Buch lesen: «Christian Ludwig Attersee», Seite 5

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Hermann Nitsch und Christian Ludwig Attersee beim „6-Tage-Spiel“ auf Schloss Prinzendorf. 1998. Fotografie von Kurt-Michael Westermann

Renovierungsarbeiten im ersten Atelier Attersees im 9. Wiener Bezirk. 1964

Auch Christian hätte gerne das Seinige zum Haushaltsbudget beigetragen, allerdings war er dabei von Anfang an eher glücklos. 1958, noch als Jugendlicher, hätte er es beinahe zu einem Auftritt als Minnesänger in „Das Wirtshaus im Spessart“ gebracht, der deutschen Filmkomödie, in der Lilo Pulver in einer Hosenrolle brilliert; beinahe, denn der Cameo fiel dem Schnitt zum Opfer. Später musste dann ein Job in Linz als Kameramann für die Sportberichterstattung schnell wieder aufgegeben werden, denn das trinkfreudige Team benötigte nicht nur jemanden hinter der Kamera, sondern auch jemanden, der nüchtern hinter dem Steuer saß. Nüchternheit wäre sich womöglich, wie man in Österreich sagt, ausgegangen, doch hinderte die filmische Karriere das Fehlen eines Führerscheines. Wie so viele seiner Kollegen und Künstlerfreunde, von Walter Pichler über Hermann Nitsch bis Martin Kippenberger, erfreut sich Attersee eines Daseins ohne Fahrerlaubnis – bis heute, und man hat nicht den Eindruck, als wäre ihm das ein Manko. Der nach dem Studium angegangene Versuch, ein Messeplakat zu gestalten, scheiterte an den Auftraggebern, denen das vom Künstler ins Auge gefasste Motiv, eine Affe, deutlich missfiel. Ein medizinischer Versuch, für den er sich hergegeben hatte, missfiel wiederum dem Künstler. Zum Auspumpen des Mageninhaltes sollte der Proband einen Schlauch schlucken, der indes an der Speiseröhre haften blieb. Mit leerem Magen und verletzten Schlund wollte der Patient im Anschluss an das Experiment seinen Hunger stillen – mit einer Salzstange, der Schmerz beim Schlucken muss unbeschreiblich gewesen sein. Also hab’ ich weder mit Leichenwaschen noch als Grafiker oder als Türsteher Geld verdient. Ich hab’ mir auch nie nur zehn Schillinge von jemanden ausgeborgt, dafür war ich viel zu schüchtern. Durchgefüttert hat mich am Anfang lange die Hanni – die an ihn glaubte wie kaum jemand anderer.


Puppenkopf von Hanni Rühm. Zweite Hälfte der 1960er Jahre

Polster mit Stickereien und Applikationen von Hanni Rühm. Zweite Hälfte der 1960er Jahre

