Buch lesen: «Irren ist göttlich», Seite 5

Schriftart:

»Schauen wir, schauen wir ... mal«, meinte der Glasmeister, als er die Scherbe vor sich auf den Schreibtisch legte.

»Genau«, stimmte der zu und bemerkte einen Schatten, der durch seine Scherbe huschte.

»Was war das?«, meinte er erstaunt, während sich schon wieder etwas bewegte.

»Äh ... was?«

»Das eben«, erneut diese Bewegung, »das!«

Er zeigte jetzt mit dem Finger darauf.

»Ähmm ... also ... das ist dein Leben ... ähm ... das spiegelt sich ... ähm ... in der Scherbe.«

»Jedes Wort von mir findet sich auch da drinnen wieder?«

Wie zuvor auch, schwebte der Schatten durch das Glas.

» ... ja«, murmelte der Glasmeister.

»Warum sieht man mein Leben nicht, das sind ja alles nur Worte?«, meinte er und beobachtete, wie diese Worte in die Scherbe eintauchten.

»Oh, ähm, man kann es ... also ... sehen, wenn man ... also ... sehr gute ... also ... Augen ... ähm ... hat.«

»Wie gute?«

»Nun ... also ... ähm ... so gute, wie Thromokosch ... und die ... ähm ... haben wir ... also nicht.«

»Schade.«

» ... Ja«, murmelte der Glasmeister, ohne dass es ihn wirklich zu stören schien, »lassen Sie mir ... ähm, ein paar Augenblicke, ich studiere ... gerade mal ihren Fall.«

Thariel wartete geduldig und beobachtete dabei die Schweißperlen auf der Stirn seines Gegenübers. Es dauerte zwar mehr als ein paar Augenblicke, aber er traute sich nicht, etwas zu sagen. Der Glasmeister blickte konzentriert in die Scherbe, in der immer wieder Lichtreflexe auftauchten als wären es Fische, die kurz die Wasseroberfläche streifen und dann wieder in den Tiefen verschwinden. Endlich hob er den Blick. Verlegen rieb er sich die Augen.

»Sind Sie sicher, wirklich nichts ... ähm ... ein bisschen und ohne Absicht ... angestellt zu haben?«

Thariel dachte nach. Er dachte gründlich nach, doch ihm wollte nichts einfallen.

»Manchmal ziehe ich die Stiefel nicht aus, wenn ich nach Hause komme«, meinte er schließlich etwas ratlos.

»Stiefel ... gut ... Stiefel ... und dann, also dann ... treten Sie mit den Stiefeln dann vielleicht ... also auf andere Leute ein?«

Hoffnung schimmerte in den grauen Glasmeisteraugen.

»Nein, ich ziehe sie dann später aus.«

»Ohne jemanden ... also zu treten ... nie?«

»Nie.«

»Hmmm«, der Glasmeister starrte lange auf die Wolke, ganz so, als wolle er ihr auf diese Weise ihr Geheimnis entlocken.

»Wer bist ... du ... Wer ... ähm ... bist du?«, wendete er sich jetzt direkt an sie, was wohl ein Witz sein sollte, wofür sein röchelndes Lachen sprach. Unruhig lief die geduckte Gestalt durch den grauen Raum.

»Bitte kommen Sie, also ich werfe Sie nicht raus ... aber kommen Sie bitte heute Nachmittag wieder. Das wäre, also das wäre wirklich, also am besten. Ich vertiefe mich dann noch, ähm, in Ihren Fall ... und wenn ich ... in ihm nicht, also nicht verloren gehe, sehen wir uns nach der Mittagspause ... also nicht in der Tiefe des Falls ... verloren gehe. Das meine ich.«

Offenbar sollte die letzte Bemerkung wieder ein Scherz sein. Warum versuchte sich der Glasmeister ständig an Witzen, fragte sich Thariel, bevor er sich verabschiedete.

