selbst an die Oberfläche und machen ihre ersten Züge. Die meisten allerdings brauchen Hilfe, Anleitung und Übung, um sich in diesem neuen Element wohl zu fühlen.



Das Vaterunser



Die Jünger haben ihre Bitte geäußert: „Lehre uns beten!“ Jesus antwortet nicht mit einem theoretischen Vortrag über die Theologie des Gebets. Er spricht vielmehr ein Muster-Gebet, ein Beispiel zur Nachahmung: „Wenn ihr betet, so sprecht“ (Lk 11,2). Dann folgen die Worte, die über eine Milliarde Menschen in ihrer je eigenen Sprache beten können:





Vater unser im Himmel



Geheiligt werde dein Name



Dein Reich komme



Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden



Unser tägliches Brot gib uns heute



Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unseren Schuldigern



Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen



Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit, in Ewigkeit



Amen.



Die frühen Christen haben Jesu Anweisung befolgt. Die erste Kirchenordnung vom Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr., die sogenannte Didache, macht es für jeden Gläubigen zur Pflicht, das Vaterunser dreimal täglich zu beten. Sie lehnt sich damit an die jüdische Sitte an, dreimal täglich das Achtzehnbittengebet zu sprechen.

 



Das Vaterunser wurde zu einem weltumspannenden Gebet. Selbst wenn von etwa zwei Milliarden Menschen, die sich zum Christentum bekennen, nur jeder Zehnte einmal täglich eine Minute lang langsam das Vaterunser betet, gibt es in jedem Augenblick durchschnittlich 2300 Menschen, die mit mir die gleichen Worte in der je eigenen Sprache sprechen.



Nicht plappern, sondern von Herzen beten



Wie sollen wir das Vaterunser sprechen? In der Bergpredigt des Matthäusevangeliums gibt Jesus folgenden Hinweis (Mt 6,7–8):



„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“



Das Gebet ist also keine magische Zauberformel, die man so lange wiederholt, bis bestimmte geheimnisvolle Worte unsere Wünsche in Erfüllung gehen lassen. Das wäre gerade das „Plappern“, vor dem Jesus unser Gebet bewahren will. Der griechische Begriff lässt an eine gedankenlose Aneinanderreihung von Worten denken. Bereits das Alte Testament erzählt von einem solchen Beten bei den Baalspriestern, die ihren Gott durch lautes und unaufhörliches Rufen wecken wollen (1Kön 18,26–29). Bei den Völkern, die Israel und die ersten Christen umgaben, gehörten Zauberformeln zum Alltag (vgl. Jes 28,10). Die sogenannten Zauberpapyri haben sich seit der Zeit Jesu erhalten und können im Museum betrachtet werden. Hierbei handelt es sich um antike Zettel mit magischen Gebeten, die durch Anhäufung von Gottesnamen und geheime Formeln die Götter beeinflussen und magische Kräfte entfalten sollen.



Ganz anders lehrt Jesus über das Beten. Wir müssen Gott nicht belehren, überzeugen oder überreden. Die Grundlage des Gebetes und auch des Vaterunsers ist vielmehr das Vertrauen, dass Gott schon weiß, was uns innerlich bewegt und was wir brauchen. Die Worte unseres Gebetes dürfen aus einem Herzen fließen, das sich von Gott zutiefst gesehen, gehört und verstanden weiß.



Den Heiligen Geist im Herzen predigen lassen



Martin Luther hat 1535 die kleine Schrift verfasst: „Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund“ (WA 38,351–375; Auszüge im Anhang des Buches). „Einfältig“ meint an dieser Stelle nicht „unterbelichtet“, sondern „einfach“. Luther will eine für alle Menschen verständliche Anleitung geben, damit das Beten nicht den vermeintlichen Profis in den Klöstern und Kirchen vorbehalten bleibt.



Die Schrift ist ein sehr persönliches Werk, in dem Luther Einblick in sein eigenes Gebetsleben gibt:



„Lieber Meister Peter. Ich geb‘s euch so gut, wie ich‘s habe, und ich selber mich beim Beten verhalte.

