Buch lesen: «Mörderisches Schwerin», Seite 2

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Kapitel 4

Zunächst hieß es für Berger und Paulsen weiterhin Ruhe zu bewahren und abzuwarten. Auch wenn es ihnen schwerfiel. Niemand wusste, was in den nächsten Minuten passieren würde. Ärzte, Sanitäter, Bereitschaftspolizisten und hunderte von Menschen, die sich an den Absperrungen aufhielten, gerieten in Aufruhr. Personen, vermutlich Angehörige der Gäste im Theater, hatten sich eingefunden, um vor Ort genauestens informiert zu sein. Sie wollten ihre Lieben bald unbeschadet in die Arme nehmen. Berger saß wie angewurzelt auf seinem Sitz im Dienstwagen und verkrampfte seine feuchten Hände am Lenkrad. Paulsen trank einen Schluck Wasser nach dem anderen. Sie beobachteten die Präzisionsschützen auf dem Museumsdach, die regungslos durch ihre Zielfernrohre den Theaterhaupteingang anvisierten. Vorerst tat sich nichts. Auch im Einsatzwagen des SEK-Chefs herrschte Stille. Es waren keine Maßnahmen zu verzeichnen. Alle warteten auf Informationen aus dem Gebäude.

Das SEK durchlief schnellstmöglich das Schweriner Theater. Lagepläne, die in den Köpfen der Männer abgespeichert waren, wurden im Eiltempo systematisch abgearbeitet. Die Beamten erhielten über ihre Headsets im Sekundentakt Informationen zur Gesamtlage vor Ort.

Plötzlich liefen mehrere Ärzte und Sanitäter mit Tragen und Rucksäcken zum Theatereingang. Sie wurden dort von Beamten des SEK erwartet und hineingelassen. Die Präzisionsschützen auf dem Dach standen auf, packten ihre Gewehre in Waffenkoffer und zogen sich unbemerkt zurück. Die Lage schien sich allmählich zu entspannen.

Erste Informationen des SEK und der Personenschützer der Ministerpräsidentin und des Innenministers, die als Begleitung ebenfalls unter den Gästen weilten, gelangten ins Lagezentrum des Innenministeriums und zu den Einsatzkräften der Schweriner Polizei.

Berger und Paulsen hörten den Bericht der Einsatzführung in ihrem Dienstwagen: »Die Lage im Theater ist unter Kontrolle. Es wurden keine verdächtigen Zielpersonen ausfindig gemacht. Zwei Explosionen wurden registriert. Eine Explosion ohne verletzte Personen in einer Herrentoilette. Die zweite im Zuschauerraum. Wir haben ein weibliches Todesopfer und zwei schwer verletzte männliche Opfer feststellen können. Des Weiteren gibt es mehrere Personen, die unter Schock stehen und sich nicht bewegen können. Das Sprengstoffkommando hat seine Arbeit aufgenommen. Es konnten durch die Suchhunde bisher keine weiteren Sprengstoffkörper gefunden werden. Die Stimmung unter den Gästen ist äußerst angespannt. Die Schutzpersonen der Ministerpräsidentin und des Innenministers sind unverletzt. Die Freilassung aller Personen erfolgt in Kürze. Der Einsatz des SEK ist vorerst beendet. Der Katastrophendienst kann mit seiner Arbeit unverzüglich beginnen.«

»… keine verdächtigen Personen im Theater?«, stutzte Berger. »Das kann doch nicht sein. Irgendwo muss doch jemand sein, dem wir diese Tragödie zu verdanken haben.« Er schrieb seiner Frau schnell eine Kurznachricht: Alles okay mit mir, die Lage im Theater ist unter Kontrolle. Bis später. Kuss Thomas.

