Buch lesen: «Sieben Helden», Seite 4

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9. Die Idee

Der Nachmittagsschlaf hatte Johannes gut getan. Als er aufwachte fühlte er sich schon wieder viel besser. Er setzte sich auf die Bettkante, reckte und streckte sich und gähnte genüsslich. Einen Moment lang blieb er dort noch sitzen und blickte ins Leere. Irgendwie fühlte er auf einmal eine gewisse Stärke in sich und war sich nicht mehr sicher, ob er das Dorf wirklich so schnell verlassen wollte, wie er vorhin noch geglaubt hatte. Dann aber hörte er von nebenan das Klappern von Geschirr. Er stand auf und ging zurück zu den anderen, die schon beim Abendessen saßen, so lange hatte er geschlafen. Gregor bemerkte ihn als erster:

„Na, du Helden-Schlafmütze, geht es wieder?“

Johannes gähnte noch einmal und setzte sich dann an den Tisch, Hunger hatte er nämlich auch und so griff er gleich zu.

„Hast du dich ausgeschlafen? Gut, mein Junge“, sagte Jakobus, „dann iss erst einmal etwas Gutes, egal wie es weiter geht, du musst richtig bei Kräften sein. Wir haben gerade darüber geredet, was nun am besten zu tun ist. Und wir glauben, es bleiben nur zwei Möglichkeiten.“

Er schnitt eine dicke Scheibe vom Speck ab und reichte sie Johannes.

„Entweder wir helfen dir, so schnell wieder aus unserem Dorf zu verschwinden, wie du gekommen bist. Dann hat die ganze Aufregung eben gleich wieder ein Ende, weiser Mann hin oder her. Die Leute werden zwar enttäuscht sein, aber kommen schon darüber hinweg, fürwahr. Außerdem musst du ja auch wieder nach Hause, deine Eltern werden sich irgendwann Sorgen machen.“

Jakobus trank einen Schluck Wein, kratze sich am Kinn und fuhr dann fort.

„Oder wir vertrauen darauf, daß der weise alte Mann auch diesmal Recht hat, du bleibst hier und versuchst uns zu helfen. Auch wenn keiner von uns weiß, wie du das bewerkstelligen kannst.“

Johannes hatte den Mund voll Speck und Brot und konnte nicht gleich antworten.

„Er bleibt natürlich!“, rief Gregor. „Uns wird schon einfallen, wie wir die Sache anpacken können. Und damit ihr es nur wisst: Ich will auch zu den Sieben gehören, ich hab' Johannes doch überhaupt erst zu uns geführt!“

Marie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Wie niedlich, nehmt noch sechs andere Dorfkinder dazu und der Admiral wird sich in die Hosen machen!“

Gregor schaute sie böse an, doch bevor er etwas sagen konnte, kam ihm seine Mutter zuvor. „Papperlapap, jetzt lassen wir Johannes zuerst in Ruhe essen. Er soll sich richtig satt essen und dann erst wird entschieden!“

Jakobus nickte. „Du hast Recht, Grethe. Soviel Zeit muss sein. Also iss ruhig, mein Junge. Ein leerer Bauch entscheidet nicht gerne.“

Und Johannes langte wirklich ordentlich zu, er hatte einen Bärenhunger. Als alle mit dem Essen fertig waren und der Tisch abgeräumt war, klopfte Jakobus Johannes väterlich auf die Schulter. „Und, mein Junge, weißt du schon, was du tun wirst? Gehen oder bleiben?“

„Ich bin noch nicht sicher, glaube ich.“ antwortete Johannes.

„Gut, dann lassen wir dich jetzt in Ruhe darüber nachdenken. Wir anderen gehen am besten raus in die Schmiede. Heute haben schon viel zu viele auf dich eingeredet. Manche Entscheidungen trifft man besser allein.“

„Marie und Gregor sollen aber hier bleiben.“ Johannes war es lieber, doch nicht ganz allein zu bleiben.