Unser Herr Gott gebe euch und jedermann, es besser zu machen.“



Am Anfang des Werkes gibt Luther zu, dass er selbst durch den Betrieb des Alltags oft „kalt und unlustig zu beten“ sei. Durch Psalmen und andere Bibelverse werde dann das Herz „erwärmt“, komme zu sich selbst und werde zum Beten bereit.



Nun geht Luther dem Vaterunser entlang. Nach jeder Zeile hält er inne, sinnt über sie nach und lässt sich durch die überlieferten Worte zu eigenen Gebeten inspirieren. Er bringt persönliche und weltumspannende Anliegen vor Gott, bevor er die nächste Zeile des Vaterunsers betet. Durch die Worte Jesu werde das eigene Herz zu eigenen Worten „angereizt“ und „unterrichtet“. Ja, der Heilige Geist predige selbst zu unserem Herzen.



Auf diese Weise wird das Vaterunser zu einem Geländer, das uns Halt und Orientierung gibt. Es führt uns Schritt für Schritt in die Gegenwart Gottes, sei es ins Dunkel oder ins Licht, bis er selbst dort durch seinen Geist zu uns redet.



Himmelwärts, Erdwärts und zurück



Das Vaterunser vollzieht eine Bewegung vom Himmel auf die Erde und wieder zurück. Es beginnt mit der Anrede „Vater unser im Himmel“ und lässt drei Bitten folgen, die himmlische Realitäten in den Blick nehmen und gleichzeitig auf die irdische Wirklichkeit zielen. Gottes Name, Reich und Willen sollen Einfluss und Raum auf der Erde gewinnen. Danach wird aus dem vorangestellten „dein“ ein „unser“. Unsere menschlichen Anliegen werden nun vor Gott gebracht: was wir brauchen, was uns belastet und was unser Leben bedroht. Wir beten himmelwärts und bleiben doch mit beiden Beinen auf dem Boden.



Das Gebet schließt mit einem Lobpreis an Gott, den Schöpfer. Das „Wir“ kann wieder einen Schritt zurücktreten, weil es sich von Gottes „Du“ gehört und angenommen weiß.



Anrede: 1x „unser“



1.–3. Bitte: 3x „dein“



4.–6. Bitte: 3x „unser“, 4x „uns“



Lobpreis: 1x „dein“



Das Vaterunser vollzieht eine Bewegung, die dem Gebot Jesu entspricht, zuerst nach dem Reich Gottes zu trachten. Gleichzeitig lebt es aus dem Vertrauen, dass wir in Gottes großen Plänen nicht untergehen, sondern zu dem finden, was wir wirklich brauchen. Denn Jesus sagt (Mt 6,32b–33):



„Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“




Die Anrede: „Vater unser im Himmel“



Das Vaterunser beginnt wie jedes Gebet mit einer Anrede. Bei Jesus lautet sie: „Vater unser im Himmel“. Diese Worte sind keine beliebige Floskel, sondern der erste Schritt in die Gegenwart Gottes.



Die Reihenfolge der ersten beiden Worte ist übrigens aus der lateinischen Bibelübersetzung und Liturgie übernommen, die selbst wiederum dem griechischen Original entspricht. In beiden alten Sprachen ist es üblich, das betonte Substantiv an den Anfang und das Adjektiv an die zweite Stelle zu setzen. Aus dem griechischen „Pater hemon“ wurde lateinisch „Pater noster“ und schließlich „Vater unser“. Andere moderne Sprachen wie das Englische und Französische haben die Satzstellung angeglichen und beginnen das Gebet mit „Our father“ und „Notre père“.



Die Anrede, mit der ich zu jemandem in Kontakt trete, spiegelt die Beziehung wider, die ich zu ihm habe. Ebenso zeigt sich in ihr die Erwartung und innere Einstellung, mit der ich ihm begegne. So können wir meistens schon an der verwendeten Anrede oder an ihrer Betonung ziemlich gut abschätzen, welche Richtung ein Gespräch nehmen wird. Ein Kind spürt schon bei der Nennung seines Vornamens, ob nun die wiederkehrende Ermahnung folgt, endlich das Zimmer aufzuräumen, oder eine Einladung zum Eisessen.