Paulsen schraubte seine leere Wasserflasche zu. »Dann ist das alles von außen inszeniert worden! Unsere Arbeit kann endlich beginnen. Wir haben eine tote Frau. Ich ruf unseren Rechtsmediziner an. Wer weiß, was von ihr noch übrig geblieben ist. Bestimmt kein schöner Anblick. Das wird wieder ein harter Job für unseren Doktor!«

»Die Seelsorger bekommen auch ordentlich zu tun«, erwiderte Berger. Er sah, wie die wartende Menge hinter den Absperrungen immer unruhiger wurde und teilweise um Durchlass flehte. Sie hatte mitbekommen, dass das SEK abfuhr und die akute Gefahr vermutlich vorüber war. Selbst ein Polizeihubschrauber, der seit längerer Zeit über dem Alten Garten kreiste, drehte ab und flog in Richtung Norden davon. Der Polizeisprecher wurde von Medienvertretern umzingelt und mit Fragen bombardiert, die er vorerst nicht beantworten konnte. Die Absperrung zur aufgewühlten Menschengruppe wurde nicht aufgehoben. Die Bürgerinnen und Bürger wurden freundlich gebeten, sich weiter an die Anweisungen der Polizei zu halten, um nicht bei den weiteren Ermittlungsarbeiten zu stören.

Endlich öffneten sich die drei großen, in klassizistischem Stil erbauten Eingangstore des Theaters. Eine Menschenmasse auf der Flucht in die Freiheit. Einige Personen rannten, andere bewegten sich langsam und monoton in der Masse mit. Jedem war der Schreck ins Gesicht geschrieben. Ein Reporter wollte erste Interviews aufzeichnen. Die noch unter Schock stehenden Menschen wiesen den Mann kopfschüttelnd und mit eindeutig zu verstehenden Handbewegungen ab. Jeder wollte den Theaterbereich umgehend verlassen. Erste Menschen durchbrachen nun doch die Absperrung und liefen auf ihre Angehörigen zu. Sie nahmen sich in die Arme, Tränen der Erleichterung liefen vielen über die Wangen. Einige Menschen waren unfähig zu sprechen und atmeten tief durch.

Eine Frau hatte deutliche Flecken im Schrittbereich ihres Kleides. Sie hatte ihren Urin in Stunden von Todesangst nicht halten können. Sie ging mit kleinen Schritten aufgrund des enggeschnittenen Kleides, am liebsten wäre sie wahrscheinlich eher davongelaufen. Es war ihr sichtlich peinlich. Ihrem Mann schien das egal zu sein. Er war erleichtert, dass beide das Theater lebend verlassen hatten. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und gab ihr liebevoll Halt. Blass im Gesicht senkte er kraftlos seinen Kopf, als er die Medienvertreter mit ihren Kameras sah. Es spielten sich herzzerreißende Szenen ab, als hätten sich einige Menschen jahrelang nicht gesehen.

Ministerinnen und Minister der Landesregierung versammelten sich rechts neben dem Theater und werteten die Tragödie kopfschüttelnd aus. Sie nahmen sich in die Arme. Man diskutierte, ob es einen terroristischen Hintergrund gäbe oder wer auf so eine abartige Idee gekommen war, jemanden mit einer Bombe zu töten und viele weitere Menschenleben zu riskieren. Sie bedauerten zutiefst, dass man der jungen Frau nicht hatte helfen können und sie durch die Detonation ums Leben gekommen war.

Ein wunderschöner Abend in der Schweriner Landeshauptstadt war zu einem unvorstellbaren Drama geworden. Schwerin auf dem Weg zum Weltkulturerbe. Es wurde eine Nacht, die die Bevölkerung niemals vergessen würde.

Ganz abgesehen von den materiellen Schäden, die von Architekten und Bauingenieuren später inspiziert werden mussten, konnte Hauptkommissar Berger sich nicht vorstellen, dass irgendjemand in Kürze das Theater, das durch dieses Verbrechen in Verruf geraten war, freiwillig betreten würde.

Berger und Paulsen saßen immer noch in ihrem Auto und warteten geduldig ab, bis die letzten Gäste das Theater im Beisein der Sanitäter, Ärzte oder Psychologen verlassen hatten. Nun begann die polizeiliche Ermittlungsarbeit. Spurensicherer, Rechtsmediziner, Sprengstoffermittler – es betraten fast so viele Menschen das Gebäude, wie vor einer halben Stunde herausgekommen waren. Nur war Bergers und Paulsens Motivation eine deutlich andere. Sie wollten schnellstmöglich herauszufinden, wer diese Tragödie zu verantworten hatte.

