Buch lesen: «Dunkler Paladin», Seite 2

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Er beugte das Knie und legte sich die rechte Faust auf die Brust. Er wusste nicht, ob dies die Stelle war, in der das heilige Buch Renarian eingelassen war, das in den Fundamenten eines jeden der vier durhelianischen Tempel in den Jorvenlanden ruhte. Dennoch versuchte er sich vorzustellen, dass er sich über der Heiligen Schrift befand und betete:

Heiliger Durhelian,

erleuchte unseren Weg,

eine unsere Stärke im Glauben,

eine unseren Mut in der Schlacht,

eine uns und wir folgen dir,

eine uns und wir dienen dir.

Im Geiste und auf dem Felde

sind wir dein Schild und deine Lahras.

Dein Wort ist uns Gesetz,

deine Gerechtigkeit unser Lohn.

Lass uns obsiegen, wenn Dunkelheit droht.

»Bruder Finn, es freut mein Herz, Euch wiederzusehen«, rief Großmeister Raukhar von der Arkade über dem Zeremoniensaal herunter. Er trug eine Robe mit einer Seidenschärpe, die zu beiden Seiten vom Hals hinunter hing. Das Goldamulett mit dem Flammenschwert baumelte an seiner Kette nach vorn, weil er sich über die Brüstung beugte. »Kommt ins Ordinariat und berichtet mir von Eurer Reise.«

Finn ging die Treppe hoch und folgte dem Großmeister vorbei an den Ruheräumen ins Ordinariat. Er grüßte zwei Brüder, die ihn passierten und schloss die Türe hinter sich.

Tageslicht belebte einen Rundbogen mit Buntglasfenstern, die in zwei Seiten aufgeteilt waren. Links strebten Flüsterlinge mit ätherischen Körpern aus den Tiefen hinauf in die Welt der Menschen und griffen mit ihren Krallen nach den Wurzeln der Bäume, um sich hochzuziehen. Rechts stand eine Lichtgestalt aus Indigo auf dem Gipfel eines Berges und scharte Krieger um sich, die sich im Kreis um ihn versammelten. Bunte Lichtflecken der Szene fielen auf einen Schreibtisch voll mit Schreibfedern, Tintenfässchen und Papierstapeln. Außer der Stirnseite mit den Fenstern und dem Kamin war jeder Zoll Wand mit Bücherregalen verkleidet, deren Bretter sich unter der Last von Folianten bogen.

Großmeister Raukhar strich sich das schüttere Haar nach hinten und setzte sich. Das Leder des Sessels knarzte unter dem Mann, dessen Bauch seine Amtsrobe wölbte. »Ihr seid schneller zurück, als ich erwartet hatte. Ich nehme an, Ihr seid mit einer Himmelsbarke von Wranis zurückgekehrt? Gibt es Neuigkeiten vom Tempel Bahlinors, ist der Großmeister mit den Umbauarbeiten fertig?«

»Nein, Großmeister. Wir wurden auf dem Weg von Krummlingen überfallen«, erwiderte Finn. Er kramte aus der Innentasche seines Umhangs die Siegelrolle von Exarch Gamrion hervor.

Raukhar nahm sie entgegen, brach das Siegel und las. Seine Stirn legte sich in Falten. »Er schreibt vom Attentat auf sein Leben und von den Kultisten, die sich ausbreiten. Außerdem lobt er Eure Stärke – Euer Kampfesmut werde dem Heiligen gerecht.«

Finn nickte verhalten. Wenn er denn so gelobt wurde, wieso durfte er nicht mit nach Wranis, um sich dort einen Namen gegen die Kultisten zu erkämpfen?

Großmeister Raukhar lachte auf. Das Echo wurde von den Büchern aufgesogen, als säßen sie in einem Teppichladen. »Ich kann es von Eurem Gesicht ablesen. Ihr grämt Euch, nicht kämpfen zu dürfen. Doch es ist der Glaube, der Euch Kraft verleiht. Und Ihr solltet auch Glauben in Eure Brüder setzen. Sie geben Euch die Aufgaben, die Ihr braucht, um Euch zu entwickeln. Habt Geduld.«

»Botendienste, Segnungen, das Einsammeln von Spenden, Eskorten. Wenn ich keine Gelegenheit zum Kampf erhalte, kann ich wohl kaum Ruhm ernten? Wieso kann ich nicht mit meinen Brüdern auf die Jagd nach Dämonen gehen?«