„Gut, wie du willst“, sagte Jakobus, „dann soll das junge Volk gemeinsam beraten. Komm, Grethe, lassen wir sie.“

Die beiden standen auf, nickten den Kindern aufmunternd zu und gingen dann hinaus. Johannes, Gregor und Marie blieben allein zurück und sahen sich eine Weile wortlos an, offenbar waren sie überrascht, daß die Erwachsenen ihnen zutrauten, diese wichtige Entscheidung allein zu treffen.

„Ich muss euch etwas sagen“, fing Johannes an. „Als ich heute morgen sagte, daß ich den weisen Mann noch nie getroffen hätte, hat das nicht ganz gestimmt.“ „Also bist du ihm doch schon einmal begegnet?“, fiel ihm Gregor ins Wort. „Wusste ich es doch!“

„Nun lass ihn doch erst einmal ausreden“, bremste Marie ihren Bruder.

„Na ja, getroffen stimmt auch nicht richtig. In der Nacht bevor ich zu euch kam, da ist er mir im Traum erschienen.“

„Das wird ja immer toller.“ Marie rollte ungläubig mit den Augen. „Das halbe Dorf hält den Alten für einen Hexenmeister, der in die Zukunft sehen kann, und dir erscheint er auch noch im Traum.“

„War nun mal so. Er hat mir im Traum im Grunde auch erzählt, wie ich zu euch kommen kann.“

„Natürlich hat er das“, meinte Gregor völlig überzeugt. „Dein Traum und die Prophezeiung passen doch wunderbar zusammen. Und hat er dir auch erzählt, wer die Sieben sind und wie du mit ihrer Hilfe den Admiral besiegen kannst?“

„Kann mich nicht daran erinnern, nein, glaube ich nicht. Vom Admiral oder irgendwelchen Banditen war überhaupt nicht die Rede.“

Gregor bohrte weiter: „Aber er muss doch irgendetwas dazu gesagt haben, was du hier bei uns tun sollst, sonst hätte er dich doch nicht hergeschickt?“

„Nein, hat er aber nicht.“ Johannes schüttelte heftig den Kopf.

„Na gut, tun wir mal so, als ob an der Geschichte vom Wahrsager und dem Traum etwas dran ist“, sagte Marie, wurde aber gleich wieder von Gregor unterbrochen: „Natürlich ist es das! Hör doch einmal auf Vater und hab ein bisschen Vertrauen.“

„Ja, ja, nun lass mich doch erst ausreden! Man träumt doch nachts oft von Dingen, die man am Tag erlebt hat. Gab es da irgendetwas Besonderes, an das du dich erinnerst?“

Johannes dachte nach. „Es war ein völlig öder Tag, total langweilig. Da ist gar nichts passiert. Ich bin sogar vor lauter Langeweile ins Bett gegangen.“

„Und woran hast du vor dem Einschlafen gedacht? Was hast du gemacht? Gelesen, gegrübelt oder an die Decke gestarrt?“ fragte Marie weiter, um Johannes auf die Sprünge zu helfen.

„Weiß ich nicht mehr, ich habe einfach sinnlos in meinem Zimmer herumgeglotzt.“

„Und was hast du da als letztes gesehen, bevor du eingeschlafen bist? Los, denk nach!“

„Na, die Möbel, die Lampe und mein Spielzeug, was da eben so herum steht.“

„Was für Spielzeug? Puppen, Holzschwerter oder ein Schaukelpferd?“

„Nein, nein, da sind, da sind...“. Johannes dachte angestrengt nach und ließ in Gedanken seinen Blick durch sein Kinderzimmer zu Hause streifen. Der Schrank, das verdunkelte Fenster, die Burg, die Ritter. „Nein, da war nichts.“

„Denk weiter nach, ist da irgendetwas, daß dich an den Admiral, unser Dorf oder die Sieben erinnert?“ Johannes grübelte weiter, stellte sich wieder sein Zimmer vor, die Burg, die Ritter, die Indianer...und plötzlich schien er eine Idee zu haben: “Natürlich, jetzt fällt es mir ein! Schnell, gebt mir etwas zum Schreiben!“

Johannes fuchtelte wild mit den Händen in der Luft herum und Marie ging schnell zum Schrank hinüber.