Kapitel 5

»Sie sind Hauptkommissar Thomas Berger, nicht wahr?«, fragte Verena Wilke. Sie beobachtete genau, wie der Polizist sein gerade eingeparktes Fahrzeug vor der Dienststelle abschloss. Durch Zufall hatte sie genau den Mann getroffen, den sie gesucht hatte.

»Ja, das bin ich«, erwiderte Berger etwas unwillig. Er war müde, da er nur ein paar Stunden geschlafen hatte. Der Polizeieinsatz am Theater hatte noch bis in die frühen Morgenstunden gedauert. Die Hitze der Nacht ließ ihn danach auch nicht in einen erholsamen Schlaf fallen. »Woher kennen Sie meinen Namen?«

Die attraktive, elegant gekleidete Frau, schätzungsweise Ende vierzig, blickte ihn an. »Ich kenne Sie aus der Schweriner Volkszeitung. Sie sind Hauptkommissar und haben schon ziemlich viele Fälle erfolgreich gelöst.«

Berger fühlte sich geschmeichelt. So ein Lob am frühen Morgen tat gut. »Haben Sie auf mich gewartet oder ist das Zufall?«, fragte er noch immer irritiert, aber gleich etwas freundlicher.

»Ich wollte zu Ihnen kommen.«

»Was möchten Sie denn von mir?«

»Ich möchte gern eine Anzeige aufgeben.«

»Das können Sie gern machen. Kommen Sie bitte mit! Ich zeige Ihnen, wo ein Beamter Ihre Anzeige aufnimmt.« Berger wies grob den Weg zum Haupteingang.

»Ich möchte die Anzeige aber gern bei Ihnen aufgeben. Wäre das möglich?«

»Um was handelt es sich denn, Frau …?«

»Wilke. Mein Name ist Verena Wilke. Ich möchte gern eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Frau Wilke, warum möchten Sie die Vermisstenanzeige denn unbedingt bei mir aufgeben?«, hakte Berger nach.

»Weil ich nur Ihnen vertraue«, antworte sie mit gesenktem Kopf.

»Na, dann kommen Sie! Ich mache einmal eine Ausnahme. Ansonsten bin ich dafür nicht zuständig. Das bearbeiten andere, auch sehr kompetente Kolleginnen und Kollegen.« Berger hielt ihr die Tür des Gebäudes auf.

»Dankeschön, Herr Hauptkommissar.«

Sie gingen schweigend durch das Gebäude. Wenn Kollegen entgegenkamen, rutschte ihm ein leises »Guten Morgen« heraus. Dies wurde meistens kopfnickend erwidert.

»Dann nehmen Sie bitte Platz, Frau Wilke!« Berger schob ihr einen Stuhl entgegen. Seinen Rechner fuhr er noch nicht hoch. Er wollte erst einmal die Anzeige aufnehmen und dann wie gewöhnlich in den Tag starten. »Erst einmal benötige ich Ihren vollständigen Namen, Geburtsdatum und Wohnanschrift. Verena ist Ihr Vorname, so sagten Sie, nicht wahr?«

»Ja. Verena ist mein Vorname. Ich wurde am 17. September 1966 geboren und wohne in der Möwenburgstraße 18 in Schwerin.«

»Das ist eine schöne Wohngegend, da zwischen Ziegelinnen- und Ziegelaußensee. Und mein Lieblingsrestaurant – das China-Japan Restaurant No. 1 – gleich gegenüber, stimmt’s?«

»Ja. Da gehen wir oft abends Sushi essen. Die Maki-Sushi mit Lachs sind unfassbar lecker.«

»Entschuldigen Sie, ich wollte Sie keinesfalls unterbrechen!« Berger schaute sie an.

