Konstruktives Interkulturelles Management

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Kultur besteht aus gemeinsamen Wissensbeständen sowie aus selbstverständlich und natürlich erachteten Grundannahmen, Erwartungen, Vorstellungen und Bedeutungen, die innerhalb einer Gruppe Eindeutigkeit, Sinnstiftung und geteiltes Wissen schaffen können (Hall 1981; Witt/Redding 2009). Diese erlernten und geteilten Ideen, Symbole und Bedeutungen ermöglichen es Mitgliedern einer Kultur, sinnhaft und zielorientiert zu kommunizieren und zu kooperieren (Geertz 1973). Soziale Gruppen müssen dabei nicht ein exakt gleiches Wissen oder Bedeutungssystem teilen; sie lassen vielmehr durch einen gemeinsamen Bezugsrahmen ein weitgehend geteiltes Verständnis der sozialen Wirklichkeit entstehen (Berger/Luckmann 1966; Holden 2002). Dieses Bedeutungssystem wird im Sozialisationsprozess erlernt (Dubar 1991) und dient zur angemessenen Interpretation kommunikativer Handlungen (Wimmer 2005).



»All cultures provide interpretative systems that give meaning to the problems of existence, presenting them as elements in a given order that have therefore to be endured, or as the result of a disturbance of that order, that have consequently to be corrected.« (D’Iribarne 1994, 92).



Eine besondere wichtige Rolle nehmen hierbei Zeichen und Symbole ein, die nach Geertz (1973) dazu beitragen, dass Kultur ein »Bedeutungsgewebe« und »semantisches Inventar« darstellt. Dabei stehen sich auch bezüglich dieses sinngebenden Bedeutungsgewebes das Gemeinsame und das Individuelle, das Geteilte und das Partikulare, das Eindeutige und das Ambivalente gegenüber. Bieri (2011) unterstreicht außerdem den Zusammenhang von Identität und Bedeutungssystem: Identität bildet sich heraus aus »Bedeutungsgeweben«.



Interkulturell relevant werden Bedeutungssysteme, wenn bestimmte Symbole von Interagierenden nicht verstanden werden, da diese nicht über das jeweilige Regelwissen verfügen und bestimmte Symbole nicht kennen. Außenstehende sehen sich deshalb mit einer »Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen , die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind.« (Geertz 1973, 15). Dabei entsteht in der interkulturellen Situation etwas Uneindeutiges, Vages und Neuartiges, das als bedrohlich oder anregend wahrgenommen werden kann. Die Relativität von Bedeutungssystemen und die in interkulturellen Situationen möglichen Irritationen werden im Kapitel »Sprache und Kommunikation« vertieft.



Kultur als System der Problembewältigung und Zielerreichung



Nach den Kulturanthropologen Kluckhohn und Strodtbeck (1961) ist Kultur eine Art und Weise der Problemlösung. Dies bedeutet, dass Akteure in sozialen Systemen spezifische Formen und Wege finden, Ziele zu erreichen. Auch wenn eine Vielzahl von Lösungsmöglichkeiten existiert, werden aufgrund von (unbewussten) Werten, Erfahrungen und Ansprüchen bestimmte bewährte, ›dominante‹ Lösungen zur optimalen Regulierung zwischenmenschlichen Handelns und zum Überleben und Fortbestand des Systems vorgezogen (Parsons 1952). Diese Lösungen können z. B. Regeln oder Methoden, aber auch Institutionen sein. Wenn relativ ähnliche Wertorientierungen in Gemeinschaften bestehen und sich diese als erfolgreich herausgestellt haben, entwickeln Gemeinschaften bestimmte Lösungsmuster mit besonderer Häufigkeit und Ausprägung. Kluckhohn und Strodtbeck formulieren diesbezüglich drei Annahmen:



»First it is assumed that there is a limited number of common human problems for which all peoples at all times must find some solution. This is the universal aspect of value orientations because the common human problems to be treated arise inevitably out of the human situation. The second assumption is that while there is variability in solutions of all the problems, it is neither limitless nor random but is definitely variable within a range of possible solutions. The third assumption is that all alternatives of all solutions are present in all societies at all times but are differentially preferred. Every society has, in addition to its dominant profile of value orientations, numerous variant or substitute profiles. Moreover it is postulated that in both the dominant and the variant profiles there is almost always a rank ordering of the preferences of the value-orientation alternatives.« (Kluckhohn/Strodtbeck 1961, 10)



Somit bilden Gesellschaften ein bestimmtes Wertesystem heraus, das deren Verhalten und Handlungen im Sinne von Problemlösung beeinflusst (Parsons 1937; Kluckhohn 1953). Zur Einordnung werden fünf allgemeinmenschliche Probleme erarbeitet:



1.Wie ist das Wesen der menschlichen Natur? (Human Nature)



2.Wie ist die Beziehung des Menschen zur Natur? (Man-Nature)



3.Wie ist die Zeitorientierung des Menschen? (Time)



4.Wie ist die Aktivitätsorientierung des Menschen? (Activity)



5.Welche Art von Beziehung hat ein Mensch zu anderen aus der Gruppe? (Human Relations)



Auf dieser Basis entwickelten die Forscher eine allgemein anwendbare Methode mit Kategorien, um einen Vergleich unterschiedlicher Kulturen zu ermöglichen: die Value Orientation Method (

Tab. 19

).




Orientierung

Möglicher Variationsbereich

Menschliche Natur

Schlecht

Gut und schlecht/Neutral

Gut

Veränderlich – unveränderlich

Veränderlich – unveränderlich

Veränderlich – unveränderlich

Beziehung des Menschen zur Natur

Unterwerfung des Menschen unter die Natur

Harmonische Beziehung zwischen Mensch und Natur

Beherrschung der Natur durch den Menschen

Zeitorientierung des Menschen

Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

Aktivitätsorientierung des Menschen

Sein

Werden

Handeln

Beziehung des Menschen zu anderen Menschen

Linearität

Kollateralität

Individualismus



Tab. 19: Fünf Wertevariationen (Kluckhohn/Strodtbeck 1961, 12, unsere Übersetzung)



Der Kultur-Ansatz von Kluckhohn und Strodtbeck, ihre Wertevariationen und ihre Methodik haben die Interkulturelle Managementforschung – insbesondere die kontrastive – über Jahrzehnte hinweg geprägt.



Veränderungen und Entwicklungen kultureller Systeme geschehen, wenn Menschen feststellen, dass bestimmte Lösungsmuster nicht mehr geeignet sind, bestehende Herausforderungen oder Probleme zu meistern. Durch die Suche nach wirksamen neuen Lösungen hinterfragen sie Selbstverständlichkeiten und erlangen somit mehr Bewusstsein über ihre Problemlösungen. Neue Strukturen und Prozesse können somit zu einer Veränderung und Entwicklung von Systemen beitragen.



»The values of any living culture had helped it survive in the environment where it found itself. Borrowing from evolutionary theory, it has become common to ask how well these cultural values fit the environment so that the culture survives. These survival values are passed down the generations. There are therefore as many sets of different cultural values as there are environments across the globe. These are not good or bad, high or low, civilized or primitive. They are to be judged, if at all, by their evolutionary fit.« (Hampden-Turner/Trompenaars 2006, 57)



Je mehr Werte im Gegensatz zueinander stehen, desto konfliktreicher ist ihr Einfluss auf ein soziales System. Je mehr sie in Einklang gebracht werden, desto stabilisierender wirken sie auf ein soziales System. Eine wichtige Funktion einer ausgeglichenen und wirkungsvollen Interkulturalität besteht also darin, Gegensätze, Wertedifferenzen als gegenseitige Kräfte positiv aufeinander wirken zu lassen (Demorgon 1998; Hampden-Turner/Trompenaars 2000). Im Sinne eines Konstruktiven Interkulturellen Managements geht es um die komplementäre, synergetische Findung von Lösungen.



