Buch lesen: «Tödliche Kunst», Seite 6

Schriftart:

„Hey, Franze, wie geht’s mit eurem Fall?“, eröffnete Freddy das Gespräch.

„Wir sind noch ziemlich am Anfang. Aber was ich dich fragen wollte, ist …“

„Ob man erkennt, ob ein Mann Analverkehr hatte oder nicht! Ich habe deine SMS schon richtig verstanden“, ergänzte Freddy, woraufhin Franziska lächelte. Wie gut, dass die Ärztin mit solchen Fragen kein Problem hatte.

„Also, wenn ein Mann häufig Analverkehr hat und das vielleicht nicht nur mit dem Penis eines anderen Mannes, sondern auch mit anderen Sachen, also du verstehst … dann wird der Schließmuskel mit der Zeit ziemlich weit und das kannst du schon erkennen, wenn du dir seinen Anus anschaust. Manche tragen da auch ganz heftige Verletzungen davon, weil sie zum Beispiel Glasflaschen verwenden, und wenn so eine abbricht, dann gibt das eine ziemlich blutige Geschichte“, erläuterte sie.

Franziska lauschte den Worten ihrer Freundin und verzog schmerzvoll das Gesicht. „Heftig!“, bestätigte sie schließlich. „Das heißt, wenn wir Glück haben, findet Professor Wassly einen Hinweis, aber wenn er keinen findet, heißt das noch lange nicht, dass das Opfer hetero war?“

„Korrekt“, bestätigte Freddy. „Es gibt auch Hetero-Männer, die mal ein paar Sachen ausprobieren und bei Homosexuellen gibt es ja auch den einen Partner, der agiert und dem du das nicht nachweisen kannst, und den anderen Partner, der einfach nur ein bisschen entspannter ist, wenn er z.B. eine Darmspiegelung bekommt.“

„Du meinst … ach so, jetzt verstehe ich“, gab Franziska zu und überlegte, wie sie das ihren Kollegen weitergeben sollte.

Freddy lachte, als könnte sie ihr Gesicht sehen. „Und sonst, wie geht’s dir sonst so? Hast du Lust, mal wieder bummeln zu gehen?“

Leider nein, wollte Franziska schon angesichts dieser Erkenntnisse sagen, wobei das ja nichts mit der Freundin zu tun hatte. „Bei einem neuen Fall bleibt mir immer wenig Zeit“, wich sie stattdessen aus und erklärte: „Heute Abend müssen wir zum Beispiel im MMK Dienst schieben, und ich habe Ramona versprochen, ihr beim Renovieren zu helfen, weil sie Probleme mit dem Rücken hat“, zählte Franziska auf, bis Freddy erneut laut ins Telefon lachte. „Na, wenn das keine triftigen Gründe sind. Sag mal, geht es bei dieser Frage eigentlich um den Toten von heute Vormittag, diesen hübschen Burschen?“

„Das darf ich dir jetzt eigentlich nicht sagen“, wich Franziska aus.

„Eigentlich nicht, aber da ich ja auch der Schweigepflicht unterliege, kannst du es ruhig tun.“ Franziska zögerte. „Wenn dem so ist, dann solltest du nämlich Professor Wassly darauf aufmerksam machen“, empfahl die Ärztin. „Er wird sicher genau wie ich recht zügig erkennen, dass es sich um einen klassischen Strangtod handelt. Und dann nicht zwingend seinen Anus untersuchen.“ Die letzten Worte hatte Freddy sehr leise gesprochen.

„Hast du Besuch bekommen?“, erkundigte sich Franziska daher.

„Ein Kollege. Also wir sehen uns. Und viel Erfolg bei der Mördersuche!“ Freddy hatte aufgelegt.

Auf dem Weg zurück ins Besprechungszimmer musste Franziska lächeln. Denn natürlich hatte Freddy ihre Ausreden erkannt. Wenn sie wollte, würde sie eine Möglichkeit finden, und sie mochte die junge Ärztin ja auch wirklich sehr gern, aber sie war sich nicht sicher, ob sich ihrer beider Vorstellungen von einer Freundschaft deckten.

