Buch lesen: «Mörderisches Schwerin», Seite 3

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Kapitel 7

»Jetzt nicht!«, ermahnte Berger seine Sekretärin, die gerade in sein Büro kam. »Ich muss mich konzentrieren und brauche mal eine halbe Stunde meine Ruhe. Ist das so schwer zu verstehen?«

Sie verließ wieder einmal kopfschüttelnd das Büro und schloss leise die Tür hinter sich.

Hauptkommissar Berger überflog gerade zum dritten Mal die Gästeliste des Galaabends vom vergangenen Mittwoch, auf der 256 Namen standen. Er hatte sich dafür aus dem Internet einen Plan des Theaters vergrößert, ausgedruckt und auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. 550 Zuschauer fasste das Große Haus. Auf diesem Schema markierte er ganz genau, in welcher Reihe und auf welchem Sitz die jeweilige Person gesessen hatte. Die ersten fünf Reihen waren für Politiker und Prominente reserviert worden. Für die restlichen etwa 300 Sitzplätze gab es an dem Abend freie Platzwahl.

Berger trank seinen kalten Kaffee aus. Plötzlich entdeckte er, dass der für den Architekten Jan Wilke reservierte Platz genau derjenige war, unter dem der Sprengstoff detoniert war. Es handelte sich also um den Sessel, in dem die junge Frau gesessen hatte, die durch die Explosion ums Leben gekommen und deren Identität bisher ungeklärt war. Scheinbar vermisste sie niemand. »Aber wo saß dann Jan Wilke an dem Abend?«, murmelte Berger, während er sich mit seinem Kugelschreiber am Kinn kratzte. ›Warum ist er nach der geplatzten Gala nicht nach Hause gekommen? Wo ist Jan Wilke jetzt?‹, grübelte der Kommissar. Die zwei verletzten Männer neben der jungen Frau gehörten dem Welterbe-Verein in Schwerin an. Sie schwebten nicht mehr in Lebensgefahr und waren auf dem Weg der Besserung. Er nahm sich vor, sie in Kürze noch im Klinikum zu befragen.

Der Polizist griff zum Telefon und rief die Frau des Architekten an. »Kripo Schwerin, Berger am Apparat. Frau Wilke, hat sich Ihr Mann gemeldet? Ist er wieder zu Hause?«, fragte er ohne eine Pause zwischen den Fragen.

»Nein, Herr Hauptkommissar. Ich hätte Sie doch sonst gleich angerufen. Ich habe im Büro meines Mannes schon mehrmals angerufen. Dort meldet sich auch niemand.«

Bei Berger ratterten die Gedanken durch den Kopf. Er stand auf, um sich noch einen starken Kaffee aus seinem Vorzimmer zu holen.

Seine Sekretärin guckte stur in eine andere Richtung, als er an ihrem Schreibtisch vorbei zur kleinen Küchenzeile rechts neben der Tür ging. Vor einer halben Stunde hätte sie ihm den Kaffee noch mit einer Schokowaffel, die er so gern mochte, serviert. Jetzt überließ sie Berger die Bedienung des komplizierten Kaffeeautomaten. Sie war wütend und hoffte insgeheim, das Gerät würde jetzt Entkalken oder Reinigen anzeigen.

Berger bemerkte seine Sekretärin nicht einmal und war in Gedanken schon wieder im Schweriner Theater. Wieder zurück in seinem Büro notierte er die offenen Fragen:

- Wer ist die tote Frau?

- Wo ist Jan Wilke?

- War er vielleicht gar nicht im Theater?

- Hat Wilke etwas mit dem Tod der Frau zu tun?

- Warum gab es eine Explosion in der Herrentoilette? Ist der mutmaßliche Täter ein Mann? ›Eine Frau hätte den Sprengstoff wahrscheinlich in der Damentoilette platziert‹, dachte er, während er schrieb.