„Komm mit nach Österreich“ (WV 1994, 41–49): Es ist eine Hommage zum Abschied, was Attersee im Oktober 1965 neunfach, der Zahl der Bundesländer entsprechend, zu Papier bringt. Komm mit, sagt er, doch er selbst ist in diesem Monat zusammen mit Hanni auf dem Weg nach Berlin. Als würde damit eine Fremdheit gebannt, ist die Folge als „Führer durch Österreich für Außerirdische“ gedacht, und damit die Gäste aus dem All es glauben, ist pro Blatt jeweils einer von ihnen abgebildet. Androiden und Aliens, Humanoide, Hybride und sonstwie extraterrestrisch anmutende Wesen zeigen sich, wie sie sich vor den malerischen Kulissen, die man an der Alpenrepublik so liebt, ergehen und wie sie sich mit ausgiebig vorgezeigten Geschlechtswerkzeugen an Schönheiten zu schaffen machen, Pin-ups im Bikini oder gleich nackt, in der Almwiese sich räkelnd oder heftig Widerstand leistend gegen das Ungetüm aus einer anderen Welt. Schloss Persenbeug in Niederösterreich und das Tal der Enns in der Steiermark, ein Heuriger in Wien, das Stift Sankt Florian in Oberösterreich, der Bregenzerwald, Saalbach und das Mölltal, die unendliche Tiefebene des Burgenlandes und die kühnen Mauern des Karwendels werden Zeugen einer unheimlichen Begegnung der dritten Art. Begleitet von Texten Gerhard Rühms ist „Komm mit nach Österreich“ eine Inversion der Collagen, wie sie bisher entstanden: Fotos, Titelseiten von damals gängigen Schundheften entnommen, liefern den Fond, denen der Künstler seine skurrilen Gestalten appliziert hat – Gestalten, die changieren zwischen femininer Appetitlichkeit und insektenhaft Ekeligem; Gestalten, die in Kaseinfarben aufgebracht wurden, deren Bindemittel aus Milcheiweiß hergestellt wird, als würde abermals vom Essen die Rede sein. Für den Künstler selbst steht die neunteilige Folge ganz unter seinem Lebensthema Erotik. In der „Taulocke“, der Anthologie mit Attersee-Texten, die 1992 erschienen ist, sind Überlegungen Zum Bereich Erotik innerhalb meiner künstlerischen Tätigkeit in den 60er, 70er und 80er Jahren nachzulesen. Darin heißt es zu „Komm mit nach Österreich“: Collagen aus Science-fiction-Illustrationen, Abbildungen von nackten Mädchen aus amerikanischen Magazinen und österreichische Landschaftsfotografien aus Bildkalendern, dazu Malerei, sind die Darstellungselemente dieses Reiseführers. Ein wichtiges Teilgebiet der Abbildungen dieses Führers ist die Darstellung der Geschlechtsmerkmale außerirdischer Wesen, immerhin werden sie im Körperkontakt mit Österreicherinnen gezeigt. Auch das am Rande ein Beitrag zum ewigen Thema der Pubertätszeit: Wie schaut eigentlich die Welt der Micky Maus zwischen den Beinen aus (Taulocke 1992, 13f.).


Schutzumschlag zu Attersees „Taulocke“. Wien: Christian Brandstätter Verlag 1992


„Oberösterreich, Stift St. Florian (Komm mit nach Österreich Nr. 4)“. 1965


„Niederösterreich, die Wachau (Komm mit nach Österreich Nr. 1)“. 1965

„Komm mit nach Österreich“ ist darüber hinaus Attersees vielleicht prägnantester Beitrag zur Frage nach einer etwaigen nationalen Eigenart seiner Kunst. Wird man des Themas einmal gewahr, erkennt man die vielfältigsten Bezüge zur Topik des Österreichischen in seiner Arbeit. Dass die neunteilige Folge sich Vorlagen nimmt, die von der Tourismuswerbung kommen, ist offensichtlich: Österreich ist zuallererst das Image, das man von ihm hat und um das das Land selbst am eifrigsten bemüht ist. Österreich ist die Karte seiner Kulinarik, ist das Klischee vom Phäakischen, das schon in Goethes und Schillers Xenien am Ende des 18. Jahrhunderts besungen wird – „Mich umwohnt mit glänzendem Aug das Volk der Phajaken / Immer ist’s Sonntag, es dreht immer am Herd sich der Spieß“: Am Essen gebricht es in Attersees Motivwelt niemals. Österreich ist bis heute ganz bei sich im Sport und vor allem in seinen sportlichen Erfolgen, und auch hier liefert der Künstler genuine Beiträge zum nationalen Selbstbild. Dass die Zweimann-Schau, die er 1969 mit Walter Pichler in der Galerie nächst St. Stephan inszeniert, „Österreichs Stolz“ betitelt ist und im Jahr darauf ein Wahlplakat entsteht, in dem „ein echter Österreicher“ affichiert und angepriesen wird, versteht sich dann fast von selbst. Am einschlägigsten schließlich der Künstlername, Attersee, der viel mehr ist als ein Attribut, der ein Ort ist, ein Ort, bei dem das Topografische ins Topische übergeht.