„Dr. Semmelweis meint, man könne es eventuell erkennen“, erklärte sie den wartenden Kollegen. „Allerdings nur, wenn er schon länger und intensiver …“ Sie brach ab und fragte an Schneidlinger gewandt: „Haben Sie schon Infos von Professor Wassly?“

„Nein!“, erklärte der und warf einen Blick auf seine Uhr. „Allerdings ist es dafür wohl auch noch zu früh.“

„Ja schon, aber dann könnten Sie ihn vielleicht noch rechtzeitig erwischen und ihn bitten, dass er eine Einschätzung abgibt, ob etwas darauf hindeutet, dass Quentin von Blümstorf homosexuellen Verkehr hatte.“

Schneidlinger überdachte diese Bitte und versicherte ohne weitere Nachfrage: „Das mache ich.“

Franziska wollte sich gerade zurück auf ihren Platz setzen, als sich Hannes erhob. „Na, dann komm, lass uns zu Karla Liebermann fahren.“

Verwundert blickte sie ihren Kollegen an. „Weißt du denn, wo sie zu finden ist?“

Hannes nickte Obermüller zu.

Der Ermittler schmunzelte. „Ich habe sie gebeten, in der Galerie auf uns zu warten.“

„Auf uns?“, wiederholte Franziska.

„Ja klar, ich kümmere mich um die Mutter, während ihr mit der Kleinen reden könnt. Deal?“

Franziska raffte seufzend ihre Sachen zusammen. „Deal.“

„Ja, das ist doch gut, schließlich haben wir nicht mehr viel Zeit, bis die Vernissage beginnt“, erkannte auch Schneidlinger, bevor er hinzufügte: „Ich werde Sie in der Zwischenzeit bei Dr. Freudenthaler ankündigen. Ich denke, Sie sollten ihn nicht überfallen. Immerhin ist er ein angesehener Mann, und wenn er Quentin von Blümstorf gefördert hat, dann war das eine Auszeichnung für den jungen Burschen. Ich möchte daher auf keinen Fall, dass dieser Ruf sinnlos beschädigt wird. Wir verstehen uns?“

Franziska ließ ihre Tasche zurück auf den Stuhl sinken und stemmte die Hände in die Seiten. Seit wann kümmert uns, wie angesehen ein Mann ist, sollte diese Geste bedeuten. Doch sie schwieg.

„Ist doch gut“, vermittelte Hannes. „Dann fahren wir nicht umsonst nach Bad Griesbach.“

Franziska nahm ihre Tasche auf und nickte. „Ja, das ist natürlich gut“, erklärte sie ihrem Chef, und an Hannes gewandt zischte sie: „Ich kann es nur nicht leiden, wenn jemand, nur weil er angesehen ist, eine Sonderbehandlung bekommt.“


Seit Stunden dachte Verena an nichts anderes als an das, was in der vergangenen Nacht passiert war oder passiert sein könnte. Denn genau darüber war sie sich nicht sicher.

Sie wusste nur, dass sie langsam durchdrehte.

Quentin hatte ihr eine Abfuhr erteilt und Engelmann hatte es mitbekommen und deshalb nahm er sich jetzt heraus, sie zum Lügen zu animieren. War das so, oder bildete sie sich das alles nur ein?

Irgendetwas war in der vergangenen Nacht passiert, was sie zurück in eine längst abgeschlossen geglaubte Zeit warf. In eine schlimme Zeit. In den größten Horror ihres Lebens.

Verena saß noch immer oder eigentlich schon wieder auf dem Sofa. Sie schielte zur Uhr. Gleich drei. Sie musste etwas tun. Mühsam erhob sie sich. Ihre Beine waren schwer, und ihr Kampfgeist hatte sich in ein ihr wohlbekanntes Schneckenhaus aus Trauer, Wut und Verzweiflung zurückgezogen. Wütend war sie vor allem auf sich selbst. Wie hatte ihr das nur erneut passieren können. Hatte sie denn nichts gelernt?

Sie musste hier raus, sie musste endlich hier raus. Und sie musste etwas unternehmen.

Bei ihrem ersten Versuch, gleich nachdem die Kommissarin mit dem gelbfleckigen T-Shirt gegangen war, war sie Engelmann in die Arme gelaufen. Wortwörtlich. Ausgerechnet ihm.

„Auf keinen Fall dürfen Sie das Haus verlassen“, hatte er festgestellt, nachdem er sie einer eingehenden Musterung unterzogen hatte. Das war vor etwas mehr als einer Stunde gewesen, schätzte sie. Er war auf dem Weg zu ihr gewesen, weil er sich die Laudatio, die sie ihm versprochen hatte, abholen wollte.

Die Eröffnungen würden also stattfinden. Grad so, als wäre nichts gewesen.