»Bis heute Nachmittag also und vielen Dank für Ihre Mühe«

»Vorausgesetzt«, setzte der Glasmeister wieder an, »ich, also ... verliere mich ... im Fall ... ähm, verliere mich nicht im …«

Thariel schloss die Tür hinter sich, bevor der Glasmeister seinen Witz beenden konnte. Als er im Flur stand, überlegte er kurz, ob er wieder durch all die Türen gehen oder einfach geradeaus laufen sollte. Er entschied sich schließlich doch für die sichere Variante. Rechts, links, rechts, links und so weiter.

Im Eingangsbereich saß immer noch die junge Frau. Sie verdrehte die Augen, als sie Thariel kommen sah.

»Entschuldigung, muss man eigentlich wirklich durch all die Türen, obwohl am Ende des Flurs das Büro des Glasmeisters liegt?«, fragte Thariel freundlich.

Die Frau begutachtete ihre Fingernägel.

»Nein, Sie können auch einfach geradeaus durchgehen.«

»Warum haben Sie mir dann vorhin diesen komplizierten Weg genannt?«

»Ich kann Sie nicht leiden.«

»Aber ... Sie sitzen hier doch, um die Leute zu informieren.«

»Nein, das habe ich ihnen schon mal gesagt«, reagierte die Frau gereizt, »wenn, mache ich es aus Freundlichkeit. Ich muss hier gar nichts!«

Sie ließ einen schweren Ordner auf den Boden fallen, der Thariels Fuß nur deswegen verfehlte, weil er schnell zur Seite sprang. Ratlos stand er vor der Frau mit den blonden Haaren.

»Natürlich müssen Sie hier etwas, sonst könnten Sie jetzt auch einfach gehen!«

»Könnte ich.«

»Nein.«

»Doch.«

»Nein.«

»Zu den Aufgaben einer Empfangsdame gehört es, höflich zu den Gästen zu sein, oder?«, änderte sie ihre Taktik.

»Allerdings.«

»Und man sollte nicht schlecht über seinen Chef sprechen.«

»Sicher.«

Jetzt schaute sie Thariel direkt ins Gesicht, »der Glasmeister ist der größte Spinner von allen, gleich nach Ihnen!«

»Also«, Thariel suchte nach Worten, »ich werde mich über Sie beschweren.«

»Beim Glasmeisterspinner? Mir egal, er ist nicht mein Chef und ich arbeite hier nicht.«

Und so gingen sie auseinander. Die Frau, die hier nicht arbeitete, blieb sitzen und Thariel fing an, durch die Gänge des Gebäudes zu laufen. Ohne Ziel und Grund und nur in der Hoffnung, dass die Wartezeit auf diese Weise schneller verging.

8 Thariel fragte sich, ob Nichtadmiral Nelson wirklich nicht gewusst hatte, dass es »seine« Erfindung längst gab – in wesentlich ausgereifterer Form.

9 In Wahrheit war das Fundament des Turms so massiv, dass diese Seile vollkommen unerheblich waren.

10 Man darf den Ball nur mit dem Ellbogen berühren. Zu jener Zeit eine sehr beliebte Sportart.

11 Als nur eine von zwei Städten überhaupt!

12 Einst stand an dieser Stelle ein gewaltiger Felsen, der für den Bau von Mammama so bearbeitet und abgetragen wurde, dass aus ihm das Fundament der Stadtmauer wurde.

13 Das wertvollste Unternehmen der Welt war Global Blumenmeer, mit etwa zweihunderttausend Holzstücken.

14 Auf Plattform 11 folgt noch die Thromokosch-Villa, wo Gott ausgewählte Pilger empfing und da Mammama nach oben hin spitz zulief und dabei von Plattform zu Plattform an Fläche verlor, bestand die oberste Plattform 12 aus nicht mehr als einen winzigen Raum mit einem Stuhl und einem Fenster. Von den Leuten wurde diese letzte Plattform auch »Thromokoschs Stuhl« genannt, weil er dort oben gerne saß und sich ausspannte.