„Steiermark, die Enns (Komm mit nach Österreich Nr. 2)“. 1965


„Kärnten, das Mölltal (Komm mit nach Österreich Nr. 5)“. 1965

Der spielerische Einsatz von Signets des Nationalen gehört zum internationalen Stil der Sechziger. Ob Jasper Johns das Star-Spangled Banner, die Flagge der USA, zum Ausgangspunkt seiner Gemälde nimmt, um die Frage zu stellen, was ein Objekt ist und was eine Fläche; ob Andy Warhol sich ganz einschwört auf die Darstellung, die Huldigung der amerikanischen Heroen, heißen sie Elvis, Marilyn und Jackie oder Coca-Cola, Campbell’s und Green Back, die Dollarnote; und ob die Who, die britische Rock-Band mit dem aggressivsten Auftritt und dem dezidiertesten Appell zum Aufruhr, in der berühmt gewordenen Fotografie von Colin Jones den Union Jack hinter sich drapieren und auch noch Jacketts aus dem Stoff der königlichen Standarte tragen: Es ist ein Kennzeichen der Pop-Kultur, wie sie die Sechziger insgesamt prägt, locker-affirmativen Umgang zu pflegen mit den Images und Unverwechselbarkeiten, den Identifikationsangeboten und Etiketten der Alltagswelt. Attersee ist immer wieder als Pop-Künstler apostrophiert worden – und er wäre der einzige, den Österreich hervorgebracht hat. Immer wieder auch hat er sich dagegen verwahrt: Die Pop-Künstler finden, ich dagegen erfinde. Und doch sind es die eigene Unverwechselbarkeit und das eigene Image, die in den Arbeiten Mitte der Sechziger ausgebildet werden, und selbstverständlich nährt sich die ureigene künstlerische Sprache, die dabei greifbar wird, von Gesten, die dem Pop zumindest ähneln. Attersees Unverwechselbarkeit besteht in einer durchaus schrillen Sprache, die koketten Umgang pflegt mit dem Trivialen, dem Populären und dem ganz Innerweltlichen eines Lebens im Präsens – gegen den Rigorismus der literarischen Wiener Gruppe, gegen den Ritualismus des Wiener Aktionismus und gegen die pure Ausgedachtheit der Wiener Schule des Phantastischen Realismus.


„Salzburg, Saalbach (Komm mit nach Österreich Nr. 6)“. 1965

„Burgenland, Neusiedlersee (Komm mit nach Österreich Nr. 7)“. 1965

Attersee findet zu künstlerischer Reife im Aufgreifen von Dingen, Formen und Vorstellungen, wie sie einer kollektiven Praxis und einem kollektiven Konsum entstammen, die sich in Geschichte und Gegenwart seines Landes entwickelt haben. Er findet zur Typik über die Topik. Dass es ganz generelle Bereiche sind, Pools des Vertrauten und Gebräuchlichen, in denen er sich bedient, gehört zur Logik der Aneignung. Es sind allgemeine, generelle, vernakuläre Erscheinungen, und sie werden gerade in dieser Selbstverständlichkeit engagiert, um sie zu atterseeisieren. Das betrifft auch die Tradition. Fünf Bedeutungsfelder hat Ernst Robert Curtius in seinem Klassiker zur abendländischen Kulturgeschichte – „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“, erstmals 1948 erschienen – abgezirkelt, bei denen man sich im Verlauf der Jahrhunderte besonders gern bedient hätte, um Metaphern zu finden, triftige Begriffe und malerische Bilder. Die fünf Felder sind: Schifffahrt, Personen, Speisen, Körperteile und Theater. Alle fünf spielen auch bei Attersee eine exquisite Rolle, und hätte Curtius noch die Tiere als weiteres Feld erwähnt, so wäre das Kompendium der artifiziellen Welt des Christian Ludwig Attersee fast schon erstellt. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Einschlägigkeit der Motivbereiche ist eine Qualität, kein Defizit; es steht vor allem für die Zeitgenossenschaft eines Künstlers in einer Realität, in der alles mit allem vernetzt ist; in der das Genie, wie Umberto Eco es einmal besonders pointierte, zu neunzig Prozent aus Transpiration und nur zu zehn Prozent aus Inspiration besteht (Eco 1984, 18); und in der die herausragende Mentalität ohnedies die Ironie darstellt, jene Originalität der Spätgeborenen, die um ihre Verstricktheiten weiß. Avant la lettre, nimmt man William Johnstons anfangs dieses Kapitels bemühte Unterscheidung, hat sich Attersee mit dem österreichischen Menschen der neuen Fasson ins Benehmen gesetzt; es ist von vornherein ein internationaler Mensch, der, eingebettet in seine regionalen Bedingtheiten, sein Ziel in der Fremdwirkung hat, sein Telos im Telegenen. Dieser internationale Mensch wird sich entsprechend um eine andere Form der Verwirklichung bemühen. Da ihn ohnedies nichts hält in Wien, schon überhaupt nicht die Aussicht auf Karriere, geht er, zusammen mit seiner Lebensgefährtin, nach Berlin.