»Kein Problem, Herr Hauptkommissar. Ich vermisse meinen Mann seit gestern«, sagte sie traurig. »Meine Freundin Dörte hat mir geraten, gleich zur Polizei zu gehen. Ich war die ganze Nacht wach und habe kein Auge zubekommen. Mein Mann Jan war gestern zu einem Event im Schweriner Theater eingeladen und ist von dort nicht nach Hause gekommen.«

Berger sah, dass sie gleich beginnen würde zu weinen. »Wirklich?« Er war überrascht und wurde hellhörig. »Er war bei dieser Tragödie gestern dabei?«

Wilke holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Ja. Er ist Architekt und war anlässlich der Welterbe-Veranstaltung ins Theater eingeladen worden. Ich war morgens noch sauer auf den Veranstalter, weil die Einladung nur für meinen Mann galt. Sonst durfte ich ihn immer zu derartigen Anlässen begleiten.«

»Er ist also bei der Gala im Theater gewesen und seitdem vermissen Sie Ihren Mann?«

»Ja!« Sie schluchzte los. »Ich liebe meinen Mann und kann mir das überhaupt nicht erklären. Ich habe gestern laufend bei der Polizei angerufen. Aber die Leitungen waren ständig besetzt.«

»Ja, das war eine absolute Ausnahmesituation. Eine Katastrophe für unsere Stadt. Sämtliche Medien in Schwerin und deutschlandweit berichten darüber. Aber fahren Sie fort, bitte weiter!«

»Ich habe dann meine Freundin Dörte angerufen. Wir sind nachts noch zum Klinikum gefahren und haben nachgefragt, ob mein Mann aufgenommen wurde. Nichts. Jan wurde weder dort eingeliefert noch ärztlich behandelt, wurde mir versichert. Jedenfalls nicht in Schwerin.«

»Es gab zwei schwer verletzte Männer, aber deren Identität ist geklärt. Jan Wilke heißt keiner von beiden.«

»Ja, aber wo ist denn mein Mann? Kann es sein, dass er einen Schock hat und vielleicht orientierungslos durch die Gegend irrt?«

»Das ist möglich. Ich werde das gleich prüfen, das verspreche ich Ihnen.« Berger lächelte sie mitfühlend an – mit genau dem Lächeln und seiner charmanten Art, die viele Frauen anziehend fanden.

»Geben Sie jetzt eine Vermisstenanzeige heraus? Benötigen Sie ein Foto? Ich habe alles dabei.« Sie kramte ihr Smartphone heraus und wischte auf dem Display hektisch hin und her. »Hier. Das ist ein aktuelles Foto vom vergangenen Wochenende. Da haben wir mit meiner Freundin Dörte und ihrer Tochter bei uns zu Hause im Garten gegrillt.«

»Frau Wilke, wir müssen leider noch etwas abwarten. Vielleicht ist ihr Mann ja schon zu Hause, während Sie hier bei mir sind?«

»Nein, auf keinen Fall. Ich habe ihm ein paar Nachrichten geschrieben und zu Hause einen Zettel hinterlassen und ihn gebeten, sich sofort bei mir zu melden.«

»Wir müssen trotzdem noch etwas Zeit verstreichen lassen. Ihr Mann ist volljährig und kann sich aufhalten, wo er möchte. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch …« Berger rutschte auf seinem Stuhl nervös hin und her.

»Und wenn er mit einem Schock irgendwo gestürzt ist und Hilfe benötigt? Bitte, Herr Hauptkommissar, es muss ihm was zugestoßen sein!« Die Frau war zwischenzeitlich aufgestanden und lief mittlerweile hektisch in Bergers Büro auf und ab. »Genau deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Ich dachte, Sie könnten mir helfen. Ansonsten hätte ich auch eine Anzeige bei der Polizei im Internet aufgeben können. Sie haben doch bisher schon so viele Fälle gelöst!«

»Ja, aber …«

Sie stand nun vor Berger und sah ihm tief in die Augen. »Bitte, Herr Hauptkommissar! Ich flehe Sie an. Finden Sie meinen Mann Jan!«