„Ich brauche Sie jetzt. Kann ich mich auf Sie verlassen?“, hatte er gefragt und sie unsicher angesehen. „Selbstverständlich. Ich habe ja noch ein anderes Kleid dabei“, hatte sie kleinlaut erklärt und sich sofort für diese Unterwürfigkeit gehasst. Noch immer reagierte sie in bestimmten Situationen mit Hilflosigkeit. Verdammt, und das ausgerechnet bei Engelmann!

Ganz gleich, was in ihrer Jugend passiert war – inzwischen war sie eine Frau, die man um Rat fragte, die man um Hilfe bat und der man zutraute, auch die schwierigsten Situationen souverän zu meistern.

Verena ging zur Tür und schielte hinaus. Niemand war zu sehen. Sie trat in den Flur, auch hier war niemand. Dieses Gefühl, im falschen Film zu sein, nagte an ihr. Vielleicht hatte sie die Sache mit Engelmann ja auch nur geträumt? Sie ging zurück und sah nach – die Laudatio fehlte. Also war er wirklich hier gewesen. Oder …, nein daran wollte sie jetzt nicht denken. Sie musste aufhören, sich fertig zu machen. Jetzt war nicht damals. Jetzt war jetzt. Heute. Eine andere Zeit mit einer anderen Verena. Eine, die dunkle Haare hatte und genau wusste, mit wem sie es zu tun hatte. Nur eben nicht in der vergangenen Nacht, und das war ihr Problem.

Sie ging zum Fenster und schaute hinunter. Dahin, wo zuvor der Leichenwagen geparkt hatte. Den hatte sie sich nicht eingebildet. Trotzdem öffnete sie beide Fensterflügel und lehnte sich so weit wie möglich hinaus, um die Bräugasse einsehen zu können. Einsatzfahrzeuge der Polizei standen unterhalb und oberhalb des Museums.

Mit einem erleichterten Lächeln ging sie zurück zum Sofa und zog ihr Handy unter den Kissen heraus. Sie hatte es auf lautlos gestellt, um ihre Ruhe zu haben, und auch jetzt ignorierte sie die zahlreichen verpassten Anrufe. Die konnten warten.

Sie musste jetzt an sich denken und an das, was bleiben würde von einem Tag wie diesem.

„Hallo Monika, ich bin es, Verena. Du, habt ihr vielleicht ein …“ Zimmer frei, wollte sie fragen, wurde aber unterbrochen. „Ja, schlimme Sache …“ Monika war die Rezeptionistin aus dem direkt an das Museum anschließenden Boutique-Hotel, das auch Wellness und Kosmetikbehandlungen anbot und in dem Verena schon öfter Künstler von auswärts untergebracht hatte. „Das glaub ich dir gern …“ Verena lauschte noch eine Weile dem Redeschwall ihrer Freundin.

„Ich bräuchte ein Zimmer, also eigentlich nur das Bad, und vielleicht hast du etwas da, um mich ein wenig aufzuhübschen.“ Verena lachte verlegen. „Ja, bis gleich.“

Rasch sammelte Verena alles zusammen, was sie brauchte, und verließ auf Zehenspitzen das kleine schäbige Museumsappartement. Ihr Entschluss stand fest: Von jetzt an wollte sie nur noch diesen Tag überstehen und ab morgen konnte sie sich dann immer noch Gedanken darüber machen, ob sie in der vergangenen Nacht doch noch einmal ins Museum zurückgekehrt war.


Von der Anfahrt genervt kam das Kripoteam, bestehend aus Franziska, Hannes und Obermüller, in der Michaeligasse an. Inzwischen war es früher Nachmittag, und in den Straßen der unteren Altstadt wurde es immer enger. Lieferwagen parkten Gehsteige und Einfahrten zu, und ihre Fahrer luden ungerührt und mit dem Versprechen, gleich wieder wegzufahren, immer weitere Biergarnituren und Getränkekästen aus. Ein ganzer Stadtteil war im Ausnahmezustand. Vor dem Schaufenster der Galerie Liebermann standen zwei Frauen, die prüfend auf die Deko für die Kunstnacht blickten. Unverkennbar waren die beiden Mutter und Tochter.

Und als die drei näherkamen, machte Franziska eine überraschende Entdeckung. Vor ihnen stand der weibliche Akt aus Quentin von Blümstorfs Schlafzimmer. Karla Liebermann, die jüngere der beiden Frauen. Heute natürlich weder nackt noch aufreizend, aber freundlich, wie sich bei der persönlichen Vorstellung herausstellte. Sie schien etwas jünger als Quentin zu sein, war fast noch schlanker als auf dem Foto und auf eine natürliche Weise hübsch. Die langen, blonden Haare trug sie in einer komplizierten Gretchenfrisur um den gesamten Kopf geflochten, was einen sehr braven Eindruck vermittelte und im totalen Gegensatz zu den Intimpiercings stand, die Franziska in Quentins Schlafzimmer an ihr bewundert hatte.