„Tirol, Innsbruck (Komm mit nach Österreich Nr. 3)“. 1965

Diese Seite und die beiden folgenden Doppelseiten: „Komm mit nach Österreich (Ein Führer durch Österreich für außerirdische Wesen)“. 1965. Entwürfe für ein Album mit Texten von Gerhard Rühm. Collagen mit Illustriertenabbildungen, Kalenderlandschaften und Abbildungen von außerirdischen Wesen (Teilstücke von Romanheftumschlägen) auf Karton. Jeweils 27 x 26 auf 28 x 27 cm

„Vorarlberg, Bregenzer Wald (Komm mit nach Österreich Nr. 8)“. 1965


„Wien, Heuriger in Grinzing (Komm mit nach Österreich Nr. 9)“. 1965


Attersee mit einem Teller voll Speisekugeln. Mai 1966

1965–1966

„allgemein machte sich eine gewisse unruhe bei uns bemerkbar“, heißt es in Rühms Text von 1967, „eine fast beklemmende ungeduld, in wien festzusitzen. artmann hatte österreich bereits 1960 verlassen. wir fühlten uns hier abgeschnitten, auf verlorenem posten. Von wenigen abdrucken in zeitschriften und anthologien abgesehen, häuften sich unsere unpublizierten manuskripte in der schublade. wir hatten hier kaum eine chance“ (zit. n. Weibel 1997, 29). Auf Halde konnte man in der Tat überall produzieren, und so war Rühms im April 1964 in die Tat umgesetzte Entscheidung, nach Berlin zu gehen, auf ihre Art so gut wie jede andere. In der Retrospektion hat er dafür die Enge Wiens verantwortlich gemacht, das Unverständnis und die Ignoranz, all die Charakteristika kleinstädtischer Überschaubarkeit, die umso eklatanter war, als man sich die Prätention aufs Metropolitane leistete.

Doch das war es nicht allein. Was vordem das Präfix „Wiener“ trug und einem Gruppengedanken verpflichtet war, internationalisierte und individualisierte sich. Man ging seine eigenen Wege mit eigenem Plan. Ein solcher Dispens von Beschränkung, aber auch von angestammter Umgebung war der Zeit insgesamt geschuldet. Künstlerische Identität hatte man fortan mit sich allein auszumachen. Die Ästhetik der Sechziger macht durch, was der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn in seinem 1962 publizierten Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ einen „Paradigmenwechsel“ nennt. Sie wird sich fundamental verändern, und damit ist, im Grunde bis heute, kein Stein mehr auf dem anderen. In den siebziger und achtziger Jahren wird man diese prinzipielle Andersartigkeit „postmodern“ nennen, auch wenn der Begriff unzulänglich ist, weil er von einer Spätphase und damit von einer Kontinuität zum Früheren redet, jedoch nicht von einer Zäsur. Dass die künstlerischen Dinge einer neuen Idee unterliegen, nämlich was überhaupt ein Werk sein kann, kam schon zur Sprache: Ereignis, Handlung, Auftritt, Theatralik setzen sich durch – und mit ihnen die Erkenntnis, dass auch das Unverständnis eine Komponente des Spektakulären besitzt und jeder Skandal vor allem der Aufmerksamkeit dient. Kunst war stets auch eine Sache der Ökonomie gewesen, denn bei aller Anti-Haltung musste man ja immer von irgendetwas leben. Nun beginnt man zu begreifen, dass das Ökonomische Bestandteil des Ästhetischen ist – ein Mechanismus, der auch umgekehrt gilt. In keinem Fall aber steht das eine zum anderen in radikaler Andersheit.