»Dämonen sind nicht die einzigen, gegen die es zu kämpfen gilt«, mahnte der Großmeister, zog die Brauen hoch und hob den Zeigefinger. »Übt Euch in innerer Betrachtung.« Er stand auf und legte Finn die Hand auf die Schulter. »Den Novizen habt Ihr beim Initiationsritual hinter Euch gelassen. Beim Durchschreiten der Indigoflammen hat Euch das Feuer nicht verzehrt, daher habt Ihr Euren Mut und Eure Rechtschaffenheit bereits unter Beweis gestellt. Nun werden Eure Pflichten Euch auf dem Wetzstein des Glaubens schleifen. Nehmt heute Abend eine Himmelsbarke zum Gipfel des Sacklings, in ein paar Stunden seid Ihr oben. Wohnt dem Ritual bei und entzündet mit unseren Brüdern das Feuer – das erste Licht des neuen Jahres.«

»Möchtet Ihr dieses Jahr nicht selbst zum Ritual?«

»Nein, übernehmt das dieses Mal für mich.«

Finn war verwundert, dass sich Raukhar dieses Ereignis entgehen ließ.

»In meiner Doppelrolle als Großmeister unseres Tempels in Helinas und dem Bergtempel auf dem Sackling kann ich nicht allen Aufgaben gerecht werden, die man mir abverlangt. Deshalb muss ich Prioritäten setzen.«

Finn hatte mal wieder das Gefühl, dass bei ihm alle unangenehmen Aufgaben, die keiner erledigen wollte, abgeladen wurden. Aber er hatte keine andere Wahl, er musste Geduld zeigen. »Wie Ihr wünscht«, antwortete Finn zerknirscht und verließ den Raum.


Die Himmelsbarke schaukelte sachte hin und her, während sich die Oberfläche von Finns Fischsuppe nach links und rechts neigte. Er saß im Speiseraum am Tisch und hatte neben der Schale einen Zwergenberg aus Gräten angehäuft, die der Koch nicht aus dem Fleisch gezogen hatte.

Wieso kann es auf Himmelsbarken nicht Vögel zu essen geben, wenn es auf Ozeanschiffen Fisch zum Essen gibt, fragte er sich, zog sich eine weitere Gräte aus dem Mund und platzierte sie auf dem Haufen. Was beschwerte er sich eigentlich? Für Überfahrten auf Schiffen und Himmelsbarken mussten Geistliche und ihre Begleiter nicht zahlen, und das dank dem Einsatz von Exarch Gamrion, der die Dienste von Priestern gegenüber der Krone als Notwendigkeit durchgesetzt hatte. Daher sollte er sich freuen und die kleinen Unannehmlichkeiten hinnehmen.

Der Lichtkegel der Öllampe, die an einem Deckenbalken hing, glänzte im Blut der Fische, denen der Koch an seinem Hackbrett die Köpfe abschlug. Etwas an der Art und Weise, wie er es tat, verdarb Finn den Appetit. Er schob die Suppe beiseite und schaute zum Spielmann, der ihm gegenüber am Tisch saß.

Saite für Saite zupfte er an seiner Laute mit dem abgeknickten Kopf und drehte an Rädchen, bis ihm das Ergebnis gefiel. Beim letzten Ton verzog er das Gesicht, dann lächelte er und spielte eine Melodie. In sein Spiel mischten sich Missklänge, die beim Zuhören wehtaten. Und das Knarzen des Barkenholzes verwandelte die Disharmonie in etwas, das dem Kampflärm zwischen Hund und Katze glich.

Finn zuckte bei jedem Fehlgriff innerlich zusammen und ahnte, dass der Mann ein Möchtegern und kein echter Barde war, die mit ihrer Musik nicht nur die Laune hoben, sondern auch Geschichten erzählten.

Da Finn weder der Fisch noch die Musik schmeckte, schnappte er sich seinen Mantel und verließ die Messe. An Deck erfasste ihn ein kalter Wind, weshalb er seinen Mantel zuknöpfte und hoch zum Rochenleviathan blickte, dessen ultramarinblaue Haut sich nur durch den Glanz der Feuer an Bord von der Nacht abhob. Durch die Bewegungen seiner Gasblasen wölbte und flachte sich seine Bauchhaut in stetigem Rhythmus auf und ab. An seinem Leib hingen dicke Eisenringe, an denen die langen Ketten befestigt waren, welche die Himmelsbarke mit ihm verbanden.

»Gut, Höhe halten!«, blaffte der Kapitän, während die Barke eine flache Stelle unweit des Gipfels überflog. Über Umlenkrollen und Flaschenzüge ratterten Ketten und veränderten den Zug am Rochenleviathan. Der Riese ging in den Sinkflug über und beschrieb eine Rechtskurve.