- Warum haben die Sprengstoffsuchhunde vor der Gala nichts gefunden? ›Jemand hat abgewartet, bis die Suchhunde durch das Theater gelaufen sind‹, dachte der Kommissar ein ums andere Mal. ›Zwischen dem Einsatz der Hunde und dem Einlass der Gäste liegt eine Stunde. Genügend Zeit, um Sprengstoff in der Herrentoilette und im Zuschauerraum zu verstecken. Aber es muss doch irgendjemand etwas bemerkt haben!‹

- Wer hat die Geldforderung an die LED-Wand gestrahlt?, war eine weitere Frage, die er auf seinem Notizblock festhielt. Berger lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und streckte seinen Rücken mit einem lauten Stöhnen durch, als sein Kollege Lars Paulsen in seinem Arbeitszimmer erschien. »Na, hast du was Neues? Weißt du schon, wer die tote Frau ist?«

»Nein, bisher nicht«, antwortete Paulsen. »Der ganze Fall ist mysteriös. Ich bin gerade dabei, aufzulisten, wer von den Gästen der Gala das geforderte Geld überwiesen hat. Es wird schwierig, herauszubekommen, wer hinter dem angegebenen Konto steckt. Es ist ein Nummernkonto in der Schweiz. Eine Rückbuchung der eingezahlten Gelder war bisher nicht möglich«, erläuterte Bergers Kollege.

Berger schaute Paulsen fragend an: »Dieses Verbrechen kann nicht nur eine Person begangen haben. Die Geldforderung, die Sprengungen, die ganze Logistik dieser aufeinanderfolgenden Taten kann nicht nur eine Person geplant haben. Da waren Profis am Werk. Das wird kompliziert! Ich vermute, wir haben es hier mit einem organisierten Kapitalverbrechen zu tun.«

»Da gebe ich dir recht. Ich habe schon Europol eingeschaltet. Wir brauchen Unterstützung. Den Fall lösen wir nur mit professioneller Amtshilfe!«

»Gut gemacht, Lars! Das sehe ich auch so. Wir müssen auch an die Schweizer Bank ran. Wenn wir es hier mit einem derartigen Verbrechen zu tun haben, dann können die sich nicht hinter ihrem berühmt-berüchtigten Bankkundengeheimnis verstecken. Die Privatsphäre der Kunden scheint denen heilig zu sein.«

»Nein, Thomas. Wir haben in diesem Fall Glück. Ich habe mich mal sachkundig gemacht. Seit Mai 2014 ist die Schweiz der Erklärung der OECD beigetreten«, er las nun von einem Zettel ab. »… über den künftigen automatischen Informationsaustausch in Steuerangelegenheiten

»Und was heißt das für uns? Bitte eine verständliche Erklärung, Lars!«, forderte Berger ungeduldig.

»Das heißt, dass die Banken verpflichtet werden können, Auskünfte zu erteilen, wenn die Polizei oder eine richterliche Behörde bei Kenntnis eines Straftatbestandes die Eröffnung einer Strafverfolgung anstreben. Sie müssen uns also mitteilen, wer Kontoinhaber ist und an wen das Geld überwiesen wurde. Wir haben es hier nicht mit einem lapidaren Steuervergehen zu tun. In unserem Fall geht es um Erpressung, um Freiheitsberaubung, um Mord, um zwei schwerverletzte Personen, um eine vermisste Person und um Sachbeschädigung eines historischen Gebäudes«, fasste Paulsen die relevanten Tatsachen zusammen. »Das muss doch wohl ausreichen, um weitere Auskünfte zu erzwingen!«

Berger blätterte erneut die Gästeliste durch. »Ich bin äußerst gespannt. Meines Wissens nach ist ein Schweizer Nummernkonto ein Bankkonto, bei dem der Name des Bankkunden durch ein Kennwort ersetzt wird.«

»Es muss doch trotzdem eine Identifizierung des Kunden zu einem bestimmten Konto geben«, widersprach Paulsen. »Irgendjemand muss doch wissen, wem welches Konto gehört. Mir ist schon klar, dass auf Bankbelegen und Kontoauszügen keine Namen stehen, sondern nur Nummern. Am besten wir überweisen auch eine kleine Summe auf das Konto, das wird am einfachsten sein. Zehn Euro privat auf das Schweizer Nummernkonto und dann schauen wir mal weiter«, schlug Paulsen seinem Kollegen vor.

»Ja, sehr gute Idee. Wie das alles funktioniert, musst du herausfinden, Lars. In Deutschland sind Nummernkonten ja verboten. Ich habe den Eindruck, du steckst schon gut in der Materie drin. Du bekommst das bestimmt heraus.« Berger lachte und wusste natürlich, was für eine schwere Aufgabe er seinem Kollegen aufgebürdet hatte. »Wenn noch nicht veranlasst, geben wir eine Fahndung nach Jan Wilke raus. Wir müssen auch unbedingt erfahren, wer die tote Frau ist. Zahnstatus, DNA und so weiter. Das kann doch nicht so schwer sein! Die ist doch nicht namenlos vom Himmel gefallen und saß plötzlich in Reihe fünf auf Jan Wilkes Sessel«, erklärte Berger seinem Kollegen mit einem sarkastischen Unterton. »Machen wir uns an die Arbeit!«

Kapitel 8

Ich wäre gern abends mal so müde wie morgens, hatte Berger um sechs Uhr auf dem Abrisskalender in seiner Küche gelesen. ›Was für ein passender Spruch‹, dachte er, als er in seinem Büro Platz nahm.