In der Rückschau sind es vor allem zwei Vorstellungen, die der Kunst eine neue Mentalität verleihen. Zum einen gilt, was der französische Philosoph Jean-François Lyotard als „das Ende der großen Erzählungen“ beschrieben hat. Bis in die Sechziger konnten sich die künstlerischen Positionen einer Art Gesamtprojekt verpflichtet fühlen. Man arbeitete an einer großen Idee: sei es schlicht der Fortschritt der Menschheit – etwa im Futurismus und seinen konstruktivistischen Ablegern –, sei es die Emanzipation von der Verpflichtung auf Abbildung, wie in der Abstraktion, oder sei es das Ausloten der morphologischen Möglichkeiten bis in die kleinste Nuance. Gerade in Sachen Formentwicklung war um 1960 ein gewisser Erschöpfungszustand erreicht: Wenn Malerei sich als unbearbeitete Leinwand darbietet, Musik aus den Geräuschen besteht, die bei der Aufführung vom Publikum kommen, oder Literatur allein in ihrer zeichenspezifischen Grundausstattung – also im Graphem, im Buchstaben – greifbar wird, dann bedarf die Programmatik dessen, wie es weitergeht, neuer Wege. Diese Wege wurden nun zuallererst die Schneisen, die jeder für sich selbst schlug.

Kunst seit den Sechzigern ist Sache einer persönlichen Entscheidung, um nicht zu sagen: einer Selbsternennung; der Anspruch auf Verbindlichkeit wird eigenmächtig erhoben.

Zum anderen macht die Rede vom „Tod des Autors“ die Runde. Der französische Strukturalismus ist der Seismograf dieser Verwerfung: weg von der Künstlerperson hin zu seiner Wahrnehmung durch die und in der Öffentlichkeit. Man könne wetten, schrieb Michel Foucault 1966 in seinem Buch „Die Ordnung der Dinge“, das nicht zuletzt wegen dieser so verwegen klingenden Schlusszeile zum Theorie-Bestseller seiner Zeit wurde, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ (Foucault 1971, 462). Arbeit wurde ohne Autorschaft gedacht, Kunst ohne Künstler, und jenseits des Atlantiks verfügte Andy Warhol: „I want to be a machine“, auch die Conceptual-Art verkündete mit Sol LeWitt: „The idea becomes the machine that makes the art“. Eine Maschinenästhetik eigener Art: Natürlich waren dies mehr Parolen als Produktionsprämissen. Die Künstlerperson feierte bald Urstände als jene Figur, auf der dann doch alles basiert. Aber es bleibt bemerkbar, dass sich diese Person verändert hat, sie ist reflektierter geworden, ironischer vielleicht, spielerischer im Umgang mit den Rollen, die man ihr zwischen Genialität, Verkanntheit und Provokationsgesten zuteilt. Der deutsche Maler Sigmar Polke dachte sich 1968 „höhere Wesen“ aus, die „befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“ Tatsächlich trägt auf seiner Leinwand das besagte Areal Trauer; augenzwinkernd ist dargestellt, dass Kunst womöglich etwas mit Einflüsterung aus fremden Sphären zu tun hat.

Der junge Künstler, der im Oktober 1965 sein österreichisches Biotop verlässt, macht sich auf seine Weise auf zu Internationalität und Individualität. Die Veränderungen, die die Dekade fordert, finden auch in seiner Arbeit statt. Trotz aller Verwurzeltheit in den Träumen und Traditionen des Landes geht er seinen eigenen, seinen ganz eigenen Weg und emanzipiert sich von den Einflüssen seiner Frühzeit. Bald wird er sich einen speziellen Namen zulegen und seinerseits Autorschaft zum Thema machen: Attersee ist als Pseudonym, besser: als Toponym ein herausragender Beitrag zur Diskussion, wie es sie Mitte der Sechziger gibt, immer wieder wird der Künstler von sich in der dritten Person sprechen, Distanz zu sich selbst einfordern und das große, souveräne, autonome Ego in Frage stellen, das man bis dahin bei seinesgleichen voraussetzte.