Auf Bitten der Tochter folgten sie ihr in das fensterlose Hinterzimmer der Galerie, während sich Obermüller draußen im Schatten des Hauses mit der Mutter über alte Schulzeiten unterhielt.

Auf einer Seite dieses Nebenzimmers gab es einen großen Tisch, auf dem Getränkeflaschen und Gebäckschälchen bereitstanden. Die andere Seite wurde von einer unbehandelten Holzkommode eingenommen, während in einer Ecke drei Hocker mit Samtkissen drapiert zusammengestellt waren. Insgesamt war es eng, weshalb Hannes nahe der Tür stehen blieb.

„Frau Liebermann, was passiert ist, tut uns sehr leid. Können wir trotzdem reden?“ Karla lehnte an der Kommode und nickte mehrmals tonlos, bevor sie Franziska mit großen Augen ansah. „Sie und Quentin waren ein Paar. Wie lange waren Sie zusammen?“

„Etwas mehr als drei Jahre. Das lässt sich schwer sagen, weil“, versuchte die junge Frau mit emotionsloser Stimme zu versichern und brach dann doch in Tränen aus, „weil, weil“, schniefte sie schließlich, „weil ich ja nicht weiß, wann das mit diesem Kerl anfing und mit uns aufhörte.“ Trotzig zog Karla mehrmals die Nase hoch, wandte sich schließlich um und riss der Reihe nach die Schubladen der Kommode auf, um sie gleich darauf mit enttäuschtem Gesicht wieder zuzuschieben, bis sie endlich ein Päckchen Taschentücher zutage förderte. Inzwischen bebten ihre Schultern, und Franziska registrierte ihr Schluchzen unterbrochen von heftigem Schnäuzen.

„Sie kannten den Mann, mit dem Quentin zusammen war?“, setzte sie behutsam nach, trat einen Schritt vor und legte der bebenden Frau eine Hand auf die Schulter.

Schniefend schüttelte diese den Kopf und drehte sich wieder um. „Nein“, behauptete sie energisch. „Quentin hat ihn mir nicht vorgestellt, aber das war auch nicht nötig.“ Sie schien sich wieder unter Kontrolle zu haben.

„Aber Moritz Haushofer kennen Sie schon?“ Franziska warf Hannes einen skeptischen Blick zu.

„Aber Sie meinen doch nicht, dass dieser Moritz sein … also der doch nicht, oder?“ Obwohl ihr die Tränen noch immer über die Wangen liefen, lachte sie kurz und ein wenig überdreht auf. „Moritz, das war sein Lakai, oder wie Sie das nennen möchten. Er hat alles für Quentin getan, aber … Nein!“ Energisch schüttelte sie den Kopf.

Bedauernd wiegte Franziska den Kopf. „Wir wissen es nicht und tatsächlich verwehrt sich auch Moritz gegen diesen Verdacht.“ Karla wirkte erleichtert. „Hat es Sie denn gar nicht interessiert, mit wem Quentin zusammen war?“, wollte sie dennoch wissen.

Karla schniefte und schob das benutzte Taschentuch in ihre Hosentasche. „Was kann eine Frau schon tun, wenn ihr Freund ihr eröffnet, dass er auf Männer steht?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage, bevor sie gestand: „Ich habe mich so hilflos gefühlt, so gedemütigt.“

„Sie haben sich mit Quentin gestritten?“

Karla machte eine hilflose Handbewegung. „Ja, natürlich habe ich mich mit ihm gestritten, ich lass mich doch nicht einfach so abservieren. Aber Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte …“

„Haben Sie?“, forschte Hannes nach.

„Nein, natürlich nicht! Quentin war meine große Liebe!“ Dabei blickte sie Franziska fest in die Augen.