15 Von den Plattformen 1 bis 10 gab es keinerlei Einschränkungen in den Treppenhäusern, nur der Zugang zu den Plattformen 11 und 12, die Gott bewohnte, wurde von einer Türe versperrt.

16 Als Eigenname schrieb sich die Glaskugel tatsächlich mit einem großen Einen.

17 Die Scherben »antworteten« auf Begriffe, die zu ihnen passten. Beim Wort Thariel glühten mehrere Dutzend Scherben in der Düsternis auf, als ob es sich um Wesen handelte, die geweckt wurden. Mit dem zweiten Wort Sumpfdorf erloschen alle bis auf eine.

8

Thariel irrte durch graue Gänge ohne Fenster und Türen. Er hatte die Orientierung vollkommen verloren und wusste nicht, ob er vielleicht schon zum dritten oder vierten Mal dieselben Gänge entlanglief. Darum war er erleichtert, als er um eine weitere Ecke bog und diese rote Leiter entdeckte. Eigentlich entdeckte er sie nicht, sondern sie explodierte förmlich in seinen Augen, so sehr fiel sie in dieser grauen Welt auf. Neugierig kletterte Thariel sie hinauf und gelangte so auf die nächste Plattform. Sein Herz klopfte heftig. Er wusste, wo er jetzt war. In der Thromokoschvilla.

Sie strahlte Erhabenheit aus, Größe und Macht. Nicht zu vergleichen mit der Tristesse im Glasmeistergebäude. Rote Teppiche auf dem Boden, brennende Fackeln in verzierten Einlassungen an den Wänden. Der Duft exotischer Gewürze lag in der Luft. Mehrmals eilten Priester an Thariel vorüber, der sich dann hinter Altären oder breiten Zimmerpflanzen versteckte. Hier würde niemand einen Verfluchten dulden. Nach einem schier endlos langen Weg, der ganz aus Glas bestand, folgte eine Empore. Von ihr aus fiel der Blick auf einen kunstvoll eingerichteten Raum, der an einen Ballsaal mit goldenen Fackelhaltern und prächtigen Naturgemälden an den rot gestrichenen Wänden erinnerte. Im Zentrum des Saals befand sich ein roter Thron, um den herum die Pilger standen, die Thariel zuvor angegriffen hatten. Unter ihnen befanden sich auch mehrere Priester. Sie schienen auf etwas zu warten.

Thariel beobachtete die Gruppe heimlich von der Empore aus. Schließlich öffnete sich eine goldene Türe, die er bis eben für das Gemälde einer mit Gold überzogenen Türe gehalten hatte, das vom Boden bis zur hohen Decke reichte. Zwölf Priester schritten hindurch, die sich an den Händen hielten und so aufreihten, dass sie schließlich die Entfernung bis zum Thron überbrückten. Der letzte Priester stand an der Tür und hielt sie auf.

»Thromokosch!«, riefen sie dann vereint und zeigten mit der freien Hand zur Tür. Alle Augen ruhten nun auf ihr. Zuerst passierte gar nichts, dann immer noch nichts und als auch danach nichts passierte, blickten sich die zwölf Priester ratlos an. Sie alle trugen schwarze Zauberhüte und endlich schob einer seine Kopfbedeckung zurecht und löste sich aus der Händekette, um durch die Türe zu gehen. Kurz darauf kam er zurück und versuchte die Ruhe zu bewahren, während er verstört mit seinen Zauberkollegen flüsterte. Manche schüttelten nur den Kopf, andere schlugen die Hände vor ihr Gesicht.

»Thromokosch!«, riefen sie erneut und dieses Mal passierte wirklich etwas. Schritte hallten aus der geheimen Welt hinter der Türe herüber, Thromokosch näherte sich. Thariel konnte sich vor Aufregung kaum in seinem Versteck halten. Thromokosch!