Im Sommer war ich sicher auf irgendeiner Reise, dann sind die Hanni und ich auf Einladung von Gerhard Rühm nach Berlin. Wir haben Wien verlassen, und es war nicht klar, für wie lange. Ich habe meine Mappe mitgenommen, mein Lieblingsmaterial, das waren dreißig bis vierzig Ess-Abbildungen, und das Österreichbuch (damals noch nicht verlegt). Ich hatte meine ganze Kunst in dieser Mappe, die später so wichtig geworden ist, es war ja schon alles fertig. Nach der Abschlussarbeit für sein zweites Diplom an der Hochschule für angewandte Kunst – der Klasse für Glasgestaltung entsprechend mit einem achtzig Quadratmeter großen Fenster für einen Fabrikbau – hatte Christian den Sommer 1965 mit ersten Überlegungen zu einer Knossos-Rekonstruktion auf Kreta verbracht, danach folgte die Arbeit zum Österreichbuch, die im Oktober abgeschlossen war. Aufträge oder gar Ausstellungen waren nicht in Sicht. Hungern konnte man auch in Berlin, und gemeinsam mit Gerhard Rühm in dessen Zimmer in der Offenbacher Straße betrieb man das auch nach Kräften. Der Gerhard hatte eine Wohnung mit einem Max Pechstein an der Wand, aber der hat dem Hausherren gehört, sonst hat er auch nichts gehabt. Wir haben auf dem Boden geschlafen. Versilbern hätte sich der Wert an der Wand ohnehin nicht lassen, er war nämlich als Fresko ganz buchstäblich an dieser Wand – vor dem Krieg war der Raum das Atelier des Brücke-Veteranen gewesen.

Hunger war ein steter Begleiter. Jeder von den dreien musste sich seine eigene List bereithalten, um dagegen anzukämpfen. Hanni Rühm erinnert sich, dass ein Karamelllutscher manchmal die einzige Tagesration war, ihr Bruder biss sich, jedenfalls angesichts dessen, was er zu Hause vorfand, auf die Zunge – aber Christian konnte seinen Hunger visuell stillen. Ja, der Hunger spielt insofern eine Rolle, weil ich das Essen nur mit den Augen zu mir genommen habe, durch meine Fantasie. Es war eine schöne Zeit, ich habe dann immer diese Essenscollagen aufgeblättert, der Gerhard hat wahnsinnig gelitten bei all den Stelzen, dem Gulasch, der gefüllten Paprika. Außer Haus hatte Gerhard Rühm allerdings eine andere Strategie entwickelt, die ihm mitunter zu einem heimlichen Imbiss verhalf. Der Rühm hat einen Trick gehabt, er hat immer ein Lied gesungen: „In Graz, in Graz, in Graz“, und da sind die Leute aufgesprungen und haben ihm einige Pfennige gegeben. Wenn er dann 1,40 Mark oder so beisammen hatte, ist er gleich zum Hühner-Hugo und hat sich ein Hendlhaxerl dafür gekauft. Einmal hab’ ich ihn dabei erwischt, und er hat mich nicht abbeißen lassen. So etwas merkt man sich natürlich. Jahre später ist auf den Vulkanen der karibischen Insel Saint Vincent die Geschichte dann zu Ende gegangen. Und zwar folgendermaßen: Als bei einer langen Wanderung auf der Karibikinsel Hunger und Durst unerträglich wurden, fand sich als einzige Abhilfe eine Orange im Marschgepäck Attersees. Der Jüngere vergalt die seinerzeitige Not mit Großmut, auch wenn man sich über das Ausmaß der Gabe uneinig ist: Hat nun der eine dem anderen wirklich die ganze Frucht überlassen, oder war es, wie der Beschenkte behauptet, doch nur die Hälfte?