„Ist dir etwas eingefallen? Was denn, los sag' schon!“ forderte ihn Gregor auf, während Marie ein Stück Papier holte und ein Tintenfässchen mit Gänsekiel auf den Tisch stellte. Johannes nahm den Gänsekiel und tauchte ihn in die Tinte. Seine Lehrerin hatte so etwas einmal mit zur Schule gebracht, um der Klasse zu zeigen, wie man damit eine besondere Schönschrift schreiben kann.

„Hier, ich hab es aufgeschrieben, die habe ich zuletzt gesehen, bevor ich eingeschlafen bin!“.

Er hielt den beiden das Papier vor die Nase. „Die muss der Eichhörnchen-Typ gemeint haben, als er sagte, daß ich an die kleinen Helden denken soll! Die müssen wir finden!“

„Dann bleibst du also?“ fragte Gregor, ohne richtig gelesen zu haben, was Johannes aufgeschrieben hatte, und strahlte über das ganze Gesicht. Johannes sah ihm in die Augen und nickte energisch ohne etwas zu sagen. „Ja, ja, ja!“ jubelte Gregor und Marie war schon auf dem Weg nach draußen, um ihren Eltern die Nachricht zu überbringen.

10. Isatscho

Am nächsten Morgen lag während des Frühstücks die ganze Zeit das Papier mit Johannes' Notizen mitten auf dem Tisch. Mittlerweile hatten es natürlich alle im Hause des Schmieds gelesen, waren aber nicht richtig schlau daraus geworden.

„Wer sind diese Leute denn nur?“, hatte Mutter Grethe immer wieder gefragt, „Ich kenne keinen einzigen von denen.“

Und auch Gregor, Marie und Jakobus waren etwas ratlos und wussten nicht, wer damit gemeint sein könnte. Aber Johannes hatte gesagt, daß sie nur abwarten müssten, dann würden sie bald alles verstehen. Denn über Nacht war er sich noch sicherer geworden: Wenn die ganze Geschichte um den weisen Mann mit seiner Prophezeiung, um seinen Traum und um die Sieben, die ihm beistehen würden, einen Sinn haben sollte, dann musste einfach richtig sein, was er aufgeschrieben hatte. „Sorgt nur dafür, daß uns dieser nervige Leopold nicht in die Quere kommt und es nicht noch einmal so einen Volksaufstand wie gestern gibt!“, hatte er gesagt. Und so hatten sie folgendes beschlossen: Mutter Grethe sorgt dafür, daß im Dorf jeder erfährt, das Johannes in den nächsten Tagen die Sieben suchen würde und dabei möglichst in Ruhe gelassen wird. Sie brauchte es nur ein paar der anderen Frauen erzählen, dann würde es sich ganz von allein schnell im ganzen Dorf herumsprechen. Jakobus nimmt sich den Bürgermeister vor und überzeugt ihn, in den nächsten Tagen ganz normal seinen Amtsgeschäften nachzugehen und weiter dafür zu sorgen, daß sich das Dorf um die Aufträge des Admirals kümmert. Und Johannes, Gregor und Marie beginnen, die Sieben zu suchen.

Gregor war natürlich Feuer und Flamme und hätte am liebsten gar nicht gefrühstückt, um gleich loslegen zu können. Marie hatte noch Zweifel an Johannes' Liste, war aber viel zu neugierig, um nicht mitzumachen. Jakobus machte sich als erster auf den Weg, warf aber noch einmal einen Blick auf Johannes' Zettel.

„Ich habe zwar wirklich keine Ahnung, wen du mit denen hier meinst“, sagte er. „Aber es scheint mir eine illustre Runde zu sein, fürwahr. Na, ihr Drei macht das schon. Viel Glück!“.

Dann verließ er das Haus und ging hinüber zum Bürgermeister. Mutter Grethe wollte erst noch aufräumen, bevor sie sich an ihre Aufgabe machte.

„Kommt, nun lasst uns anfangen“, drängelte Gregor, „wir haben nur noch sechs Tage Zeit bis sie zurück kommen. Bis dahin müssen wir die Sieben beisammen haben.“ Johannes wollte aber erst noch sein Marmeladenbrot aufessen und hatte es gar nicht eilig. „Wo ist eigentlich mein Pullover geblieben?“ fragte er, nachdem er den letzten Bissen gegessen hatte.