„Erzählen Sie mir von Ihrem Streit.“

„Das ist schon ein Weilchen her“, begann sie, ging zu den Hockern in der Ecke, setzte sich auf einen und nahm das Kissen eines weiteren in den Arm. „Wir waren in Quentins Wohnung, und aus heiterem Himmel erklärte er mir, dass wir uns in der Öffentlichkeit nicht mehr zusammen zeigen dürften, weil das für ihn jetzt wichtig wäre.“ Die junge Frau blickte kurz auf, umklammerte das Kissen noch fester und sprach leise weiter. „Mein Seminar ist richtig viel Arbeit, wissen Sie, da war ich dann manchmal froh, wenn ich meinen Abend noch für eine Unterrichtsvorbereitung nutzen konnte.“

Franziska wusste inzwischen, dass Karla Liebermann Lehramt für Grundschule studiert hatte und sich gerade in ihrer Seminarausbildung befand. Sie dachte an Walter, den sie auch immer auf Abstand gehalten hatte, wenn sie an einem neuen Fall arbeitete.

„Also habe ich erst einmal mitgespielt. Ich wusste ja, wie wichtig es für Quentin war. Seine Eltern lassen ihn alles machen, aber er muss erfolgreich sein.“ Schweigend blickte sie zu Boden. „Wenn wir miteinander telefoniert haben, war ja alles ganz normal, wie immer.“ Ihr Blick wanderte zu einem der Bilder, die an der Wand lehnten. „Nur dass wir uns nicht sehen sollten, das war schon seltsam. Und irgendwann dachte ich dann, er hätte vielleicht eine andere Frau. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass er so ganz ohne Sex auskam.“ Eine feine Röte überzog ihr Gesicht, während sie gebannt auf das Kissen schaute.

„Ja, und dann war er am Handy gar nicht mehr zu erreichen. Also habe ich seine Mutter angerufen. Die war wie immer sehr nett und hat mir erzählt, dass Quentin jetzt eine Ausstellung im MMK vorbereiten würde und auch dass ich ihn dort bestimmt antreffen könnte. Ich bin dann hingegangen und habe ihn zur Rede gestellt. Und da sagte er mir, er habe sich entschieden. Er sei jetzt eben schwul und da gebe es auch kein Zurück mehr, weil er das jetzt durchziehen müsse. Er habe dafür zu viel in Kauf genommen.“

Karla schaute kurz auf, aber Franziska bedeutete ihr nur, sie solle weitererzählen. „Ich habe ihn angeschrien, wie er mir das antun könne, und ausgerechnet mit einem Mann! Aber da hat er nur gesagt: D as würde ich nicht verstehen und ich solle nicht so zickig sein. Es sei nicht so schlimm, wie es mir jetzt vielleicht vorkomme. Da bin ich dann weggelaufen. Er war so kühl, so unnahbar, und ich wollte ja nicht, dass er sieht, wie es mir damit geht. Ich liebe ihn doch!“, fügte sie flüsternd hinzu und zog das Taschentuch aus ihren Shorts.

„Wann war dieses Treffen im MMK?“

„Vor drei Wochen vielleicht. Ich weiß nicht mehr so genau.“

„Und wann hat er beschlossen, dass er Sie vorerst nicht mehr sehen möchte?“

„Vielleicht vor zwei Monaten.“ Karla war nahe daran, erneut in Tränen auszubrechen. „Glauben Sie, es war ein Fehler, dass ich ihn besucht habe?“, fragte sie vorsichtig und schaute die Kommissarin beinahe bettelnd an. „Bin ich am Ende schuld, dass er jetzt tot ist?“

Irritiert dachte Franziska kurz über diese Frage nach, bis sie verstand, dass Karla Liebermann davon ausging, dass Quentin sie vielleicht nicht mehr hatte sehen dürfen und ihr Besuch im MMK für diesen eine tödliche Folge hatte. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie ehrlich. „Hat es sich für Sie denn so angehört, als würde Ihrem Freund etwas Schlimmes passieren, wenn er sich doch weiterhin mit Ihnen trifft?“

Karla erhob sich von ihrem Hocker, das Kissen noch immer fest umklammert. „Etwas Schlimmes? Nein.“

„Trotzdem müssen wir Sie das jetzt fragen: Wo waren Sie gestern Abend?“, mischte sich erneut Hannes in das Gespräch ein.

Fassungslos blickte die junge Frau ihn an. „Ich war hier. Wir mussten ja alles ausräumen und für die heutige Kunstnacht herrichten. Wenn Sie schon einmal während der Kunstnacht unterwegs waren, dann wissen Sie, wie es da in den Galerien zugeht.“ Sie legte das Kissen zurück und richtete sich auf.

„Und Ihre Mutter kann das sicher bezeugen?“, fragte Franziska, obwohl sie wusste, wie die Antwort ausfallen würde. Karla nickte zögernd. „Ja, ja natürlich.“ Sie hatte ihre Gedanken erraten.