»Landebrücke vorbereiten!«

Finn vergrub sein Kinn im Kragen des Mantels. Der Sackling war nicht so hoch wie die Sigisberge bei Rugand und lag unterhalb der Schneegrenze, dennoch zehrte die Kälte des Windes an Leib und Seele.

Er lehnte sich über die Reling und blickte nach unten auf das Neujahrsfeuer, das bereits auf dem Hügelkamm brannte. Das Beladen der Himmelsbarke hatte so viel Zeit in Anspruch genommen, dass er das Anzünden verpasst hatte.

Gebäude schälten sich aus der Nacht, vom wenigen Mondlicht beschienen. Finn musterte den Landeturm zwischen den Steinhäusern. Während die Luftbarke über dem Turm schwebte, warf ein Luftmatrose Ankerseile aus. Zwei Arbeiter tänzelten auf dem Dach und fischten mit Langhaken nach den Ösen der Seile, die von der Barke baumelten. Wenige Sekunden später sank die Luftbarke noch tiefer, nun zogen die Arbeiter den Rumpf über Poller an die Turmkante heran und setzten die Landebrücke an.

Finn verließ den Landeturm, welcher der bauliche Höhepunkt der Siedlung war, in der sich Hütten aus Holz und Stein nebeneinander reihten und die einzige Straße des Orts säumten. Finn blickte auf seine Füße, um in der Dunkelheit nicht auf Kuhfladen oder Ziegenköttel zu treten. Während er so seinen Schritt beobachtete, sprach ihn jemand von der Seite an.

»Kampfpriester«, wisperte eine Frau vor einem Hoftor, das ihr bis zu den Knien reichte. Ein Zicklein legte den Kopf über den aus Weidenzweigen geflochtenen Zaun und blökte Finn an.

Die Frau verpasste dem Tier einen Klaps mit einem Hirtenstab und schickte es in den Bretterverschlag zurück. Weiße Haarsträhnen kringelten sich unter dem rosengeblümten Kopftuch über ihrer Stirn. Sie zupfte sich die Schafwolldecke, die sie über den Schultern trug, über der Brust zusammen und sah Finn mit betrübter Miene an.

Finn kannte diesen Blick. In solchen Momenten rangen Menschen mit dem Schmerz in ihren Herzen. Er hatte keine Zeit für so etwas, aber ihm blieb keine Wahl, denn sein Amt und Großmeister Raukhar verlangten danach, dass er sich neben seinen Verpflichtungen im Kampf auch den sakralen Aufgaben seines Ordens widmete. Er atmete durch, ging auf die Frau zu, blieb vor dem Hoftor stehen und schaute sie an. »Möge der Heilige Euren Weg erleuchten. Ich bin Bruder Finn, was kann ich für Sie tun?«

»Mein Mann geht seit vier Monden nicht mehr die Schafe hüten.« Ihre Worte klangen hohl, als sei sie ein Tonkrug ohne Inhalt. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich … Er hat Schmerzen, Bruder Finn. Solche, die man seinem Feind nicht wünscht.« Sie schluckte hörbar.

»Bringt mich zu ihm, gute Frau.«

Sie öffnete ihm das Hoftor und führte ihn über zwei Stufen in die Hütte.

Finn schlug der Geruch des Todes entgegen, noch bevor er den Hirten erspäht hatte. Es roch nach Farnkrauttee, Urin und Blut. Dazu schlängelte sich eine süßliche Note nach Stillem Grünwurz durch die Luft. Das Halluzinogen wurde für Rauschzustände und zur Schmerzstillung verwendet und mochte für eine Hirtenfrau ein Vermögen kosten. Es war keine Seltenheit, dass Familien sich bei der Pflege ihrer Kranken bis an den Ruin verausgabten.

Finn setzte sich auf einen Schemel ans Bett und sah dem Hirten ins Antlitz. Es war nicht das fahle Mondlicht, das für seine Blässe verantwortlich war. Seine Züge wirkten verkrampft, Falten zogen sich durch sein Gesicht und seine Lippen standen einen Spalt breit offen.

»Ist er noch bei Bewusstsein?«, wollte Finn wissen und legte ihm die Hand auf die Stirn.