Seine Sekretärin kündigte ihm eine junge Frau an, die ihn unbedingt sprechen wollte.

›Hoffentlich nicht schon wieder eine Vermisstenanzeige‹, dachte er. »Guten Morgen, Hauptkommissar Thomas Berger«, stellte er sich vor und reichte der jungen Frau die Hand.

»Guten Morgen, mein Name ist Sandra Rethel.« Die sportliche Frau in kurzem Jeansrock und hellem T-Shirt legte ihren kleinen Rucksack ab und setzte sich ohne Aufforderung an den Besuchertisch in Bergers Büro. Sie hatte kurze, dunkle Haare, die zu ihrem sehr burschikosen Auftritt passten.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Rethel?«

Die junge Dame senkte ihren Kopf. »Ich habe heute Morgen in der Schweriner Volkszeitung gelesen, dass eine Frau bei diesem schrecklichen Anschlag im Theater ums Leben gekommen ist.« Sie wurde plötzlich rot im Gesicht und begann zu zittern. »Ich habe solche Angst, dass es meine Freundin Caroline ist.«

»Wie kommen Sie darauf?« Berger wurde hellhörig und war erfreut, dass die Vermisstenanzeige mit großer Wahrscheinlichkeit jetzt einen ersten Ermittlungserfolg liefern würde.

Sandra Rethel putzte ihre Nase und versuchte, sich zu beruhigen. »Es muss meine Caroline sein. Ich erreiche sie nicht, weder auf ihrem Handy, noch auf ihrer Arbeit. Seit dem Abend, an dem sie ins Theater wollte, hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich will es nicht wahrhaben, dass es Caro ist. Aber sie muss es sein«, redete sie sich mehrfach ein. »So viele Zufälle gibt es doch nicht, oder?«

»Erzählen Sie bitte weiter, Frau Rethel!«, ermutigte Berger sie.

»Caroline und ich waren Mittwochnachmittag im Fitnessstudio im Belasso in Krebsförden. Dann erhielt sie in der Umkleide einen Anruf. Ich hörte nur, wie sie sagte: ›Ja, okay. Das ist toll. Ich gehe hin. Dankeschön.‹ Dann beendete sie das Gespräch und hatte es echt eilig. Sie wolle sich noch aufbrezeln, sagte sie mir.«

Berger guckte die Dame an: »Hat sie gesagt, dass sie ins Theater will?« Er überlegte, ob Frau Rethel und Caroline vielleicht ein Paar sein könnten.

»Ja. Ich habe Caro gefragt und sie meinte, sie wolle ins Theater gehen. Dort fände eine Gala statt, weil das Schweriner Residenzensemble zum Welterbe ausgerufen werden soll.«

»Wollte sie dort allein hin oder in Begleitung?«

»Das weiß ich nicht. Aber wenn sie sich, wie sie sagte, aufbrezeln wollte, vermute ich mal, dass sie nicht vorhatte, dort allein hinzugehen.«

»Wo arbeitet denn ihre Freundin Caro?«

»Sie ist die Assistentin eines Architekten in Schwerin.«

»Beim Architekten Jan Wilke?«, schoss es aus Berger wie aus der Pistole heraus.

»Ja, genau. So heißt er.«

Berger war fassungslos. Er ging ins Vorzimmer und bat seine Sekretärin darum, sofort Lars Paulsen in sein Büro zu schicken. Ein paar Minuten später stand sein Kollege vor ihm. »Lars Paulsen, mein Kollege. Und das ist Sandra Rethel. Eine wichtige Zeugin in unserem Fall«, machte er beide miteinander bekannt. »Frau Rethel vermisst ihre Freundin, die Jan Wilkes Assistentin ist. Sie war an dem besagten Abend vermutlich im Theater und ist mit großer Wahrscheinlichkeit …« Berger zögerte und verschluckte den Rest des Satzes mit Blick auf Rethel.