„Liegt in der Kommode, oberste Schublade“, antwortete Marie.

„Gut, dann lasst uns anfangen. Kommt mit nach draußen!“.

Die drei gingen hinaus und setzen sich wieder auf den Holzstapel neben dem Haus. „Mit wem fangen wir an?“ fragte Gregor.

„Na, mit dem ersten auf der Liste. Lies vor!“

Johannes gab Gregor den Zettel und der las vor. „Da steht 'In-di-a-ner'“.

„Habe ich auch schon gelesen“, meinte Marie. „Aber wer oder was ist ein Indianer?“ „Indien ist ein Land weit im Osten, da gibt es Elefanten und gestreifte Löwen, habe ich gehört,“ sagte Gregor.

Johannes war nicht sonderlich überrascht, das Indianer hier im Dorf unbekannt zu sein schienen und begann zu erklären.

„Indianer kommen aus Amerika. Das ist ein großes Land und wurde durch Zufall von einem Seefahrer entdeckt, der eigentlich nach Indien wollte. Als der dann in Amerika an Land ging, dachte er, das wäre Indien und nannte die Leute, die dort lebten eben 'Indianer'.“

„Dann ist ein Indianer eigentlich ein Amerikaner? Einen Amerikaner kenne ich aber auch nicht“, stellte Marie fest.

„Gibt's in Amerika auch Löwen?“, fragte Gregor.

„Nein, Löwen gibt es weder in Amerika noch in Indien, höchstens im Zoo, Löwen leben in Afrika, und die gestreiften Löwen in Indien heißen eigentlich Tiger“, erklärte Johannes weiter.

Gregor schaute etwas verwirrt. „Haben die amerikanischen Indianer auch Streifen?“, fragte er und Johannes musste lachen.

„Nein, nur wenn sie auf dem Kriegspfad sind, dann malen sie sich welche ins Gesicht. Indianer verstehen etwas vom Kämpfen und kennen keinen Schmerz.“

„Ist ja auch egal, ob der nun aus Amerika, Afrika, oder Indien kommt, hier im Dorf kenne ich jedenfalls keinen Indianer“, kürzte Marie die kleine Erdkunde ab. „Woran können wir ihn denn erkennen?“

„Indianer leben in großen, spitzen Zelten, schmücken ihr Haar mit Vogelfedern und haben einen Tomahawk“, sagte Johannes.

„Einen Toma-was?“, fragte Gregor und sah noch verwirrter aus.

„Ein Tomahawk ist so eine Art kleines Beil mit Verzierungen dran, Indianer benutzen den als Waffe.“

„Im Zelt wohnt hier niemand und mit Federn im Haar läuft auch keiner durchs Dorf“, meinte Marie. „Beile gibt es im Dorf viele, verziert oder nicht. Fast jeder hat hier ein Beil im Haus, die kann man beim Pfeifen-Sam kaufen. Die Klingen schmiedet ihm unser Vater.“

„Wer ist Pfeifen-Sam?“, fragte Johannes interessiert.

„Pfeifen-Sam wohnt in einer Hütte etwas außerhalb am Waldrand, wir nennen ihn so, weil er eine unheimlich lange, bunte Pfeife hat, die er gerne abends vor der Hütte raucht und dabei in den Sonnenuntergang schaut. Er redet etwas komisch“, erklärte Marie.

„Na also, da haben wir ihn doch!“, freute sich Johannes. „Auf zu Pfeifen-Sam!“

Auf dem Weg zu Pfeifen-Sams Hütte merkte Johannes schon, daß er bei seiner Ankunft im Dorf dort schon vorbei gekommen war. Pfeifen-Sam saß vor der Hütte auf einer Bank und schnitzte an einem Holzstück herum. Es fiel sofort auf, daß er nicht aussah wie die anderen Dorfbewohner: Seine langen grauen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, er war außergewöhnlich gebräunt und trug eine Art Lederhemd, das man schnüren statt knöpfen konnte. Johannes war sofort klar, daß sie hier richtig waren, noch bevor er die Pfeife erspähte, die neben der Tür an der Wand lehnte. Wenn das keine echte indianische Friedenspfeife war! „Guten Morgen, Sam“, begrüßte ihn Marie. „Das ist Johannes, vielleicht hast du gestern ja mitbekommen, was wegen ihm im Dorf los war.“

Sam nickt und schnitzte weiter. Gregor hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf und kam gleich zur Sache.