»Nein, ich kann ihn schon seit einer Woche nicht mehr erreichen.« Ihre Stimme brach bei den letzten Worten. »Bitte Bruder Finn, er kann nicht loslassen.«

Finn fühlte die Hitze auf der Stirn des Hirten, den kalten Schweiß auf seiner Haut. Als Novize hatte er die Sterbebegleitung den Priestern überlassen, die sich mit Gebeten, Barmherzigkeit und Mildtätigkeit besser auskannten. Sie hätten ihre Gebete gesprochen, Familienangehörige ans Sterbebett gerufen und Trost in der Gegenwart des Todes gespendet. Neben Kerzenlicht hätte es auch Weihrauch und Frischwasser gegeben, mit dem sie das Gesicht des Sterbenden gewaschen hätten. Doch am Ende taten sie nichts anderes, als einen Menschen zu töten. Finn war da anders, er machte sich nichts vor, wollte die Sache hinter sich bringen, diesen Teil seiner Kampfpriesterschaft schnell abhandeln.

Finn schloss die Augen und sprach die Worte des Lichts: »Möge Euch die Goldmöwe auf ihren Schwingen davontragen.« Kraft strömte durch seinen Arm in seine Hand und floss über die Stirn des Hirten in seinen Körper. Finn nahm den Schmerz wahr, der sich um die Seele des Sterbenden geschnürt hatte. Er sah den Lebensfunken, der im Verschwinden begriffen war, während die Dunkelheit um ihn herum wuchs. Bei jedem dritten Herzschlag verschwamm Finns Sicht, gleich einem Stein, der die Wasseroberfläche mit seinem Einschlag in Wellen versetzte. In Gedanken streckte Finn die Hand aus und ließ das Licht des Heiligen durch sich fließen.

Finn öffnete die Augen und blickte in ein Gesicht, aus dem Spannung und Schmerz gewichen waren. Sein Lebensodem war erloschen. Hinter Finn begann die Hirtin zu schluchzen.

»Danke, Bruder Finn, Ihr habt seinem Leid ein Ende bereitet«, stammelte sie.

Ihr meint, ich habe ihn getötet, dachte Finn. Hilfe wäre gewesen, den Mann heilen zu können, ihn wieder mit dem Leben zu vereinen. Der Tod am Ende einer Klinge besaß mehr Ehrlichkeit, als die Kult gewordene Scheinheiligkeit solcher Rituale.

Finn erhob sich und machte Platz für die Witwe, die ihre Lippen auf die Stirn ihres Mannes drückte und weinte. Ohne ein weiteres Wort verließ Finn die Hütte und setzte seinen Weg fort.

Die Straße mündete in einem Pfad, der sich in Serpentinen zum Gipfel hinaufschlängelte. Finn strebte zum Neujahrsfeuer auf dem Gipfel des Sacklings, stemmte sich gegen den Wind und blinzelte sich die Kältetränen weg. Tagsüber stellte der Trampelpfad eine Herausforderung dar, doch nachts war er eine Gefahr für Leib und Leben. Wurzeln griffen nach seinen Stulpenstiefeln, Bergeichen und Schwarzkirschen grapschten mit ihren Zweigen nach seinem Mantel und seinen Haaren. Da er einen Sturz fürchtete, tastete er mit dem Schaft seiner ausgefahrenen Lahras nach dem Boden. Eine Fackel oder sein Heiliges Feuer zu entzünden, wäre ein Sakrileg, in der Nacht des Lichtfests durfte lediglich das Feuer auf dem Gipfel brennen. Es symbolisierte das Licht, das der heilige Durhelian den Menschen im Kampf gegen die Dämonen geschenkt hatte.

Erste Schatten zuckten zwischen den Baumstämmen und Büschen. Es war nicht mehr weit. Nach einer letzten Kehre in der Serpentine des Pfades stolperte Finn in den Schein des Feuers.

Was sich ihm darbot, wollte sein Kopf nicht begreifen. »Bei den Verfluchten Sieben«, hauchte er und erstarrte. Keiner seiner Brüder stand um das Feuer, es brannte einsam. Das Kopfsteinpflaster um den Scheiterhaufen glänzte vor Blut. Überall lagen Lahras, Körperteile, Speere und lose Seiten des Ranarian. Hier hatte ein Kampf stattgefunden.

Ein Massaker.

Finn erkannte Schädel und Plattenharnische im Feuer. Es waren seine Brüder, die mit ihrem Fleisch und ihren Knochen die Flammen nährten.


»Du hast einen so schönen Kopf. Ich mutmaße, dass er gut brennt.«

– Häuptling Alhaunirs Brief an seine Mutter, erster und einziger Satz.