Die begriff in dem Moment, in dem sie selbst laut ergänzte: »… das weibliche Opfer. – Meinen Sie wirklich, Herr Berger?« Sandra Rethel schluchzte laut los.

»Hat Caroline – Wie heißt sie weiter? – keine Verwandten in Schwerin?«

»Sie heißt Holm. Ihre Eltern wohnen in Donaueschingen im Schwarzwald. Ihr Bruder arbeitet in der Schweiz. Die Familie ist zerstritten. Es ging ums Erbe, ein Testament, um sehr viel Geld. Caroline hat keinen Kontakt zu ihnen.«

»Frau Rethel, wir müssen die Familienangehörigen ausfindig machen … oder würden Sie sich zutrauen …?«, setzte Berger vorsichtig die Frage an.

»Nein, bitte nicht. Verlangen Sie nicht, dass ich Caro identifizieren soll. Das mache ich keinesfalls«, flehte sie.

»Vielleicht finden wir eine andere Möglichkeit«, mischte sich Paulsen ein.

»Es reicht doch, wenn Sie eine DNA-Probe machen! Das sehe ich jeden Sonntag im ›Tatort‹«, schlug sie vor, um Bergers Bitte zu umgehen.

»So einfach ist der Abgleich nicht. Frau Holm ist vermutlich nicht wegen einer Straftat in unserer Datenbank registriert.«

»Aber man kann doch mit einem Zahnstatus auch herausbekommen, wer die tote Frau ist. Caro hat die gleiche Zahnärztin wie ich. Soll ich Ihnen den Namen geben?«

Berger bemerkte, hier saß eine Krimi-Expertin vor ihm.

»Oder noch besser, Herr Berger. Ich habe etwas zu Hause, wovon Sie DNA-Spuren nehmen können!«

Der leitende Kommissar staunte, wie hilfsbereit und aufgeschlossen die junge Frau war, um herauszubekommen, ob es sich bei der Verstorbenen tatsächlich um ihre Freundin Caroline Holm handelte. »Was haben Sie denn als Nachweis?«

»Ich habe Caros Sauna-Tuch. Sie ist an dem Tag so schnell nach Hause geeilt. Da hat sie das Handtuch in der Umkleide liegen lassen. Ich habe es mitgenommen. Heute Abend wollte ich es eigentlich mit meinen Handtüchern mitwaschen. Dann hätte ich ihr das saubere Handtuch beim nächsten Sauna-Besuch zurückgegeben. Aber das ist ja …« Sie fing wieder an zu weinen.

»Frau Rethel, wir könnten das Handtuch bei Ihnen sofort abholen oder uns auch Zutritt zur Wohnung oder zum Büro von Frau Holm verschaffen. Auch über die Zahnärztin wäre ein Abgleich möglich. Aber das Handtuch ihrer Freundin würde uns am schnellsten bei unseren Ermittlungen weiterhelfen.«

»Ja, ich gebe es Ihnen sofort. Dann muss ich nicht in die Rechtsmedizin, oder? Liegt Caro da in einem Kühlfach?«

»Ja, sie ist noch in der Rechtsmedizin. Ich denke, das Saunatuch reicht uns erst einmal aus«, beruhigte Paulsen sie.

»Frau Rethel, ich muss Sie noch etwas fragen.« Berger wartete die Reaktion auf seinen Satz ab.

»Ja, fragen Sie ruhig! Es geht gleich wieder.« Sie schnäuzte noch einmal kräftig in ihr Taschentuch.

»Wenn die tote Frau Ihre Caro ist, haben Sie sich bestimmt auch vertrauliche Dinge erzählt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ist Frau Holm Ihre Lebensgefährtin?«

»Nein.«

»Könnte es sein, dass Ihre Freundin ein Verhältnis mit ihrem Chef, dem Architekten Jan Wilke, hatte?«

»Warum fragen Sie mich das? Sie können ihn doch selbst fragen. Ich möchte nichts Falsches sagen.«

»Herr Wilke ist leider spurlos verschwunden«, erklärte Berger.

»Was? Der Wilke ist weg?«, fragte die Frau sichtlich überrascht.

»Ja.«

»Nein, ich glaube nicht, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Er ist verheiratet. Ich glaube aber, dass Caro ihn angehimmelt hat. Er war immer sehr nett und zuvorkommend zu ihr. Und attraktiv ist er auch. Ich habe ihn einmal gesehen, als ich Caro zur Mittagspause aus ihrem Büro abgeholt habe. Vielleicht hat er ja am Mittwoch angerufen und sie ins Theater eingeladen?«, kombinierte sie das aufgeregte Verhalten ihrer Freundin nach dem mitgehörten Anruf.