„Also, eines muss man Stanze ja lassen: Sie hat sich wirklich gut gehalten. Das Mädl ist ja inzwischen auch schon fast fünfzig.“ Ein zufriedenes Schmunzeln überzog Obermüllers Gesicht, woraufhin Franziska vermutete: „Du warst wohl mal in sie verknallt, was?“

„Aber das ist lange her, Franzilein, da gab es dich noch gar nicht.“

„Ich hoffe nur, du hast sie nicht nur angeschwärmt, sondern auch befragt?“, bangte die Kommissarin und überquerte die Straße in Richtung Staatliche Bibliothek, wo sie ihr Auto im Schatten der beiden großen Gebäude geparkt hatte.

„Spinnst leicht. Natürlich habe ich mir nicht anmerken lassen, dass sie mir noch immer gefällt. Da bin ich ganz der Profi“, behauptete Obermüller und baute sich zu seiner vollen Größe auf. „Also, zum einen hat Stanze das Alibi ihrer Tochter bestätigt …“

„… was klar war und nicht wirklich aussagekräftig ist.“

Obermüller nickte, „und zum anderen hätte sie Quentin sehr gerne bei sich ausstellen lassen, aber das war ihm nicht genug. Er sagte sehr höflich ab, weil er ein besseres Angebot in Aussicht hatte.“

„Das MMK. Verständlich“, brachte sich Hannes ein und zeigte gerade in Richtung Auto, als sich sein Smartphone meldete. Mit einer energischen Handbewegung scheuchte Franziska ihren Kollegen davon.

„Nein, das wusste er da noch nicht“, korrigierte sie Obermüller. „Aber er sagte, er werde jetzt ganz groß rauskommen.“

„Und wann war das?“

„Das wusste sie nicht mehr auswendig, aber sie hat mir versprochen, noch einmal darüber nachzudenken.“

„Schau, schau, sie hält dich hin!“, frotzelte Franziska. „Habt ihr euch verabredet?“

„Wer weiß?“

„Dann lass das bloß deine Frau nicht wissen!“

„Ach, an was du wieder denkst! In meinem Alter ist die häusliche Versorgung doch wichtiger als ein bisschen Geschmuse.“ Und dabei strich er zärtlich über seinen beachtlichen Bauch.

„Dann werde ich hoffentlich nie so alt wie du“, seufzte Franziska und blickte sich nach Hannes um, der bereits am Auto stand und auf die Uhr zeigte. „Okay, Obermüller, wir müssen jetzt los, die Zeit drängt. Wenn sich deine Stanze meldet, dann ruf mich an, ja?“

„Was gab‘s?“, fragte sie, nachdem sie den Motor gestartet und sich auf die Fritz-Schäffer-Promenade eingefädelt hatte.

„Der Chef hat sich gemeldet. Der Obduktionsbefund ist schon da.“

„Wahnsinn, das ging aber schnell. Scheinbar hat Freddy doch noch ganz nützliche Kontakte. Lies vor!“

Hannes öffnete die Datei und überflog den Inhalt. „Also, nach Entkleiden der Leiche zeigen sich strumpf- bzw. handschuhartige Totenflecken an Armen und Beinen, … todesursächlich ist das Erhängen, … strangfremde Gewalt ergab sich nicht, … der ventrale Bandapparat der Lendenwirbelsäule, … die Fingerspitzen weisen massive Abschürfungen auf …“

„Ja, das wissen wir ja schon“, drängelte Franziska, die noch immer an der Donau entlangfuhr. „Was schreibt er zu der Frage der möglichen Analdehnung?“

Hannes scrollte das ganze Dokument durch. „Nichts!“ Verwundert blickte er Franziska an.

„Oh Mann“, kommentierte diese und schlug mit einer Hand aufs Lenkrad. Dabei fuhr sie immer schneller, bis ihr Beifahrer sich am Türgriff festhielt. „Willst du uns umbringen?“, schimpfte er.