„Johannes sucht einen Indianer. Bist du einer?“

Sam schaute auf und legte sein Schnitzmesser auf den Tisch, sagte aber nichts. Johannes trat an den Tisch und fragte, ob er sich setzen dürfe. Sam nickt ihm zu und bedeutete auch Gregor und Marie, daß sie sich setzen sollten, schwieg aber immer noch. Johannes überlegte wie er anfangen sollte.

„Musst du auch etwas für den Admiral und seine Bande tun?“

Sam nickte wieder, nahm ein paar Holzstücke von der Bank und legte sie auf den Tisch.

„Böse weiße Männer in schwarzen Mänteln wollen gute Messer.“ Sam hatte zum ersten Mal etwas gesagt. Die Holzstücke waren Messergriffe, kunstvoll geschnitzt und ganz glatt poliert. „Vater von jungen Bleichgesichtern macht Klingen. Wir zusammen auch machen Beile, gute Tomahawks.“

Sam redete wirklich etwas komisch, aber Johannes hatte es sich genau so vorgestellt. Er hatte schon ein paar Indianer-Filme im Fernsehen gesehen und darin redeten die Indianer auch immer so.

„Arbeitest du gerne für die bösen weißen Männer, ohne etwas dafür zu bekommen?“, fragte er Sam.

„Gute Arbeit verdient guten Lohn. Friede mit bösen Männern ist guter Lohn“, war die Antwort.

„Schon“, sagte Johannes, „aber das ist kein echter Friede, das ist Erpressung. Meinst du nicht, daß sich das Dorf gegen die Verbrecher wehren sollte?“

Sam dachte einen Moment nach. „Der Häuptling im Dorf ist schwach. Männer und Frauen können hart arbeiten, haben aber nicht gelernt zu kämpfen. Bist du der neue Häuptling?“

„Nein, ich bin nicht der neue Häuptling“, gab Johannes zu. „Häuptling bleibt der Bürgermeister. Aber ich habe eine Art Zeichen bekommen, daß ich helfen kann, das Dorf von den bösen Männern zu befreien. Aber ich schaffe es nicht allein, ich brauche Hilfe.“

„Zeichen sind wichtig. Manitou gibt viele Zeichen, die weiße Männer und Frauen nicht sehen oder nicht verstehen. Komm' mit hinein. Wir wollen beraten.“

Sam stand auf und ging in die Hütte. Johannes folgte ihm, während Gregor und Marie draußen blieben. Wenn Johannes noch Zweifel gehabt hätte, ob Pfeifen-Sam ein Indianer war oder nicht, so wären sie in der Hütte bestimmt sofort verflogen: Es gab keinen Tisch und keine Stühle, stattdessen lagen Büffelfelle am Boden. In der ganzen Hütte waren Kunstgegenstände verteilt, Bilder von der Jagd, bunte Masken und kleine Skulpturen.

Sam setzte sich auf eines der Felle und Johannes tat es ihm gleich.

„Das junge Bleichgesicht hat Recht. Sam ist das, was ihr einen 'Indianer' nennt. Vor vielen Monden bin ich in euer Land gekommen. Hier nannte ich mich 'Sam', niemand im Dorf weiß, daß ich aus dem Land der Roten Männer stamme. Aber der Name, den mein Vater mir gab, war Isatscho, das Schnelle Pferd. Isatscho war ein Krieger, Sam nicht. Isatscho hat das Kriegsbeil begraben und Sam hat es ruhen lassen.“

Johannes hatte inzwischen Pfeil und Bogen in der Ecke stehen sehen und zeigte dort hin. „Wozu brauchst du dann das da?“, fragte er.

„Nur zur Jagd“, antwortete Sam.