»Mag sein«, antwortete Berger. »Lars, würdest du bitte Frau Rethel nach Hause fahren, das Handtuch mitbringen und gleich bei den Kollegen der Spurensicherung abgeben? Wir benötigen dringend einen DNA-Abgleich. Ich bin zu neunundneunzig Prozent sicher, dass das Opfer Caroline Holm ist. Ich mache mich jetzt auf den Weg zu Frau Wilke.« Berger stand auf. »Vielen Dank, Frau Rethel, Sie haben uns sehr geholfen und uns wichtige Hinweise geliefert. Ganz lieben Dank und mein herzliches Beileid, dass Sie vermutlich Ihre beste Freundin auf so tragische Weise verloren haben. Wenn wir die absolute Gewissheit haben, melden wir uns bei Ihnen noch einmal.«

Sandra Rethel und Lars Paulsen verließen gemeinsam das Büro.

Thomas Berger machte sich auf den Weg zu Verena Wilke. Die Neuigkeiten wollte er ihr persönlich mitteilen, um ihre Reaktion von Angesicht zu Angesicht mitzubekommen.

Kapitel 9

Hauptkommissar Thomas Berger klingelte eine halbe Stunde später an der Wohnungstür der Wilkes. Da sich nichts tat, aber ein Auto mit dem SloganIhre Goldschmiedin mit ganz viel Herz und Engagement vor der Tür stand, ging er ums Haus herum und entdeckte dort Verena Wilke bei ihrer Arbeit. Berger klopfte vorsichtig an die Fensterscheibe des kleinen Ateliers. »Hallo, Frau Wilke, darf ich reinkommen?«

Sie fuhr zusammen, als sie ihn erblickte. »Oh, Gott, Herr Hauptkommissar! Jetzt haben Sie mich aber erschreckt.« Wilke legte ihr filigranes Werkzeug und einen silbernen Armreif vorsichtig auf dem Arbeitstisch direkt unter einer kleinen Arbeitslampe ab. »Kommen Sie doch rein, Herr Hauptkommissar!«, forderte sie ihn freundlich auf.

Der Herr Hauptkommissar trat ein und schaute sich flüchtig um.

»Gibt es etwas Neues, Herr Hauptkommissar? Haben Sie meinen Mann gefunden?« Verena Wilke sprach schnell und mit hoher Stimme.

»Nein, wir haben ihn bisher nicht gefunden. Es gibt aber dennoch Neuigkeiten.«

»Ja, was denn?« Wilke stand regungslos da und war gespannt, was ihr Besucher berichten würde.

»Heute hat sich eine junge Frau gemeldet, die ihre Freundin vermisst. Diese Freundin ist letzten Mittwoch ins Theater gegangen und ist vermutlich diejenige, die durch die Explosion ums Leben gekommen ist.«

»Das ist ja schlimm. Aber warum erzählen Sie mir das?«, entgegnete sie und hob dabei ihre Schultern fragend in die Höhe.

Berger sammelte sich kurz, um nichts Falsches zu sagen: »Ich erzähle Ihnen das, weil vermutlich diese verstorbene junge Frau die Assistentin Ihres Mannes war. Wir benötigen nur noch einen DNA-Abgleich zur Bestätigung.«

»Wie bitte? Caroline Holm ist die tote Frau aus dem Theater? Das kann doch nicht sein. Wo ist denn mein Mann? Die beiden waren zusammen im Theater? Das glaube ich jetzt nicht.«

»Weitere Details kennen wir noch nicht, Frau Wilke. Vielleicht waren sie zusammen im Theater? Vielleicht war ihr Mann aber gar nicht dort und nur Frau Holm allein? Wir sind immer noch beim Abgleichen der Gästelisten, wer genau auf welchem Platz gesessen hat. Mein Kollege konnte vor ein paar Minuten einen der verletzten Männer im Klinikum befragen, wie die Frau im Theater aussah, die neben ihm gesessen hat. Die Beschreibung trifft auf die Assistentin Ihres Mannes zu.«

»Hat der Befragte auch meinen Mann irgendwo in der Nähe gesehen?«

»Das konnten wir bisher nicht ermitteln«, erklärte Berger.