„Nein, entschuldige.“ Sie nahm den Fuß vom Gas und ließ den Wagen Tempo abbauen. „Weißt du, was mich wundert: Da geht so ein junger und wirklich hübscher Kerl her und bricht sein ganzes Sexualleben ab, nur um zu behaupten – ich bin dann mal schwul! Ich habe zwar keinen Kerl vorzuweisen, aber ich bin dann mal schwul. Ich zeig mich nicht mehr mit meiner langjährigen und ausgesprochen attraktiven Freundin in der Öffentlichkeit, denn ich bin dann mal schwul.“

„Vielleicht gibt es den Mann ja doch? Vielleicht hat uns ja auch Moritz Haushofer angelogen? Oder wir haben bisher nur mit Leuten gesprochen, denen er seinen Liebhaber nicht vorgestellt hat.“

„Siehst du, und genau deshalb wüsste ich zu gerne, ob es diese Analdehnung gab, von der Freddy gesprochen hat.“

Hannes antwortete nicht. Stattdessen scrollte er weiter in seinem Smartphone herum. „Ach, entschuldige, es war nur der vorläufige Obduktionsbefund.“ Franziska gab einen grummelnden Ton von sich. „Vielleicht interessiert dich aber das hier noch: Der Todeszeitpunkt war tatsächlich gegen ein Uhr nachts.“

Ohne weiter darüber zu reden, fädelten sie sich in Passau Süd auf die Autobahn in Richtung Linz ein und verließen sie wenig später in Richtung Pocking, um dann weiter nach Bad Griesbach zu fahren. Sie mussten zur Ruhe kommen, sich mental auf das nächste Gespräch vorbereiten. Sie hatten keine Zeit gehabt, ihren neuen Gesprächspartner zu googeln.

„Da vorne, das müsste das Anwesen sein!“ Franziska deutete mit dem Kinn zu dem Haus, das auf der linken Seite erschienen war. „Herrlich!“, schwärmte sie. „In so einem Garten kannst du dich nackt sonnen, und keiner sieht dich.“ Sie fuhr am Haus vorbei und wendete dann, um in einen Feldweg einzubiegen. Der holprige Weg verlief entlang einer dichten Hecke, die rund um den Garten zu führen schien.

„Das hier ist bestimmt schon so alt wie unser Haus.“

„Du meinst das Haus von deinem Schätzchen?“, neckte ihn Franziska.

„Irgendwie gehört es doch auch mir nach allem, was ich an Arbeit reingesteckt habe. Wobei ich mir so ein Zuhause auch gut vorstellen könnte. Also nicht so groß, aber so abseits gelegen.“

„Und nicht so hochwasseranfällig wie euer Haus.“ Franziska öffnete die Autotür und stieg aus. Das Erste, was ihr auffiel, war eine unglaubliche Stille. Nur das Summen unzähliger Insekten und das verhaltene Plätschern eines kleinen Baches war zu vernehmen. Irgendwo hinter den Hecken, die das nahe Feld abgrenzten, musste er vorbeifließen. Während sie neben ihrem Auto stand und einfach innehielt, setzte sich ein Schmetterling auf ihr Autodach. „Ja, du hast recht, das könnte etwas für Klein-Franzi sein.“ Sie zwinkerte Hannes zu. „Aber jetzt komm, ich bin gespannt, was das für ein Mensch ist, dieser Dr. Freudenthaler.“


„Mordkommission Passau? Ach, du meine Güte, was ist denn passiert?“ Nach dem zweiten Klingeln hatte Dr. Klaus Freudenthaler die Haustür geöffnet und stand jetzt zwei Stufen erhöht vor den beiden Kriminalkommissaren, die ihm ihre Dienstausweise entgegenhielten.

„Herr Dr. Freudenthaler, dürfen wir reinkommen?“ Energisch trat Franziska einen Schritt auf den Kunstförderer zu. Er war kaum mehr als eins sechzig groß, trug blaue Shorts mit Bügelfalte und ein helles Poloshirt, dazu cognacfarbene Mokassins. Seine vollen Haare waren aufwändig geföhnt. Die Lippen mussten künstlich aufgespritzt sein, überlegte sie und ließ ihren Blick zu seinen gepflegten Händen schweifen, an denen mehrere üppige Silberringe steckten.

„Ja, natürlich, kommen Sie bitte!“ Freudenthaler ging zur Seite und machte eine einladende Geste. Franziska schob sich an ihm vorbei und Hannes folgte ihr mit eingezogenem Kopf durch die niedrige Haustür.

Die Eingangshalle besaß nur ein kleines Fenster gleich neben der Tür, war aber mit Spots eindrucksvoll beleuchtet und wunderbar kühl. Auf dem Boden lagen dunkle Holzdielen, die Wände waren schlicht verputzt und weiß gestrichen. Es gab mehrere Türen und eine Treppe, die ins Obergeschoss führte. Freudenthaler dirigierte sie, wie er kommentierte, in seinen Wohnraum, dessen Gewölbedecke von mehreren Granitsäulen gestützt wurde. „Das hier war früher der Pferdestall“, erläuterte er dabei nicht ohne Stolz.