Futterneid spielte in der Freundschaft der beiden ohnedies eine untergeordnete Rolle, vielmehr verhalf der Ältere dem Neuling in der Stadt zu den ersten Kontakten im Kunstbetrieb: Fluxus war angesagt. Im Fahrwasser von Gerhard Rühm lernte Christian schnell Figuren der Szene wie Tomas Schmit, Ludwig Gosewitz oder S. D. Sauerbier kennen; Dieter Roth, der später in Wien zu einem guten Freund werden sollte, war noch nicht darunter, er weilte damals gerade in Amerika. Mit dem Rühm hab’ ich damals an so Kleintheater-Geschichten gearbeitet, eine Art Tischtheater, mehr Platz ist ja in einer Galerie nicht, also für kleines Publikum, aber das war immer nur geplant. Und man ist gereist – auf der Suche nach dem einen oder anderen Auftrag: Wir sind herumgezogen in diesem kalten Winter, wir hatten ja nichts zum Heizen. Und dann sind wir auf Reisen gegangen. Ich hatte eine dicke Mappe dabei, das waren hauptsächlich meine sogenannten „Erfindungen“, halb Collagen, halb Schautafeln. Städtereisen waren es, eine Jagd nach Kleinverlagen, damit der Gerhard etwas unterbringt.


„Attersee mit Zierbauch und Pinsel”. 1965. Collage mit Illustriertenabbildungen, regenbogenfarbenen Würfeln (Farbstift auf Karton) und einer Porträtfotografie des Künstlers auf Karton. 17 x 23 cm

Die Erfolge gestalteten sich sehr übersichtlich, man hatte Galerien und Verleger en gros heimgesucht, doch niemand hat sich wirklich erwärmt für diese malerischen Vertreter eines Lebens der Boheme. Ich weiß nicht, vielleicht hab’ ich aber doch irgendein Bild an diesen Kölner Buchhändler – ich glaube, er hieß Nibbe – verkauft. In Erinnerung bleiben zumindest einige Stunden der Begegnung mit Hans Bellmer, dem Surrealisten und Liebhaber sadomasochistisch drapierter Puppen, sowie diverse skurrile Situationen, die sich alleine aus der Tatsache ergaben, dass für eine Übernachtung kein Budget vorhanden war. Es war eher eine traurige Reise, weil niemand von uns etwas aufgerissen hat. Weihnachten zumindest fand dann daheim in den warmen Elternhäusern in Österreich statt, der Weg dorthin war einmal mehr abenteuerlich. Wir sind dann irgendwie im Zug heimgekommen, ohne Fahrkarten, es war absolute Armut.

Später bin ich wieder nach Berlin zurück, wo hätte ich denn sonst hin sollen? Im Januar 1966 nahmen Christian und Hanni also den nächsten Anlauf, nur wohnten sie diesmal nicht mehr beim beschützenden Freund und großen Bruder, sondern allein, auf sich gestellt in der Kleiststraße im Stadtteil Schöneberg. Naja, das war das schlechteste Haus von Berlin, das billigste, und es waren lauter Künstler drin. Unterhalb war eine Einrichtung für Schwule, in einer Wohnung gab es ein Zimmer, da wurde eine Frau tot aufgefunden. Niemand wollte es mieten, so bin ich dann mit der Hanni eingezogen. Selbst nach vier Jahrzehnten spürt man etwas von dem Unbehagen, das Hanni in der Behausung nicht zur Ruhe kommen ließ: „Das war eine große Wohnung, fünf Zimmer oder so, alle einzeln vermietet. Ich hatte immer Angst, wenn der Christian nicht da war, dauernd hat es an der Türe geklopft, und dann noch dieses Zimmer, in dem die Frau ermordet wurde. Es war alles ärmlichst. Aus den Aschenbechern in Lokalen hab’ ich die Zigarettenstummel gesammelt und neue gedreht, damals bin ich süchtig nach Nikotin geworden.“ Aber man war zumindest nicht ganz alleine. Im Stock darüber hatte H. C. Artmann mit Sohn Patrick sein Domizil, ebenso René Block, der Galerist und Fluxus-Impresario, und auch sonst gab es noch die eine oder andere Person, deren Hoffnung, einmal im Kunst- und Kulturbetrieb eine gewisse Bekanntheit zu erlangen, sich schließlich erfüllen sollte. Wieland Schmied, später bedeutend als Ausstellungsmacher, Kunstgeschichte-Professor und Katalog-Autor zu Attersee, half den beiden mit der ersten Miete aus. Gegen den Trübsinn und die Kälte halfen wiederum algerischer Wein für 1,20 DM und deutscher Korn für 4,50 DM die Flasche – samt begleitender Übelkeit, weil wir ja nichts zum Essen gehabt haben außer Semmeln, die hat’s beim Aschinger umsonst gegeben.