Ihn begann die Förmlichkeit in der Anrede »Herr Hauptkommissar« langsam auf den Geist zu gehen. »Frau Wilke, ich werde sehen, was ich machen kann. Sie haben ja recht, es war gestern eine Ausnahmesituation und vielleicht ist ihm doch etwas im Nachhinein passiert? War er denn mit dem Auto unterwegs?«

»Das ist der nächste Punkt, Herr Hauptkommissar. Auch das wollte ich Ihnen noch unbedingt sagen. Das Auto steht nirgends am Theater. Der Audi ist verschwunden und das Handy ist ausgeschaltet. Das kenne ich von meinem Mann nicht. In seinem Büro meldet sich auch niemand. Alles sehr merkwürdig, finden Sie nicht?«

»Wie erreiche ich Sie, Frau Wilke?«

»Hier. Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte.«

Berger nahm die Karte entgegen und warf einen Blick auf die goldglänzende Schrift. »Sie sind Schmuckdesignerin?«

»Ja, gelernte Goldschmiedin – ›mit ganz viel Herz und Engagement‹«, antwortete sie stolz und lächelte.

Während sie dies sagte, fand Berger den Slogan der Handwerkerin auch auf der Rückseite ihrer Visitenkarte: Ihre Goldschmiedin mit ganz viel Herz und Engagement.

»Schauen Sie mal, Herr Hauptkommissar. Das ist unser Ehering seit 25 Jahren. Den habe ich für meinen Mann und mich selbst entworfen und angefertigt.« Sie drehte den Ring am Finger.

›Herr Hauptkommissar, Herr Hauptkommissar‹, dachte Berger, brachte aber nur ein »Wunderschön!« heraus, das der Herr Hauptkommissar immerhin ehrlich meinte. »Frau Wilke, ich kümmere mich jetzt um Ihren vermissten Mann und melde mich bei Ihnen, wenn ich etwas erfahre. Sollte Ihr Mann auftauchen, rufen Sie mich bitte gleich an!«

»Natürlich, Herr Hauptkommissar. Vielen Dank! Ich weiß, dass Sie meinen Jan finden werden. Wenn Sie ihn nicht finden, dann findet ihn auch kein anderer.« Sie reichte Berger die Hand und verließ mit einem hoffnungsvollen Lächeln dessen Büro.

Kapitel 6

»Bist du allein, Lars?«, fragte Hauptkommissar Berger erstaunt, als er Lars Paulsen Freitagabend vor seiner Haustür empfing. Er und Lea hatten seinen Kollegen und dessen Freundin Kirsten zum Abendessen eingeladen.

»Ja, Kirsten hat leider Dienst. Ihr müsst mit mir allein vorliebnehmen«, antwortete er und reichte Lea eine wunderschöne Orchidee.

»Oh, eine Tigerorchidee!«, strahlte Lea, als sie die hübsche Blume sah. »Eine exotische Schönheit unter den Orchideen. Und dann noch in meiner Lieblingsfarbe!«, stellte Lea fest und nahm ihm behutsam die gelbe Pflanze ab.

»Tigerorchidee, wie originell!«, murmelte Berger vor sich hin und war ein klein wenig eifersüchtig, als er sah, wie sehr seiner Frau die Blume gefiel.

»Tja, der Tiger verschenkt eben auch mal eine Tigerin!«, lachte Paulsen. Er war entzückt, dass seine ausgewählte Pflanze so gut bei Lea ankam und sie sogar den Namen der Orchidee kannte.

»Die duftet ja sogar«, sagte Lea, »und dann auch noch so passend zu unserem Abendessen. Schade, dass Kirsten nicht mitkommen konnte.«

Paulsen lächelte: »Ja, sie bedauert das auch sehr. Zumal wir uns so auf den ›Asiatischen Abend‹ mit euren Urlaubsfotos gefreut haben. Aber ich wollte auch nicht kurzfristig absagen. Ich hoffe, ihr entschuldigt, dass ich allein gekommen bin.«

»Na klar, dann komm mal durch ins Wohnzimmer!« Berger brachte ihn in die Wohnstube.