Kapitel Zwei
Gefangenschaft

Talisa rieb sich den Schlaf aus den Augen, während Wurstfinger nach ihrer Brust grapschten und zu kneten begannen. Von hinten drängte ihr jemand sein Glied an den Hintern. Tageslicht waberte durch die Vorhänge der Fenster in den Raum, in dem es nach Schweiß und Lust muffelte. Sie setzte sich auf und schlug dem Mann neben ihr ins Gesicht, sodass er vor Schreck aus dem Bett kippte. Der Nackte rappelte sich auf und grinste sie an.

»Das Vorspiel haben wir doch schon hinter uns«, nuschelte er. Es war nicht zu überhören, dass er mit einem Zahn in seinem Mund jonglierte.

»Raus mit dir, sonst bring ich dich um!« Stahl lag in ihrer Stimme. Sie erinnerte sich vage, dass sie viel getrunken und mit ihm geschlafen hatte.

Als er sah, wie sie nach ihrem Bastardschwert auf dem Nachtisch griff, gefror sein Grinsen zur Maske. Er schlüpfte in ein Hosenbein und humpelte zur Tür hinaus, im Flur tat es noch einen Schlag, danach erklang das Knarzen von Treppenstufen.

»Wieso tue ich mir das immer wieder selbst an?«, murmelte Talisa, streckte sich durch und schälte sich aus dem Bett. Das schummrige Licht im Raum ging ihr auf den Geist. Wieso musste der Morgen danach immer so wehtun?

Noch während sie die Vorhänge aufriss, bereute sie es. Sonnenlicht stach ihr in die Augen und es dauerte einen Moment, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Obwohl ihr der Schädel dröhnte, musste sie sich ranhalten, sonst würde sie das Schiff verpassen. Sie zog sich an, prüfte den Sitz der Rüstung und des Waffengurts.

Sei immer vorbereitet. Die Worte von Hauptmann Kasturon, ihrem ehemaligen Waffenmeister, drangen immer wieder ungefragt in ihr Bewusstsein und begleiteten sie nun schon ein paar Jahre. Sie verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter in den Schankraum, wo bereits Unterführer Hammling am Tresen saß.

Er fuhr sich über die Glatze und schenkte ihr einen abgeklärten Blick.

»Sind die Männer bereit?«, keifte sie.

Hammling stand auf und nahm Haltung an. »Ja Hauptmann, sie stehen am Hafen von Rugand bereit, alle warten auf Euch.«

»Gut, dann los.« Talisa ließ den Wirt unbeachtet, der auf die Bezahlung der Rechnung hoffte. Niemand, der bei Verstand war, wagte es, Truppen in zinnoberroter Rüstung auf etwas Unangenehmes anzusprechen. Auch nicht, wenn sie Söldner waren.

Zur Sicherheit fuhr Talisa sich durch das lange schwarze Haar, wollte wissen, ob Stücke von Erbrochenem darin klebten, was schon einmal vorkam. Sie legte sich die Haare über die Schulter und war zufrieden. Außer einem Hauch vom Smaragd schimmerte nichts anderes darin.


Über dem Hafen flogen Seevögel, die auf der Suche nach Fischabfällen waren. Sie wurden jeden Tag vom Geruch angelockt, während die Seeleute den Fang des Morgens einfuhren. Beim Flug durch den Mastenwald am Anlegesteg prahlten die Vögel mit ihrer Luftakrobatik und ließen grauweiße Tupfer auf die Schiffsdecks fallen – sehr zum Unmut der Luftmatrosen, die keinen Morgen ohne Schrubben beginnen konnten.

Das Salz der Meeresluft brannte Talisa in der gebrochenen Nase, die schief zusammengewachsen war. Sie ließ sich ihren Kampf mit den Kopfschmerzen nicht anmerken, stattdessen lenkte sie ihr Pferd langsam in die Mitte ihrer Männer. Mit dem Glanz ihrer Rüstungen und dem ausgelassenen Ausdruck ihrer Gesichter vermittelten sie einen ausgeruhten Eindruck.

»Hauptmann Talisa!«, rief der Kapitän von Deck.

Sie wippte nach vorn und ließ ihr Ross über die Rampe an Deck gehen. Berittene an Bord waren wie Kopfbedeckungen in einem Tempel ein Akt der Respektlosigkeit, was Talisa durchaus bewusst war. Oben angekommen, warf sie einen Blick über die Matrosen, die Kisten verstauten und das Hauptsegel in Form brachten. Niemand wagte es, ihr in die Augen zu blicken. Man kannte sie.

Sie stieg ab und übergab die Zügel einem Bootsjungen.