Berlin. 1961/62. Fotografie von Franz Hubmann.

Die Hähnchenteile beim Hühner-Hugo, dem Klassiker an Geflügelbraterei, und die Schrippen beim Aschinger, dem ersten, noch vor der Jahrhundertwende eröffneten Schnellrestaurant der Stadt – beides sind klingende Namen für leere Brieftaschen und sentimentale Erinnerungen, wenn es um das Berlin der sechziger und siebziger Jahre geht. Auch bei dem Etablissement im Parterre des Hauses in der Kleiststraße handelte es sich mitnichten um irgendeine Homosexuellenspelunke, sondern um das Kleist-Casino, kurz KC, eine der ältesten einschlägigen Bars Europas und jenen Club mit Disco, in dem ein gewisser Klaus Sperber erstmals öffentlich als Countertenor seine Arien vortrug – als Klaus Nomi sollte er dann jenseits des großen Teichs reüssieren. 2002 schloss das KC endgültig seine Pforten. Ein Problem mit der Hintertüre hatte man offenbar aber schon 1966: Möbel gab es auch keine in dem Zimmer, ich hab’ dann vis-à-vis von einer Baustelle Ziegel gestohlen und daraus etwas zum Sitzen gebaut. Tisch hatten wir auch keinen, da bin ich in der Nacht, als die in der Bar alle besoffen waren, einen Stock tiefer gegangen, hab’ denen die Hintertüre ausgehängt und bin schnell wieder rauf. Das war dann unsere Tischplatte, nicht sehr eben, aber immerhin hatten wir eine Unterlage. Viel zum Zeichnen bin ich damals ohnehin nicht gekommen.

Umschlag zu H. C. Artmanns „Fleiß und Industrie“. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1967

Auch H. C. Artmann im Stockwerk darüber hatte nichts als Hunger, er war unentwegt am Arbeiten, um sich mit seinem Sohn irgendwie durchzuschlagen. Einmal schaue ich zum Fenster hinaus und sehe den Artmann in einem Mülleimer herumsuchen, wo er dann irgendwie eine weggeworfene gekochte Kartoffel gefunden und verzehrt hat. Der war ja zwanzig Jahre älter als ich, und als ich das gesehen habe, sind mir die Tränen gekommen. Ich habe mir gesagt, ich werde im Leben nie etwas anderes als ein Künstler; das hat mich so ergriffen, dass dieser Mensch, der ja damals schon 45 war, noch immer nichts für sein tägliches Auskommen hatte. Die beiden Hausgenossen waren überhaupt oft zusammen. Fasziniert verfolgte der junge Künstler, wie er Theaterstücke übersetzt hat und wie „Fleiß und Industrie“ entstanden ist. Er hat davon gelebt, dass er Schelmenstücke aus dem Spanischen übersetzt hat, direkt ins Reine, weil wir auch kein Papier gehabt haben. Innerhalb von zwei bis drei Tagen waren diese Stücke fertig. Das war ein absolut genialer Mann, der sich innerhalb von wenigen Tagen jede Sprache aneignen konnte. Er ist auch in der Schweiz als Schauspieler aufgetreten in Schwyzerdütsch, das war ein Mann, von dem man etwas lernen konnte, ein Musketier an Sprachtalent. Jahrzehnte später, als viele der Künstlerfreunde von damals es zu Wohlstand gebracht hatten, ging es dem durchaus berühmten Literaten finanziell immer noch nicht rosig. Mit der Begründung „bildende Künstler haben ein unverhältnismäßig höheres Einkommen als Dichter“ (art 5/1987, 23) werden sich 1987 zu seinen Gunsten Attersee, Brus, Gosewitz, Kurt Kocherscheidt, Markus Lüpertz, Nitsch, Pichler, Arnulf Rainer und Dominik Steiger mit einer Grafikmappe zusammentun und den „Kunstpreis der Künstler“ ausloben. Die Aktion war einmalig – der Preis in Höhe von 150.000 Schilling ging eben an Artmann.

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