„Dann willst du mir also nicht helfen, die Banditen zu vertreiben?“, hakte Johannes nach. „Isatscho hat geschworen, nie mehr gegen den weißen Mann zu kämpfen. Sam hält sich an den Schwur.“

Johannes ließ aber noch nicht locker. „Es geht nicht gegen den weißen Mann, es geht gegen eine gemeine Verbrecherbande. Ist das denn nicht etwas ganz anderes?“

Sam sah ihn ernst an und sagte nur: „Hugh, Sam hat gesprochen.“

Johannes wusste sofort, daß das Gespräch damit beendet war, denn wenn ein Indianer etwas sagt, dann kann man ihn beim Wort nehmen und sich darauf verlassen, daß er daran festhält. Trotzdem bedankte er sich und ließ Sam in der Hütte allein. Als er nach draußen kam, stürmte Gregor gleich auf ihn los:

„Was hat er gesagt? Ist er der Indianer? Macht er mit?“

Johannes schüttelte den Kopf.

„Nein, er war zwar wirklich einmal Indianerkrieger, da hieß er noch Isatscho, das Schnelle Pferd. Dann kam er aber hierher, nannte sich Sam und seitdem ist er ein harmloser Handwerker. Er will nicht mehr kämpfen.“

„Was soll das heißen, er will nicht mehr kämpfen?“, entfuhr es Marie. „Hast du nicht gesagt, Indianer kennen keine Angst? Und jetzt will der sich genau so feige verkriechen wie der Rest im Dorf? Dem werde ich was erzählen!“

Und bevor die beiden Jungen sie zurück halten konnten stürmte sie in Richtung Hütte und verschwand darin. Johannes wollte schon hinterher laufen, aber Gregor hielt ihn auf. „Lass mal, Marie hat Haare auf den Zähnen, die kommt schon zurecht.“

Es dauerte auch nicht lang, da flog die Tür zur Hütte wieder auf, Marie kam heraus und knallte die Tür hinter sich zu.

„So, der weiß jetzt Bescheid und kann sich überlegen, ob er nun das „Schnelle Pferd“ oder ein lahmer Ackergaul ist.“ Sie war immer noch ganz aufgeregt.

„Los, zurück ins Dorf, da stehen schließlich noch andere auf der Liste, wenn der Herr Indianerkrieger Angst hat!“ So marschierten die drei wieder zurück.

Johannes war natürlich enttäuscht, daß gleich der Erste auf seiner Liste nicht hatte mitmachen wollen, aber Gregor tröstete ihn.

„Wir gehen einfach morgen noch einmal hin und versuchen es wieder. Oder vielleicht gibt es ja irgendwo noch einen Indianer und Pfeifen-Sam war der falsche.“

Das war zwar unwahrscheinlich, aber immerhin möglich, und munterte Johannes etwas auf. Als sie wieder beim Haus des Schmiedes ankamen, sahen sie, wie Mutter Grethe mit einem Mann sprach, der einen Ballen Stoff unter dem Arm trug. Es war der Schneider Matthias. Grethe bemerkte die Kinder zuerst und winkte sie heran. „Matthias ist in Sorge wegen der Hosen für den Admiral. Er hat seinen besten blauen Stoff mit hergebracht und möchte sehen, ob er es mit deinem aufnehmen kann.“ Matthias kniete neben Johannes nieder und machte sich an der Jeans zu schaffen. „Nein, nein, nein“, jammerte er, „Dieser Stoff ist viel fester als meiner. Und diese Farbe...seht doch selber.“

Er hatte ein Stück seines Stoffes vom Ballen abgewickelt und hielt es Grethe und Johannes zur Probe hin. Der Stoff war tatsächlich viel dünner und blasser als der Jeansstoff und würde den Admiral kaum zufrieden stellen.

„Was soll ich denn nur tun, was soll ich denn nur tun?“, jammerte er wieder.

„Weißt du was, Matthias?“, sagte Grethe da, „du nimmst jetzt einfach Johannes' Hose mit zum Tuchmacher und dann seht ihr zusammen, wie ihr so etwas auch hinbekommt. Johannes, zieh dich drinnen eben um und bring uns deine Hose nach draußen.“

Johannes war den ständigen Kleiderwechsel mittlerweile schon gewohnt und zog sich schnell um. Schneider Matthias bedankte sich mehrmals, nahm die Jeans mit und lief zurück in seine Werkstatt.