»Euer Auftritt und Euer Hintern gefallen mir«, schleimte der Kapitän.

Dachte er wirklich daran, sie anzubaggern?

»Wenn Ihr ein paar Ziegen an Bord habt, füllt sie ab und macht sie Euch zu Willen. Solltet Ihr mich anfassen, schneid ich Euch das Gemächt ab und verfüttere den Winzling an die Schweine, verstanden?«

Lass sie Härte schmecken, gib ihnen keine Chance, sich überlegen zu fühlen.

Der Seebär schmunzelte und wandte sich dann wieder seinen Leuten zu. Er schien ein Mann zu sein, der ein Nein als Einladung zur Eroberung betrachtete.

»Macht Euch bereit zum Ablegen und bringt mir eine Ziege zum Rammeln!«, brüllte der Kapitän über Deck. Dann wandte er sich ihr erneut zu. »Hauptmann Talisa, Herrin der Bezwinger, Söldnerin im Dienste Tilayndors, hat man Euch denn nicht über die neuesten Entwicklungen informiert?«

Keiner sprach sie mit vollem Titel an und erzählte danach Gutes. »Spuckt aus, was Euch im Darm quer liegt«, forderte sie kalt.

»Die Krone benötigt Eure Dienste nicht mehr und hat Eure Beschäftigung aufgekündigt. Es wird gemunkelt, dass bei vielen Söldnertruppen Untersuchungen und Verhaftungen angeordnet wurden. Eure Aufgabe, den Schutz der Hafenanlage von Harweyl zu übernehmen, wird nun der dortigen Stadtgarde übertragen.«

Talisa klappte der Kiefer herunter. Sie stand seit einer halben Dekade im Dienste Tilayndors, dem Sitz der Krone, trug das Zinnoberrot, hatte für die Jorvenlande gelitten und geblutet und jetzt wurde sie einfach aussortiert. Sie fühlte Hitze in ihre Wangen steigen, wollte wüten und toben, dem Kapitän den Kopf abschlagen. Doch sie riss sich zusammen und besann sich darauf, das Schiff zu verlassen, bevor es hier Ärger gab.


Heute Nacht wollte Talisa an nichts denken müssen. Also küsste sie einen Mann, den sie erst seit einer halben Stunde kannte, und schmeckte das Schwarzbier, von dem er reichlich getrunken hatte. Ihre Hände lösten seinen Gürtel, danach fuhren sie unter sein Hemd und über die Brust. Sie fand den Moschusgeruch des Schmieds betörend, vermutlich würde sie ihn später verschonen. Schwielige Hände packten ihren Hintern, kneteten ihn und fuhren über ihren Rücken. Sein Bart kratzte ihr Gesicht so wie die Hornhaut seiner Hände ihre Brüste. Ein Schauer jagte ihr durch den Schoß, als er sie an sie presste. Ihre Finger glitten in seine Hose und fanden ein schlaffes Glied.

Sie drückte ihn von sich weg und sah ihm in die Augen, die sich in alle Richtungen drehten. Der Mann war kaum noch bei Bewusstsein.

»Verflucht! Ich habe gesagt, dass du nicht so viel saufen sollst.«

Der Mann grinste, »Dsss liegt aaan diiir, Schätzche«, lallte er.

Sie verpasste ihm eine Ohrfeige, die alle fünf Finger auf die Wange tätowierte. Der Mann kippte nach hinten aufs Bett. Es war weniger die Backpfeife und mehr der Alkohol, den er nicht so gut vertrug. Er wandte den Kopf ab und schnarchte.

»So ein Idiot.« Talisa wusste nicht, wohin mit ihrem Frust. Während sie dastand und den Schmied mit halb heruntergelassener Hose auf dem Bett liegen sah, wurde ihr Kopf schwer. Dabei dämmerte ihr, dass sie heute schon wieder über die Stränge geschlagen hatte. Sie taumelte zum Bett und kippte auf die Matratze. Das marode Gestell ächzte unter der Belastung. Ein Blick zur Decke gab ihr das Gefühl, dass sich der ganze Raum drehte. Sie setzte ihren Fuß an die Hüfte des Schmieds und trat ihn über die Kante.

Er polterte auf den Boden, grunzte und schnarchte weiter.

Sie breitete die Arme und Beine aus und versuchte das Bett festzuhalten, das sich ohne Unterlass drehte. »Diese Sesselfurzer in Tilayndor, alles Greise, die viel auf sich halten, aber keiner von denen hat je ein Schwert in den Händen gehalten. Gerede ohne Inhalt, zweifelhafte Erfolge, kein Ruhm, keine Ehre in der Schlacht. Sie lassen andere für sich kämpfen und bluten«, murmelte Talisa und überlegte, ob sie sich übergeben musste.