Die Kind-Haltung



In der Anrede, durch die Jesus Gott anspricht und sein Gebet beginnt, zeigt sich seine einzigartige Beziehung zu Gott. Er ist von Ewigkeit her der geliebte Sohn des himmlischen Vaters und eines Wesens mit ihm. Und trotzdem dürfen und sollen wir uns diese Anrede zu eigen machen. Denn Gott will auch unser himmlischer Vater sein. Er liebt uns und lädt uns ein, seine Kinder zu werden. Wenn wir Jesus Christus als Retter annehmen und an ihn glauben, werden wir Teil der Familie Gottes (Joh 1,12), empfangen Gottes Geist und können durch ihn Gott unseren Vater nennen, wie Jesus es tat. Der Apostel Paulus schreibt das so (Röm 8,15):



„Ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“



Wenn wir unser Gebet also mit den Worten „Vater unser“ beginnen, nehmen wir dankbar die Haltung des Kindes ein. Die Kind-Haltung ist somit nicht nur eine Yoga-Übung, sondern eine geistliche Herzenseinstellung. Wir versuchen nicht, eine anonyme, universelle Energie anzuzapfen oder einen fremden Gott um Gehör zu bitten. Wir kommen vertrauensvoll zu unserem persönlichen Schöpfer und Vater, der sich uns mit offenen Armen, Ohren und Herzen zuwendet.



Der Ballast der Erfahrung



Doch gerade dieser Einstieg ins Gebet macht es manchen Menschen nicht leicht. Es fällt ihnen schwer, sich Gott als Vater vorzustellen oder ihn im persönlichen Gebet so zu nennen. Ob wir wollen oder nicht: Die Beziehung, die wir zu unserem eigenen Vater hatten, prägt unser Gottesbild. Sie schwingt mit, wenn wir beten, und lässt uns manche Worte leicht und manche schwer über die Lippen gehen.



Die Beziehung zu unserem eigenen Vater kann uns helfen, Gottes Liebe und Barmherzigkeit besser zu verstehen. Sie kann dem aber auch im Wege stehen oder es sogar fast unmöglich machen.



Wer einen Vater erlebt hat, der sich schützend vor sein Kind stellt und es in Schutz nimmt, dem wird es in der Regel leichter fallen, sich bei seinem himmlischen Vater geborgen zu fühlen. Wer einen Vater gehabt hat, der seinem Kind Wertschätzung und Anerkennung vermittelt, wird sich eher in Gottes Augen wertvoll fühlen können, ohne ständig seine Würdigkeit beweisen zu müssen. Wer miterlebt hat, wie sich der eigene Vater innerlich von dem hat bewegen lassen, was sein Kind fühlt, der wird wahrscheinlich schneller bereit sein, dem himmlischen Vater das Herz auszuschütten.



Doch es gibt auch die entgegengesetzte Erfahrung: Es gibt Väter, die äußerlich oder innerlich abwesend, unerreichbar und unnahbar sind. Sie hören nur mit einem Ohr zu, während die Augen die Nachrichten verfolgen, die Zeitung studieren oder am Smartphone kleben. Sie stellen hohe Forderungen, sind mit Anforderungen und Kritik großzügig, mit Lob und Anerkennung sparsam. Und so soll Gott sein? Es gab und gibt den Vater, der autoritär und ohne Pardon über die Familie herrscht – vielleicht sogar mit Gewalt. Und so soll Gott sein?



Nein, Gott ist anders. Diese Differenzerfahrung ist für das eigene Glaubensleben von großer Bedeutung. Darum kann es gut sein, sich diesem Teil der Vergangenheit zu stellen, auch wenn sich dahinter schmerzhafte Erinnerungen verbergen. Das Ziel ist nicht, alte Wunden aufzureißen oder andere Menschen zu verurteilen. Auch unsere Väter sind Teil einer gefallenen Welt und machen Fehler, aber auch sie sind von Gott zur Umkehr und Vergebung eingeladen. Das Ziel ist vielmehr, unser Bild von Gott als dem himmlischen Vater vom emotionalen Ballast unserer Vergangenheit zu befreien und es mit neuen Erfahrungen zu überschreiben.