Beeindruckt schenkte Franziska Decke und Wänden einen interessierten Blick und nahm dann neben Hannes auf einem großen, hellbraunen Ledersofa mit reichlich Patina Platz, um ihren Gastgeber über den Tod von Quentin von Blümstorf zu informieren. Der Hausherr setzte sich in einen tiefen Ledersessel mit breiter Lehne.

Während sie ihm berichtete, behielt Franziska Dr. Freudenthaler im Auge, aber nur, als sie das Wort Tod aussprach, zuckte er kurz zusammen, ansonsten blieb sein Gesicht ausdruckslos, bis er mit theatralischer Geste ausrief: „Was für ein Verlust! Quentin war so ein großes Talent.“ Franziska konnte nicht sagen, ob seine Betroffenheit echt oder nur gespielt war. „Und so jung, wie konnte das nur passieren?“ Er sprang auf und lief einige Male nachdenklich hin und her, bevor er sich zurück in seinen Sessel fallen ließ und geradezu in sich zusammensackte. „Haben Sie schon Hinweise darauf, wer das getan hat?“

„Nein, leider. Wir hoffen, Sie können uns helfen. Bitte erzählen Sie uns von Ihrer Zusammenarbeit mit Quentin.“ Während sie auf seine Antwort wartete, musterte sie den Raum nun genauer. Tatsächlich gefielen ihr vor allem die großen, bogenförmigen Fenster, die den Blick in einen Garten lenkten, der voller blühender Blumen, Sträucher und Skulpturen war. Weiter hinten wurde er von jener hohen Hecke umgeben, neben der sie das Auto geparkt hatte.

„Ich würde gerne weiterhelfen, aber dafür bin ich wohl nicht der Richtige. Ich habe den Jungen ja kaum gekannt, eher seine Kunst“, erklärte Freudenthaler und erhob sich, um zu einem antiken Servierwagen mit feinen gedrechselten Beinen zu gehen. Zögernd wählte er eine der geschliffenen Kristallkaraffen aus. „Laphroaig Single Malt. Mögen Sie auch einen Schluck?“

„Nein, danke“, lehnte Franziska ausdrücklich ab, und auch Hannes schüttelte den Kopf. Der Kunstförderer schob einen Whiskybecher zurecht, nahm den Deckel eines silbernen Gefäßes ab und verzog ärgerlich das Gesicht. „Einen Moment bitte!“, bat er in Richtung der Kommissare und lief zur Tür. „Tristan!“, rief er so aufgebracht, dass Franziska zusammenzuckte.

„Ja, Herr“, entgegnete eine körperlose Männerstimme unterwürfig.

„Es ist kein Eis da, ich habe dich doch gebeten, den Eisbehälter zu füllen!“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung …“ Franziska stieß Hannes in die Seite, denn vor ihrem geistigen Auge ging der Mann gerade auf die Knie.

„Wir haben Besuch!“, mahnte Freudenthaler.

„Ich kümmere mich darum“, versprach die Stimme nun gut gelaunt und die Schritte entfernten sich. Der Hausherr kam zurück zum Sessel und nahm wieder Platz.

„Quentin hat mir einige seiner Entwürfe und Werke gezeigt und …“ Die Tür ging auf und ein hübscher junger Mann mit wilden, braunen Locken kam herein. Einen Kopf größer als Freudenthaler trug er die gleichen Shorts, allerdings mit einem offenen Hawaiihemd. Seiner Figur nach verbrachte er viel Zeit in der Sonne und im Fitnessstudio. „Das Eis, Klaus. Soll ich dir gleich einschenken?“

„Ja bitte. Und hast du gehört: Quentin ist tot!“

„Wer war noch einmal Quentin?“ Der junge Mann gab drei Eiswürfel ins Glas, hob eine Karaffe in Freudenthalers Richtung und als der nickte, schenkte er zwei Finger breit ein und brachte den Drink zum Sessel. Der Hausherr nahm einen kräftigen Schluck und schwenkte das Glas, dass die Eiswürfel klimperten. „Tristan!“, mahnte Freudenthaler erneut, ließ den Grund dafür aber offen.

„Darf es für die Herrschaften auch etwas sein? Vielleicht ein belebtes Wasser?“, wandte sich Tristan mit einem fröhlichen Lächeln jetzt an die Gäste, ohne die Frage nach Quentin aufzuklären. Franziska überlegte, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, danke!“ Sie hatte es eilig und wollte auf ihr eigentliches Anliegen zurückkommen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

8,99 €