Zumindest war sie in Rugand gestrandet, wo man sich einen Mann anlachen konnte, ohne dem gleichen zweimal begegnen zu müssen. Liebe und Zuneigung hatte sie noch nie viel Wert beigemessen, da sie nicht für die Ewigkeit geschaffen waren. Stattdessen setzte sie auf Angst, Respekt und Gehorsam, Werte, auf deren Schultern man ein Imperium gründen konnte. Dennoch half das alles nicht, das Bett daran zu hindern, sich zu drehen. Sie schloss die Augen und hoffte, dass sie bald einschlafen würde.

Ein Geräusch riss Talisa aus dem Schlaf, ihr Mund fühlte sich schal an. Sie schluckte und richtete sich rücklings auf den Ellbogen auf. Neben dem Bett sägte ihre Bekanntschaft ganze Wälder ab.

Da war es wieder, ein Kratzen … Jemand war vor der Tür und fummelte am Schloss herum.

Sie wälzte sich aus dem Bett und taumelte in den Stand.

»Klare Gedanken. Klare Gedanken. Klare Gedanken«, hörte sie sich flüstern. Talisa legte sich den Waffengurt um und war froh, dass sie sich im Suff mitsamt der Rüstung ins Bett gelegt hatte. In der Hoffnung, keinen Laut zu verursachen, zog sie ihren Dolch aus dem Stiefelhalfter und schlich zur Tür. Wer immer da draußen auch stand und sich an ihrem Schloss zu schaffen machte, er würde morgen am Hafen bei den Fischen liegen.

In der Rechten hielt sie den Dolch, mit der Linken fasste sie den Türknauf und wartete. Es klickte.

Mit Schwung riss sie die Tür auf und stach den Dolch in die Brust des Mannes, der noch den Dietrich in der Hand hielt. Vor Schreck brachte er lediglich ein Gurgeln zustande, während sein Nebenmann ein Messer zückte. Talisa zog den Dolch wieder heraus und schlug die Tür in die Angel. Unter dem Schlag erbebte das Türblatt und brach die Nase des Mannes dahinter, was Talisa an dem Aufschrei des Kerls vermutete.

Sie wandte sich um und eilte zum Fenster, schob es auf und blicke hinunter. Es war nicht tief, zwei Stockwerke, wenn sie sich ein Stück heraushängen würde, könnte es klappen. Zwei Schatten stahlen sich auf der Straße durch die Dunkelheit, was ihr verriet, dass man sie dort bereits erwartete.

Wenn dir nichts mehr bleibt, dann sorge für Chaos.

Einer der Angreifer hämmerte gegen die Türe, Waffen klirrten, jemand blaffte Befehle.

Die Tür würde nicht lange halten. Talisa rang nach einem Plan.

Mach das Beste aus dem Wenigen, was du hast.

Sie nahm die Öllampe vom Nachttisch und warf sie auf das Bett. Petroleum verteilte sich in einem Flammenteppich über die Schlafstatt. Mit dem Dolch schnitt sie ein Stück Laken ab, holte den Porzellannachttopf unter dem Bett hervor und tunkte den Stoff in die Brühe. Sie wickelte sich den Stoff um Mund und Nase – keine Sekunde zu früh.

Die Türangeln barsten unter dem Gewicht der Männer, die von außen dagegen drückten. Der Brand beleuchtete mehrere Angreifer in erdbrauner Kapuzenrobe.

Es war lediglich ein Moment, in dem sie sich im Schein der Flammen maßen, dann warf Talisa ihnen den Topf entgegen. Brühe spritzte in alle Richtungen, als das Porzellan am Türrahmen zerschellte. Zeitgleich sprintete sie vor und rammte dem vordersten Mann den Dolch bis zum Anschlag in den Bauch, zog ihn heraus und trat seinen Körper gegen die anderen. Geschmiedet in der Hitze von Schlachten und Scharmützeln im Norden, machte sie einen Satz nach hinten, während ihr eine Speerspitze entgegenzuckte. Hitze erfasste ihren Rücken, Flammen fraßen sich an den Vorhängen nach oben zur Decke. Das Zimmer loderte im Inferno des Feuers.