Vielleicht führt uns die Anrede gleich zu Beginn unseres Betens zu folgenden Worten: Guter Gott. Es fällt mir schwer, dich als Vater zu sehen und mit „Vater“ anzusprechen. Ich zögere, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass mein irdischer Vater… Hilf mir, dich zu sehen und zu erfahren, wie du wirklich bist.



„Im Himmel“



Mit den Worten „im Himmel“ betont Jesus die Differenz. Gott ist nicht das überhöhte Abbild eines irdischen Vaters. Er ist größer als unsere Vorstellung und Erfahrung. Der Heidelberger Katechismus, eine kurze Zusammenfassung des evangelischen Glaubens aus dem 16. Jahrhundert, bringt es im damals üblichen Frage-Antwort-Stil schön auf den Punkt (Frage 120–121).



„Frage: Warum hat uns Christus befohlen, Gott so anzureden: ‚Unser Vater‘?



Antwort: Er will in uns gleich zu Anfang unseres Gebetes die kindliche Ehrfurcht und Zuversicht Gott gegenüber wecken, auf die unser Gebet gegründet sein soll; dass nämlich Gott durch Christus unser Vater geworden ist und uns das, worum wir ihn im Glauben bitten, noch viel weniger verweigern will, als unsere Väter uns irdische Dinge abschlagen.



Frage: Warum wird hinzugefügt: ‚Im Himmel‘?



Antwort: Wir sollen von der himmlischen Hoheit Gottes nichts Irdisches denken.“



Bis wir Gott wirklich „von Angesicht zu Angesicht“ sehen und sein vollkommenes Wesen erkennen, wird uns das nur bruchstückhaft gelingen. Das „irdische Denken“ wird immer wieder unser Gottesbild und unser Beten beeinflussen. Doch wir bleiben auf dem Weg. Die Anrede „Vater unser im Himmel“ kann, wenn wir sie bewusst beten, immer wieder ein kleiner Schritt auf diesem Weg sein.



„Unser Vater“



Unser Herz wird dann immer mehr erkennen, wie das Vater-Sein von Gott her ganz neu definiert wird und sich uns als vollkommene Liebe und Zuwendung erschließt. Darauf verweist das besondere Wort, mit dem Jesus von Gott als dem Vater spricht.



Die meisten Theologen gehen davon aus, dass Jesus in seinen Gebeten nicht den Begriff „Vater“ verwendet, der in der Öffentlichkeit gängig war. Vielmehr habe er das Wort seiner Muttersprache Aramäisch verwendet, mit dem Kinder liebevoll ihren Vater rufen: „Abba“ (Mk 14,36; vgl. auch Röm 8,15; Gal 4,6). Es entspricht unserem „Papa“ und lässt Vertrautheit und Nähe spüren. So wie manche ältere Kinder es unangemessen oder sogar unangenehm finden, wenn sie ihren Vater in der Öffentlichkeit Papa nennen, war auch damals das Wort „Abba“ ausschließlich im inneren Familienkreis beheimatet. Für die damalige Zeit war es ungewöhnlich oder sogar unerhört, Gott mit diesem intimen Wort anzureden.

 



Jesus betont damit aber die enge Beziehung, die Gott zu jedem seiner Kinder sucht. Er ist eben nicht der schweigsame, untätige, autoritäre oder sogar gewalttätige Patriarch, sondern der „Papa“, der sich liebevoll seinen Kindern zuwendet, der seine Kinder in den Arm nimmt und tröstet, der für sie sorgt und sie unterstützt.



Mit der Anrede „Abba“ kommt Zärtlichkeit in die Gottesbeziehung. Gott wird dadurch nicht gezähmt oder zum harml

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