Plötzlich war er da. Langsam, aber elegant schwebte er ganz leicht über den Boden und an seinen Priestern vorbei. Er trug einen pechschwarzen Zylinder, in einem so intensiven Schwarz, als ob er die tiefste Nacht darin gefangen hielt. Daneben trug er einen prunkvollen, aber viel zu langen roten Umhang, der über den Boden schleifte. Sein Kopf hatte etwas Ovales und im Gesicht funkelten zwei rote Augen. Auch der Bart wies eine beeindruckende Länge auf und schleifte ebenso über den Boden wie der Umhang. Außerdem trug Thromokosch eine schwarze Lederrüstung ... und fing plötzlich an zu schwanken. Die Pilger erstarrten, zwei Priester eilten zur Hilfe, doch zu spät, schon hatte Thromokosch das Gleichgewicht verloren und stürzte ab.

»Verdammt noch mal!«, rief er ärgerlich, als er auf dem Boden lag und sich das Knie hielt, doch er fing sich schnell wieder und meinte in die eifrig nickende Runde: »Das ist ja gerade noch einmal gut gegangen, was? Da könnte man sich blaue Flecken und Knochenbrüchen holen, bei so einem Sturz, meine Güte.«

Es war den Pilgern anzusehen, wie sehr sie der Sturz verunsichert hatte. Thromokosch setzte wieder zum Schweben an, strauchelte, fiel beinahe und ging schließlich den Rest zu Fuß.

Die Pilger setzten sich um den Thron herum, von dem aus Thromokosch mit gütigem Blick auf sie herabblickte.

Im Verlauf dieses Besuches wurden zu Ehren Gottes Choräle angestimmt und rituelle Tänze dargeboten. Als die Pilger schließlich wieder aufbrechen wollten, war Thromokosch von deren Bewunderung sichtlich gerührt. Er breitete also seine Arme aus und verkündete: »Ihr seid mir die Treuesten und Liebsten. Ein Vorbild für alle anderen und die Zierde unter euch Menschen. Seid gesegnet!« Einen Moment später graste da, wo bis eben die Pilger standen, eine Herde Schafe. Thariel konnte sehen, wie sich drei Priester fassungslos gegen die Stirn schlugen. Thromokosch schien das alles nicht zu stören. Zufrieden schritt er durch die Schafsherde und streichelte hier ein Tier und kraulte dort eines.

»So ist es brav, ja, so ist es richtig.«

Er verließ den Raum und versuchte dabei erneut zu schweben. Erfolglos. Zurück ließ er zwölf peinlich berührte Priester, die von den Schafen vorwurfsvoll angeglotzt und angeblöckt wurden.

»Bitte, eure Besuchszeit ist vorbei. Begebt euch schleunigst zum Ausgang und danke für den Besuch«, rief ihnen einer der Priester überfordert zu. Die Tiere wurden aus dem Raum getrieben und Thariel beeilte sich, zurück in das Gebäude des Glasmeisters zu gelangen.

Was er da eben gesehen hatte, verstörte ihn sehr. Warum wurden ausgerechnet die treuesten Pilger verflucht? Nachdem er unbemerkt über die Leiter zurück ins Glasmeistergebäude gelangt war und nach einigem Umherirren endlich wieder in der Empfangshalle herauskam, hatten sich die Ereignisse schon herumgesprochen. Ein hagerer Priester redete aufgeregt auf die Empfangsdame ein.

»Es ist schon wieder passiert!«, rief er, »was sollen wir nur machen, er wird immer wunderlicher.«

Nachdenklich bearbeitete die Frau ihre Fingernägel: »Hmmm.«

»Vor einer Woche hat er ein Faultier heiliggesprochen, als es eigentlich um Sigbert den Starken ging. Jetzt wird bald in der Allee der Helden eine Faultierskulptur neben Heribert dem Klugen und Roikvilt dem Kräftigen stehen.«

»Hmmm.«

»Was machen wir nur falsch?«, fragte sich der Priester kopfschüttelnd und kam zum Ergebnis, dass sie zu wenig beten würden, weswegen er schnell verschwand, um das nachzuholen.