Talisa nahm die brennende Decke an einem Zipfel und schleuderte sie den Männern entgegen, die sich mit einem Sprung zu retten versuchten. Einer schaffte es nicht. Die Flammen schlossen sich um ihn. Unfähig sein Martyrium zu beenden, kreischte er wie ein Chorknabe im Stimmbruch und stolperte hinaus in den Flur. Hinter ihm verwirbelte der Qualm, der von der Decke herunter waberte. Husten, Schreie, Befehle – alles im Trubel des Infernos. Talisa, eine Freundin von Blitzentscheidungen, sprang ins Fahrwasser der wandelnden Katastrophe. Sie rannte an bewaffneten Männern vorbei, die sich eilten, der Menschfackel aus dem Weg zu springen. Als dieser stolperte und sich auf dem Boden wälzte, sprang Talisa über ihn hinweg und polterte die Treppe in den Schankraum hinunter. Nach zehn Schritten erreichte sie den Ausgang. Den Schlag, der sie am Kopf traf und ihr Bewusstsein auslöschte, sah sie nicht kommen.


Das beständige Tropfen von Wasser in eine Pfütze untermalte das Gestöhne der Gefangenen. Sie saßen in Einzelzellen im Glutlicht einer Esse, die im Mittelpunkt einer Kreisfläche ruhte. Eine Handvoll Eisen lag bis zur Hälfte in der Glut. Der Gestank nach Angst und Schweiß beschmutzte die Luft.

Kopfschmerzen weckten Talisa. Sie schlug langsam die Augen auf, alles drehte sich.

Hörte das denn nie auf? Sie griff zur Seite, hatte den Drang ihren Bettgefährten zu schlagen, doch sie fühlte lediglich nackten Steinboden. Im Kampf gegen ihren Brummschädel richtete sie sich auf.

»Vater Klein hat schon lange keine Frau mehr gesehen«, stammelte ein Mann in Lumpenbekleidung, der sich an ihr Zellengitter drückte. Bart und Haare nahmen sich an Länge nichts, sie waren zu einem graubraunen Haarbündel verwachsen, in dem sich etwas bewegte.

»Behalte deine Finger bei dir, sonst beiße ich sie dir ab«, schnauzte Talisa, die es nicht schätzte, wenn man sie morgens ansprach.

War es morgens oder abends? Sie rieb sich die Stirn und zuckte zusammen, als sie die Beule darauf berührte.

Was war passiert? Ein Liebhaber, viel Alkohol und dann ein Angriff. Man hatte sie entführt. Welcher Narr vergriff sich an ihr?

»He du, Schmutzbart, wo sind wir hier?« Ihr Hals kratzte und ihre Lippen schmeckten salzig.

Schmutzbart machte einen Satz nach hinten und streckte die Arme aus. »Firuwahrs Kerker. Wir sind am längsten hier. Leute, die man vergessen hat und von denen man viel lernen kann. Stimmts, Vater Klein?« Er hielt etwas in seiner kruden Faust, das er mit seinem Daumen streichelte.

Talisa wurde alles klar. Ihr Zellennachbar hatte nach Jahren der Gefangenschaft und Folter seinen Verstand eingebüßt und schwatzte mit Nagern. Sie schätzte ihn auf fünfzig Sommer, etwa zwei Dekaden älter als sie selbst. Brandmale lugten durch Risse und Löcher seiner morastbraunen Bekleidung. Sie blickte an sich herab und stellte fest, dass auch sie Lumpen trug, die nach Schweiß rochen und vor Blutflecken steif waren. Einige gesprenkelt, andere langgezogen. Der Übelste befand sich am Ausschnitt. Einem Collier aus flüssigen Rubinen gleich zeichnete er sich bis zur Brust ab. Ihr Vorgänger hatte den Kopf verloren und ihr ein Sterbehemd vermacht.

»Wie läuft das hier?«, fragte sie. Was es auch sein mochte, sie wollte es kommen sehen.

»Was sagst du, Vater Klein? Sie hat keine Geduld? Ja, das denke ich auch.« Er führte seine Hand zum Bart und ließ den Nager hineinkrabbeln. »Einmal am Tag gibts Essen. Es schmeckt nicht, aber es macht satt. Und wenn es nicht krank macht, hilft es dir durchzuhalten. Die Neuen werden gefoltert, aber sterben tun alle. Manchmal vergessen sie einen, so wie mich. Ich weiß nicht, weshalb ich hier bin.«

»Ich habe Männer, sie werden bereits nach mir suchen. Ich lege diesen Laden in Schutt und Asche und blase es diesem Firuwahr in den Hintern!«

Schmutzbart lachte. »Große Töne und am Ende bleibt einzig Vater Klein.« Er lachte in seinen Bart hinein.

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