Paulsen staunte, als er den aufwendig dekorierten Tisch sah. »Wow, ich muss gleich ein Foto machen und es Kirsten schicken.« Einen Moment bewunderte er das Geschirr mit den Kranichmotiven und die zu Lotosblüten gefalteten Servietten, die edlen dunklen Essstäbchen und die kleinen Suppenschälchen aus hauchdünnem Porzellan.

»Lass das lieber mit dem Foto, sonst ärgert Kirsten sich nur noch mehr, dass sie arbeiten muss und nicht mit uns gemeinsam das schöne Essen genießen kann.« Berger zwinkerte Paulsen zu.

»Hast ja recht, Thomas.« Paulsen steckte sein Telefon wieder in seine Hosentasche zurück. Die beiden Männer nahmen am Tisch Platz und Lea ging in die Küche, um die Suppe zu holen.

»Thomas, unser neuer Fall hat es ganz schön in sich, oder?«, fragte Lars.

»Ja, das stimmt absolut. So etwas ist in Schwerin noch nie passiert.«

»Die ganzen Geschehnisse um die Weltkulturerbe-Gala haben mich ganz schön mitgenommen. Die Schweriner werden dieses Desaster nicht so schnell vergessen können.«

Da kam Lea mit einer köstlich duftenden Kokossuppe zurück. »Lasst es euch schmecken!« Sie nickte Thomas und Lars freundlich zu. »Bevor wir essen, möchte ich mit euch anstoßen.« Sie erhob ihr Longdrink-Glas und prostete den beiden zu.

»Das ist ein Thai-Moorgin«, erklärte Thomas. »Und es ist mein persönlicher Beitrag zum heutigen Abend: ein asiatischer, feinherber Gin-Tonic mit Minze, Ingwer und Kardamom. Prost! Das ist auch mein einziger Beitrag, um es mal so festzuhalten.« Berger lachte laut.

»Ich bin schon sehr gespannt auf eure Fotos von der Asien-Rundreise.« Lars Paulsen blickte Lea an.

Lea war eine sehr gute Gastgeberin. Sie hatte passend zum Fotoabend gekocht und dekoriert. Am liebsten hätte sie noch ein Cheongsam, das traditionelle chinesische Frauenkleid aus Satin, zu diesem besonderen Anlass angezogen. Aber Thomas hatte ihr davon abgeraten. Er war der Meinung, dann hätte Lea den beiden Gästen vorab sagen müssen, dass es einen Dresscode geben würde. Die Begründung hatte seine Frau überzeugt. Sie wollte Paulsens Freundin Kirsten, die ihr sehr sympathisch war, keinesfalls bloßstellen.

Lea brachte nach ein paar Minuten die leeren Schälchen in die Küche. »Es dauert noch einen kleinen Augenblick mit dem Nasigoreng. Ihr könnt ja noch was trinken«, rief sie laut von nebenan.

Eine gute Gelegenheit für die beiden, dienstlich zu sprechen. Es fiel den zwei Polizisten schwer, von ihrem derzeitigen Fall abzuschalten.

»Ja, das ist schon heftig. Wir müssen auf die Gästeliste des Theaters warten, um endlich herauszubekommen, wer alles vor Ort war und wer von dieser Liste wusste.« Berger mixte Paulsen nebenbei einen neuen Gin Tonic.

»Oh, nicht so schnell! Der Drink hat es ganz schön in sich.« Paulsen lachte und überlegte schon, ob Kirsten ihn später nach ihrem Dienst abholen könnte. Er würde dann sein Auto bei Berger stehen lassen und es am nächsten Tag holen.