Thariel lief hinüber zur Empfangsdame und nahm sich vor, kühle Überlegenheit auszustrahlen.

»Ist der Glasmeister soweit?«

»Ja«, murmelte sie.

»Danke.« Irritiert, aber zufrieden, dass es so problemlos ging, machte er sich auf den Weg zu ihm. Sicherheitshalber wieder auf dem komplizierten Tür-links-Tür-rechts-Tür-links-Weg. Er klopfte an und nachdem er auch nach dem zweiten Mal keine Antwort erhielt, trat er einfach ein.

»Glasmeister?«

Keine Reaktion.

Düsternis füllte das graue Zimmer aus. Thariel machte einen weiteren Schritt nach vorne.

»Glasmeister?«

Kein Laut.

Hier ist niemand, dachte er jetzt. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Briefe, Notizen und alte Bücher. Und was war das auf dem Boden? Als Thariel sich hinunterbeugte, zuckte er zurück. Blut! Was war geschehen? Der Glasmeister war verschwunden, die linke Hand Thromokoschs. Vielleicht sogar tot. Thariel griff sich einen Kerzenhalter, das Messing fühlte sich kalt an in seiner Hand. Vorsichtig bewegte er sich voran, der oder vermutlich die Täter mussten noch hier sein. Das Blut war zu frisch und Ausgänge gab es nur einen: den Flur. Irgendwo versteckten sie sich und als Verstecke kamen eigentlich nur die beiden Säulen in Frage. Die Regenwolke störte ein wenig als Thariel voranging, aber das würde ihn nicht aufhalten. Er dachte daran, wie er im Sumpf die Seekatzen in die Flucht geschlagen hatte. So würde er auch hier vorgehen. Wobei er befürchtete, dass Gegner, die den Glasmeister entführten oder töteten, ein anderes Kaliber waren als flauschige Wesen auf drei Beinen, die anstelle von Zähnen mehrere süße Zungen hatten.

»Kommt raus! Zeigt euch!«, schrie er und stürmte zu den Säulen. Noch zwei Schritte, der Kerzenhalter in der Hand schien zu glühen. Noch ein Schritt. Thariel hatte die andere Seite der Säulen erreicht. Jetzt ging alles ganz schnell, als ob er seit seiner Kindheit auf diesen Kampf vorbereitet worden war. Ein mächtiger erster Hieb ging ins Leere, der nächste auch. Ebenfalls der dritte und vierte und fünfte.

»Geisterkrieger!«, dachte Thariel zitternd und schlug weiter erfolglos um sich. Thromokosch ist in Gefahr, die Welt ist in Gefahr, hämmerte es durch seinen Schädel. Das gab ihm die Kraft, nicht nachzulassen. In tödlicher Geschwindigkeit sauste der Kerzenhalter durch die Düsternis. Immer und immer wieder. Thariel spürte, wie ihn langsam die Kräfte verließen.

Geisterkrieger waren schreckliche Gegner, denn sie warteten geduldig ab, bis ihre Feinde vor Erschöpfung zusammenbrachen und sie leichtes Spiel hatten. Wenn Thariel nicht bald ein vernichtender Schlag gelingen sollte, würden sie ihn vernichten. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Er umfasste die Waffe so fest wie möglich und schlug mit noch mehr Wucht zu als zuvor. Einmal traf er die Säule und hinterließ eine tiefe Kerbe an ihr.