»Frau Holm ist ja eine sehr attraktive Frau. Meinen Sie, mein Mann und Frau Holm haben …«, sie verbesserte sich schnell, »… hatten ein Verhältnis?«

Berger war erleichtert, dass Wilke selbst die Frage aufgeworfen hatte. »Wir wissen es nicht. Ich habe diesen Fakt auch erst bedacht, nachdem eine Freundin von Caroline Holm bei mir in der Polizeiinspektion war.«

»Können Sie mir bitte die Telefonnummer der Freundin geben?«, bat Verena Wilke.

»Nein, das darf ich aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht. Ich kann aber Frau Rethel fragen, ob ich Ihnen ihre Handynummer übermitteln kann.«

»Oder sagen Sie doch bitte Frau Rethel, dass ich sie gern sprechen würde und geben Sie ihr einfach meine Telefonnummer.« Sie holte eine Visitenkarte aus dem Regal ihrer Werkstatt.

»Danke, Frau Wilke. Aber Sie hatten mir schon eine Ihrer Karten gegeben, als Sie die Vermisstenanzeige bei mir aufgegeben haben.«

»Ja, stimmt.« Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Herr Hauptkommissar, wissen Sie, was mich traurig macht? Warum war mein Mann mit Caroline Holm im Theater und nicht mit mir? Da stimmt doch irgendetwas nicht. Mein Mann hat mich immer zu Events mitgenommen. Nur diesmal nicht. Und jetzt ist seine Assistentin tot und er spurlos verschwunden …«

Berger wollte die Frau nicht in ihrem Schmerz allein lassen und wechselte schnell das Thema. »Das ist aber eine schöne Werkstatt, Frau Wilke. Ich bewundere Ihre handwerklichen Fähigkeiten.« Dabei schaute er sich aufrichtig interessiert um.

»Ja, das Goldschmiede-Handwerk gehört zu den ältesten Gewerben der Welt. Ich habe den kleinen Traditionsbetrieb in nunmehr vierter Generation übernommen. Wir haben keine Kinder und daher wird das Juwelier-Geschäft wohl oder übel mit mir auslaufen. Ich habe auch schon versucht, eine Auszubildende oder einen Auszubildenden zu bekommen. Aber das Interesse der jungen Frauen oder Männer scheint hinsichtlich dieses Berufes nicht so groß zu sein.«

»Das ist ja schade«, bedauerte Berger.

»Ich liebe meinen Beruf. Individuelle Schmuckstücke sind mein Steckenpferd. Jedes Teil sieht anders aus. Keine maschinell hergestellte Ware. Ich arbeite genau nach den Wünschen meiner Kunden. Das macht mir Freude und erfüllt mich.«

»Das glaube ich Ihnen, Frau Wilke.« Berger sah, dass er sie wieder auf andere Gedanken gebracht hatte. »Der Armreif, den Sie gerade in den Händen hatten, ist auch sehr, sehr schön.«

»Vielen Dank, Herr Hauptkommissar.« Sie lächelte ein wenig. Berger wollte gerade entgegnen, dass sie seinen Rang in der Anrede nicht ständig benutzen müsse, da fuhr sie fast gedankenversunken fort: »Herr Hauptkommissar, mein Mann und ich … wir lieben uns. Er hat kein Verhältnis mit Frau Holm. Niemals! Das können Sie mir glauben! … Oder denken Sie, er ist einfach untergetaucht und abgehauen?«

»Ich glaube Ihnen, Frau Wilke«, antwortete Berger. Was er aber dachte, war, dass er schon viele Ehepaare kennengelernt hatte, deren äußeres Erscheinungsbild nicht den wirklichen Tatsachen entsprochen hatte.

»Sie glauben mir nicht, Herr Hauptkommissar«, zweifelte Verena Wilke die Antwort des Kommissars an.

Berger schaute ihr direkt in die Augen: »Dann sagen wir mal so, Frau Wilke, ich hoffe, dass Sie recht haben. Daran glaube ich.«

»Das ist eine ehrliche Antwort, Herr Hauptkommissar.«

»So, Frau Wilke, ich muss wieder los. Wir arbeiten mit Hochdruck an der Suche nach Ihrem Mann.«

»Ja. Sie werden ihn bestimmt finden. Vielen Dank, dass Sie bei mir waren. Vielen Dank!«

Verena Wilke verabschiedete Thomas Berger, setzte sich an ihren Arbeitsplatz und begutachtete den silbernen Armreif, der kurz vor der Fertigstellung stand.

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