»Ich bin gespannt, wann die Rechtsmedizin das weibliche Opfer identifiziert hat. Wir müssen so viele Sachen auswerten! An wen ist das Geld von den Gästen im Theater überwiesen worden? Wer steckt hinter diesem Züricher Konto? Warum ist in der Herrentoilette und im Zuschauerraum Sprengstoff detoniert und warum haben die Sprengstoffsuchhunde vorher nichts gefunden? Fragen über Fragen, Lars. Ich bin so ungeduldig und kann kaum die Ergebnisse abwarten.«

Lea kam in die Wohnstube zurück: »So, das ist mein Nasigoreng. Schön gelb. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel Kurkuma hinzugefügt. Schaut mal meine Hände an! Kurkuma verfärbt einfach alles. Ich hätte Handschuhe zum Schneiden der Wurzel anziehen sollen.«

Das Gericht sah lecker aus, besonders die Menge Hähnchenbrustfilet gefiel Thomas. Er sagte schmunzelnd: »Fleisch ist mein Gemüse.«

Lea musste über den häufig zitierten Buchtitel lachen. Sie überzeugte ihren Mann mit der Menüauswahl.

Berger hätte zwar lieber ein noch blutiges Rumpsteak gegessen, aber als er das Nasigoreng sah, lief auch ihm das Wasser im Munde zusammen.

Nach dem Hauptgang schaltete Berger den großen Fernseher im Wohnzimmer ein. Er hatte seinen Laptop neben sich platziert und alles für die Foto-Show vorbereitet.

»Ja, das ist der Königspalast in Bangkok. Bangkok heißt übersetzt die Stadt der Engel. Auf dem Gelände hat es so schön nach Jasmin geduftet«, schwärmte Lea, als sie das erste Foto auf dem Fernseher sah.

»Ich fand ja Koh Samui am schönsten«, warf Thomas ein. »Und besonders lustig fand ich, dass du nicht baden warst, weil unser Reiseleiter vor gefährlichen Würfelquallen gewarnt hat.« Berger lachte in Leas Richtung.

So ging es einige Zeit weiter. Thomas und Lea berichteten begeistert von ihren Erlebnissen. Ihre Reise hatte sie nicht nur nach Thailand, sondern auch nach Kambodscha und Malaysia geführt. Lea bemerkte aber, dass die Männer nicht ganz bei der Sache waren. Den Grund kannte sie nur zu gut, war sie doch nun schon einige Jahre die Frau eines Kommissars der Mordkommission.

»Das Foto ist auch schön. Die Straßenlampen in Kuala Lumpur sind alle mit Hibiskusblüten verziert. Das ist die Nationalpflanze des Landes. Wunderschön anzusehen.« Lea mochte Pflanzen und schwärmte oft von ihnen.

»Und stell dir mal vor, unser Reiseleiter in Kambodscha … der in Sihanoukville, der hat früher in Karl-Marx-Stadt studiert«, erzählte Berger beim nächsten Foto.

»Wo hat er studiert?«, fragte Lars Paulsen.

»Ach ja, du kommst ja aus Hamburg. Karl-Marx-Stadt ist heute wieder Chemnitz. Früher im Arbeiter- und Bauernstaat, zu DDR-Zeiten also, hieß die Stadt so«, erklärte Berger.

Nachdem niemand mehr einen Nachschlag wollte, räumte Lea die Teller und die Essstäbchen zusammen und kündigte nebenbei ihr abschließendes Dessert an: eine Mangocreme mit frischer Minze.

Berger kam nun zu dem Thema zurück, das ihn mehr beschäftigte als die Urlaubserinnerungen, und nutzte die kurze Abwesenheit seiner Frau, um wieder dienstlich zu werden. »Übrigens, hatte ich dir erzählt, dass heute eine Frau bei mir im Büro war? Sie hat ausnahmsweise eine Vermisstenanzeige bei mir aufgegeben. Ihr Ehemann – ein Architekt – war auch im Theater. Er ist noch nicht wieder nach Hause gekommen und sie vermisst ihn seitdem.«

»Ich höre das ganz genau, mein Schatz. Ihr seid schon wieder im Dienstmodus angekommen«, kommentierte Lea das leise Zwiegespräch der Männer, als sie mit dem Nachtisch hereinkam.

Und natürlich hatte seine Frau recht damit. Thomas prostete daraufhin seinem Kollegen und ihr zu, um sie davon abzulenken, dass seine Gedanken eigentlich am aktuellen Fall hingen. »Auf das Leben und auf uns!«

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