Die Waffe lag ihm nun immer schwerer in der Hand. Erschöpft kämpfte Thariel weiter, doch wurden die Hiebe immer schwächer. Er torkelte und schließlich entglitt ihm der Kerzenhalter. Er sank auf die Knie. »Die Geisterkrieger haben gesiegt«, dachte er noch und wusste, dass sie ihn in den Flammenberg verschleppen würden. Welch tragisches Schicksal ... Er verlor das Bewusstsein.

9

»Entschuldigen Sie, hallo. Sie ... Hmmm.«

Der Glasmeister beugte sich über Thariel und versuchte ihn aufzuwecken. Als ihm das nicht gelang, kippte er ihm ein Glas Wasser ins Gesicht.

»Tut mir, tut mir sehr leid, also, aber Sie waren nicht ansprechbar und lagen hier in meinem Büro auf ... also auf dem Boden und ich fragte mich, nun ja, hmmm, es ist nicht so, hmmm ... Warum sind Sie ... warum sind Sie in meinem Büro, wenn ich Sie nicht ... hereinrufe?«

Thariel lag noch immer da, neben sich der Kerzenhalter. Er verstand nicht, was los war.

»Die Geisterkrieger, sind sie weg?«

Trübe graue Augen blickten ihn an: »Welche Geisterkrieger?«

»Na, die Geisterkrieger, die hier waren, um Sie zu entführen oder zu töten! Warum haben sie uns verschont?«

»Nun, hmmm, also, also vielleicht ist es so, dass es ein, also ... ein Traum war?«

Thariel erhob sich und umarmte den Glasmeister. »Nein, das war kein Traum. Ich weiß, was passiert ist, Thromokosch hat uns gerettet! Danke, großer Thromokosch!«

Der Glasmeister fühlte sich in dieser Umarmung sichtlich unwohl. »Ich finde es ... so etwas mache ich eigentlich, wie soll ich sagen, also nicht.«

Thariel fiel jetzt die verletzte linke Hand des Glasmeisters auf.

»Was haben die Geister Ihnen angetan?«

»Das ist nichts, also schon, aber nichts von Geisterkriegerhand. Beim Sortieren der Scherben der Einen Glaskugel hat mir eine, also ... es war meine Schuld, in die Hand geschnitten. So was kommt ... also ... kommt oft vor ... ähm ... Berufsrisiko ... Es ... also, es blutete und deswegen ging ich vor einer halben Stunde, oder vielleicht auch etwas mehr ... also, obwohl eine halbe Stunde kommt, also kommt hin, in Behandlung zum ... ähm ... Arzt.«

Thariel blickte ins Leere. Er musste nachdenken. Nun blieben nur zwei Möglichkeiten, was hier passiert sein konnte und diese schlossen sich gegenseitig aus. Entweder hatte er den Kerzenhalter so lange sinnlos durch die Luft geschwungen, bis er entkräftet zusammengebrochen war, oder die Vorzimmerdame arbeitete mit den Geisterkriegern zusammen und hatte Thariel in diese Falle gelockt, aus der er sich heldenmutig befreien konnte. Er bevorzugte es, die zweite Version zu glauben, behielt sie aber für sich und beschloss außerdem, über diese ganze Angelegenheit nie mehr zu sprechen.

»Sind Sie vorangekommen, was meine Verfluchung angeht?«, wechselte er darum das Thema. Erschöpft setzte sich der Glasmeister an den Schreibtisch. Vielleicht hatte es mit der verletzten Hand zu tun, vielleicht wirkte er aber immer erschöpft.

»Genau, es ist so ... also, ich sehe nun in der Tat klarer.«

Thariel kratzte sich an der Stirn und blickte nach oben zur Regenwolke.

»Ein Fluch!«, presste der Glasmeister hervor.