„Deine Kleidung sorgt für ganz schönes Aufsehen, erst die Hose und dann dieser Pullover“, sagte Marie zu Johannes.

„Jetzt wo du es sagst – wo sind eigentlich meine Schuhe?“, kam es Johannes da in den Sinn.

„Die müssten noch da neben der Tür stehen“, antwortete Gregor und zog Johannes verdreckte Turnschuhe hinter dem Holzstapel hervor. „Hier bitte“, sagte er und gab die Schuhe Johannes, der mit der Hand den mittlerweile getrockneten Matsch von den Schuhen wischte.

„Da haben wir ja Glück gehabt, daß der Admiral nicht meine Schuhe gesehen hat, euer Schuster hätte damit bestimmt noch mehr Probleme bekommen als der Schneider mit der Hose!“, sagte er.

Marie nahm ihm einen der Schuhe ab und sah ihn sich genau an.

„Du liebe Güte, was ist das denn?“ fragte sie kopfschüttelnd und drehte und wendete den Schuh, „das ist doch kein Schuh, das ist..., das ist..., das ist doch völliger Unsinn!“

„Toll, was?“, meinte Johannes da grinsend und nahm den Schuh zurück. „Astronauten-Design mit Reflexstreifen und Luftpolstersohle, das trägt man jetzt so bei uns.“

„Astro – wer bitte?“, fragte Gregor, nahm sich den anderen Schuh und betrachtete ihn ebenso skeptisch. Außerdem kam er sich langsam etwas blöd vor, Johannes dauernd fragen zu müssen, was er denn jetzt wieder meinte.

„Na, Astronauten – das sind die, die zum Mond fliegen und von dort die Erde fotografieren, kennst du doch schon von meinem Pullover.“

Gregor und Marie sahen sich an und meinten dann beinahe gleichzeitig:

„Johannes, du spinnst!“

Und Marie fügte noch hinzu: „Und so einer soll unser Dorf retten, der Himmel stehe uns bei!“

„Klar, wenn's der Wahrsager doch gesagt hat“, erwiderte Johannes amüsiert und nahm die Schuhe wieder an sich. „Ich glaube, die packen wir jetzt besser genauso weg wie meinen Pullover und ich trage bei euch lieber weiter diese Lederpantoffeln.“

Gerade kam Jakobus aus der Schmiede. „Und? Habt ihr Erfolg gehabt? Konntet ihr den ersten der Sieben anheuern?“, fragte er die drei.

„War ein Griff ins Klo“, antwortete Johannes, merkte aber gleich, das dieser Ausdruck im Dorf nicht gerade geläufig war, „Ich meine: Nein, Pfeifen-Sam will nicht mitmachen.“

„Pfeifen-Sam also?“ Jakobus sah erstaunt aus. „Der alte Holzschnitzer gehört zu den Sieben? Wer hätte das gedacht!“

„Wusstest du, daß er Indianer ist?“, fragte Gregor.

„Ein Indianer? Nein, davon hat er nie etwas gesagt. Für mich ist die Hauptsache, daß er gut mit Holz umgehen kann.“

„Wäre trotzdem gut gewesen, er hätte sich uns angeschlossen. Als ich ihn gesehen habe, war ich mir ganz sicher, daß er der Erste auf meiner Liste ist“, sagte Johannes etwas traurig.

„Wenn du immer noch daran glaubst, dann gib nicht gleich auf“, ermunterte Jakobus ihn. „Versuch' es morgen einfach noch einmal. Fürwahr, eine Meinung ist schnell geändert.“

„Angst hat er, wie alle anderen auch, und daß habe ich ihm auch gesagt - und zwar deutlich!“, sagte Marie und stemmte ihre Arme in die Hüften.