»Das wusste ich schon, aber warum und wofür?«

»Tja ... also ... es sieht, es sieht ... so aus. Eine ... eine ... Sie wurden ... eine Verwechslung. Es ist ... eine Verwechslung.«

»Eine Verwechslung?«

»Also ... ja.«

»Ich verstehe das nicht. Wie kann das sein?«

»Es dauerte ... bis ich, also bis ich die Lösung für diese, also für diese Verfluchung fand. Aber irgendwann ... also bin ich auf die Idee gekommen, gekommen … ähm … auch in die Glasscherben, also von anderen … Thariels zu sehen.«

Seine Augen funkelten grau und erwarteten Anerkennung für diese Idee. Thariel kam dem so gut nach, wie es ihm möglich war, deswegen sagte er, »ich verstehe.«

Weil er weiterhin erwartungsvoll angeschaut wurde, setzte er noch nach: »Gute Idee.«

Enttäuscht verschwand der Glanz wieder aus den Glasmeisteraugen.

»So, also, Ihre, Ihre Verfluchung ist eigentlich … für Thariel den Krieger ... gedacht. Als Strafe, als ... also als Strafe für die Schlacht bei Tiefburg, bei der …«

»Ich weiß Bescheid«, fiel ihm Thariel ins Wort.

Auch wenn er ein geduldiger Mensch war, ertrug er gerade die Art des Glasmeisters nicht, der sich nun mit einem Tuch vorsichtig die Schweißperlen abwischte. Jeder kannte die Schlacht von Tiefburg. Eine große Armee unter der Führung von Thariel dem Krieger sollte die rebellischen Bewohner von Tiefburg besiegen. Thariel der Krieger befehligte eine bestens ausgerüstete Armee, während die Tiefburger nur mit Holzstöcken kämpfen konnten und hoffnungslos in der Unterzahl waren. Dennoch gelang ihnen ein triumphaler Sieg. Genau genommen gelang Thariel eine epische Niederlage. Die Schlacht fand auf offenem Feld statt, also eigentlich ideal für große und gut ausgebildete Armeen. Sie hätten die Tiefburger umzingeln, aushungern oder ganz einfach überrennen können. Nur untergehen, war eigentlich unmöglich. Thariel dem Krieger gelang es dennoch, seine Truppen so zu befehligen, dass ein Großteil der Reiterei in ein weit abgelegenes Moor galoppierte und nie mehr wiederkehrte, während er gleichzeitig die zwei mächtigen Infanterieeinheiten so ungeschickt dirigierte, dass sie die jeweils andere für den Feind hielten und sich gegenseitig aufrieben und dann gab er den Elitekämpfern der Thromokosch-Garde auch noch irrtümlich für den Rest des Tages frei, weswegen sie direkt vom Schlachtfeld zu ihren Familien eilten. Der Anteil der Tiefburger an ihrem Sieg bestand darin, dass sie nicht weiter auffielen. Ruhig und leise und mit der Zeit auch ein wenig verlegen, standen sie herum, sprachen kein Wort und warteten, bis das Gemetzel um sie herum aufhörte.

»Dann können wir doch meinen Fluch rasch beenden, wenn es eine Verwechslung ist«, schlug Thariel vor.

»Also ... «, begann der Glasmeister und schwieg danach, wie Thariel irritiert feststellte.

»Das wäre mir nämlich angenehm, so eine Regenwolke ist nicht toll«, bekräftigte Thariel seinen Vorschlag.

»Wie ... eine Schwiegermutter, also da ist die, ähm die Regenwolke wie eine Schwieger ... Schwiegermutter: beides ... nicht, also nicht angenehm ...«

Ein Lachen, das sich wie ein sterbender Hund anhörte, folgte darauf. Nur deswegen wusste Thariel, dass der Glasmeister wieder einen Witz versucht hatte.

»So in etwa.«

Der Glasmeister grinste so gut es seinem verspannten Gesicht möglich war, also praktisch gar nicht.