„Wie dem auch sei“, meinte Jakobus, „ich brauche jetzt Hilfe in der Schmiede und um die Schafe muss sich auch noch jemand kümmern. Marie, du kommst mit mir und ihr zwei geht hinüber zur Weide. Die Suche nach den Sieben müsst ihr unterbrechen.“

Und so verbrachten Johannes, Gregor und Marie den Rest des Tages mit den gewöhnlichen Arbeiten, die jeden Tag erledigt werden mussten. Wobei natürlich alle drei mit den Gedanken bei Johannes' Liste und Pfeifen-Sam waren. Würden die anderen Namen auf der Liste mehr Erfolg versprechen? Oder würde Sam sich doch noch anders entscheiden? Und auch beim Abendessen redeten sie noch darüber. Sie aßen schon eine ganze Weile, als es plötzlich an der Tür klopfte.

„Wenn das wieder dieser Leopold ist, dann kriegt er aber etwas zu hören!“, schimpfte Grethe und stürmte entschlossen zur Tür. Aber als sie öffnete und sah, wer da vor ihr stand, da sagte sie nur: „Allmächtiger!“, und machte einen Schritt rückwärts. Die anderen sprangen auch auf, liefen zu ihr und sahen auch, wer da zu ihnen gekommen war: Pfeifen-Sam. Aber er sah nicht so aus, wie der Pfeifen-Sam, den Johannes, Gregor und Marie am Morgen gesehen hatten. Dieser Pfeifen-Sam trug das lange Haar jetzt offen unter einem Stirnband und hatte das einfache Lederhemd durch ein anderes ersetzt, das mit bunten Zeichen und Symbolen geschmückt war. Ähnliche Zeichen schmückten auch seine mit vielen Fransen versehene Hose und die ledernen Schuhe. In der Hand hielt er einen Speer, dessen Spitze mit vielen Federn verziert war. Es war kein Wunder, daß sich Grethe bei seinem Anblick erschreckt hatte.

„Lässt mich mein Freund Jakobus in seinen Wigwam?“, fragte Sam.

„Sam, meine Güte, wie siehst du denn aus?“, erwiderte Jakobus ziemlich überrascht. „Natürlich, bitte komm' doch rein und setz' dich zu uns.“

Die anderen machten etwas Platz und Sam trat ein. Grethe hatte sich von ihrem ersten Schreck erholt und bot ihm eine Stuhl an und alle setzten sich. Johannes, Gregor und Marie waren so beeindruckt von Sam's Anblick, daß sie sich gar nicht zu fragen trauten, ob er seine Meinung geändert hätte. Alle warteten, daß Sam zuerst sprach.

„Junge Bleichgesichter waren heute bei mir“, begann er dann und zeigte auf die Kinder. „Und Joe fragte mich, ob ich gegen böse weiße Männer in den Kampf ziehen will.“ Johannes bemerkte, daß Sam ihn Joe nannte, so wie es seine Mutter gerne tat.

„Aber Sam sagte: Nein.“. Sam machte eine Pause und sah in die Runde.

„Dann kam die junge Squaw zu mir“, und er zeigte auf Marie. „Sie kam mit dem Zorn eines verwundeten Bären im Herzen zu mir und ihre Worte trafen mit der Kraft seiner Pranken. Sie sagte, Sam sei feige. Sam hätte vergessen, daß ein Krieger seine Kraft nutzen muss, um die Schwachen zu schützen. Und das Sam schon viele Monde bei den Menschen im Dorf gelebt hätte, daß er nun einer von ihnen sei.“

Wieder machte er eine Pause. „Und Sam dachte nach und bat Manitou um Rat. Und Manitou sprach zu Sam.“ Da stand Sam auf, drückte den Speer gegen seine Brust und sagte sehr feierlich: „Von nun an trage ich wieder den Namen, den mir mein Volk gegeben hat, Isatscho, 'Das Schnelle Pferd'. Und ich trage wieder die Kleider und die Waffen meiner Väter und Großväter. Und ich werde wieder meinem Stamm dienen. Und mein Stamm seid nun ihr. Hugh.“

Er setzte sich wieder hin und nahm sich einen Becher mit Wasser. Die anderen sahen ihn an und schwiegen immer noch. Aber sie wussten, daß sie soeben den ersten der Sieben gefunden hatten und das machte sie sehr froh.

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