»Also, aber ... Spaß beiseite.«

»Genau, wie wird mein Fluch jetzt aufgelöst? Ich hörte, dass Thromokosch unter seinem Zylinder die Flamme der Wahrheit hütet und wenn diese Flamme auf einen Fluch trifft, erlischt der Fluch. Soll ich einfach ...«

Etwas Sonderbares war gerade geschehen, was Thariel dazu veranlasste, zu schweigen. Der Glasmeister hatte zwei bunte Kugeln in die Hand genommen und versuchte nun, lässig mit ihnen zu jonglieren. Er warf die erste hoch und sie fiel auf den Boden, er warf die zweite hoch und auch diese konnte er nicht fangen. Sein Kopf wurde vor Verlegenheit noch grauer als sonst. Warum machte er überhaupt solche Sachen?

»Soll ich einfach zu ihm gehen?«

»Das ist ... so einfach ist das, ist das also nicht.«

»Warum?«

»Weil«, nervös spielten die Hände an einer Tasse.

»Ja?«

»Thromokosch macht, ähm, also er macht keine Fehler ... und außerdem, hmm, kommt niemand in die Thromokoschvilla, also da, äh, herein, der nicht ausdrücklich, ähm, eine Einladung erhalten hat.«

Thariel verschwieg, dass er gerade in der Villa gewesen war und eine sonderbare Audienz beobachtet hatte.

»Aber es ist doch klar bewiesen, dass es ein Fluch für die Niederlage der Armee ist.«

»Ja.«

»Und ich habe sie nicht angeführt, das war Thariel der Krieger.«

»Ähm, richtig.«

»Und jetzt trage ich seinen Fluch mit mir herum.«

»So, also, wenn man es so sehen will ... kann man, also ... kann man das.«

»Aber er muss doch verflucht sein, nicht ich.«

»Sollte man ... sollte man annehmen.«

»Dann muss das geändert werden.«

»Das ist, ähm, das ist schwer.«

»Aber ich bin unschuldig.«

»Also ... also, das ist eine legitime ... legitime Sichtweise.«

»Ist es dann nicht normal, den Fluch von mir zu nehmen?«

»Ähm, so leicht ist das ... also, ist das nicht.«

»Warum?«

»Thromokosch macht, also das ist wichtig, ähm, Thromokosch macht keine Fehler.«

»Aber wir haben doch festgestellt, dass ... «

»Ja, also, ähm, ja, Thromokosch ist«, der Glasmeister kratzte sich unschlüssig am Ohr, »manchmal zu, ähm, also wie sag ich das, zu eigenwilligen Urteilen fähig. Immer mehr, in letzter, also letzter Zeit, eigentlich erst in ... letzter Zeit. Da gibt es ... Dinge, die wir ... Sterblichen so, also vielleicht gar nicht, ähm ... begreifen können.«

»Zum Beispiel, wenn er die falschen verflucht?«

»Also ... ich würde ... also, ich würde es eher so ... so formulieren, dass er manchmal nicht die Richtigen verflucht ... also. Vielleicht kann man ... sagen, dass er, also, dass er damit nicht ... richtig liegt, dass ähm, also er Leute ohne Grund, ähm, bestraft ... Aber er hat dennoch Recht, weil er Thromokosch ist.«

Thariel ahnte langsam, in was für einer verfahrenen Situation er sich hier befand. Er war das Opfer eines Fehlers, den es nicht geben durfte, weil Thromokosch keine Fehler machte.

»Kann mein Fluch trotzdem irgendwie gelöst werden?«

Der Glasmeister starrte in die Ferne.

»Es gibt, also nicht ... viele Möglichkeiten.«

Er griff wieder nach einem roten Ball und warf ihn in die Luft, nicht hoch, der Ball verließ kaum seine Handfläche und doch griff er daneben und der Ball fiel auf den Boden.

»Welche?«

»Eigentlich, ähm, nur eine.«

»Welche?«

»Der, der also eigentlich verflucht ist, muss sich bereit, also bereit erklären, ähm, den Fluch anzunehmen.«

Der kostenlose Auszug ist beendet.

3,99 €