Zusammenfassend werden Merkmale und Funktionen der drei komplementären Kulturkonzepte dargestellt (

Tab. 20

).




Kultur als

Merkmal

Funktion

Einfluss auf das Management

1. Wertesystem

›Mentale Software‹: Bestimmte und spezifische, durch Sozialisation erworbene Muster des Denkens, Fühlens und Handelns, die ein emotionales und kognitives System konstituieren.

Orientierung und »Selbstverständlichkeiten«, die wiederum Entscheidungen beeinflussen und die optimale Regulierung zwischenmenschlichen Handelns ermöglichen.

Ausrichtung und ethische Orientierung: Welche Ziele werden als erstrebenswert erklärt? Wie werden Entscheidungen und Verhaltensweisen begründet?

2. Referenz- und Bedeutungssystem

›Semantisches Inventar‹: Geteilte Wissensbestände, Symbole und Bedeutungsinhalte führen zu gemeinsamen Grundannahmen, Erwartungen, Vorstellungen und Interpretationen.

Eindeutigkeit, Klarheit, Sinnstiftung, zielführende adäquate Interpretation kommunikativen Handelns.

Kommunikatives Handeln und Sprache: Welchen Sinn ergeben Symbole und Verhaltensweisen? Wie werden sie verstanden, bzw. interpretiert?

3. System der Problembewältigung und Zielerreichung

›Problemlösung‹: Spezifische Bewältigung von grundsätzlichen universellen Herausforderungen und Problemen.

Bewährte Muster der Problembewältigung und Zielerreichung werden reproduziert und verfestigen sich. Trotz der Vielfalt an Lösungsmöglichkeiten weisen Gesellschaften bestimmte Lösungsmuster mit besonderer Häufigkeit und Ausprägung auf.

Arbeits- und Organisationspraktiken: Wie wird mit Herausforderungen umgegangen? Wie werden Ziele erreicht? Wie wird organisiert, gesteuert, gestaltet?



Tab. 20: Merkmale und Funktionen drei komplementärer Kulturkonzepte und ihr Bezug zum Management

 



Konstruktiver Umgang mit Kultur-Konzepten



Im Sinne Konstruktiver Interkulturalität illustrieren die drei vorgestellten Kultur-Konzepte die identitätsbildende und sinnstiftende Orientierungs- und Ordnungsfunktion, die Kultur hat, und es Individuen ermöglicht, sich innerhalb eines sozialen Systems zurechtzufinden und in einer Gruppe oder Gesellschaft dauerhaft mit möglichst wenigen Widersprüchen miteinander zu leben.



Einerseits stellt sich die Frage der Entwicklung und Veränderung bezüglich der drei Kulturkonzepte, denn mit der Entwicklung von Gesellschaften sind auch Kulturkonzepte einem Wandel unterworfen. Inwiefern sind sie davon betroffen? Aufgrund zunehmender Multikulturalität von Gesellschaften durch Zuwanderung von Menschen mit Migrationshintergrund wird sich eine Plurikulturalität herausbilden, mit vielen bikulturellen Menschen, der sogenannten Third Culture Individuals (TCI) (Moore/Barker 2012) oder Third Culture Kids (TCK) (Pollock et al. 2003). TCI bzw. TCK bezeichnet Jugendliche, die in der Phase des Heranwachsens diversen interkulturellen Einflüssen ausgesetzt sind, etwa aufgrund häufiger Wohnortwechsel und Schulbesuchen in unterschiedlichen Ländern oder der Erziehung durch Elternteile, die aus unterschiedlichen Gesellschaften stammen.



Anderseits ist die Überlegung interessant, wie Akteure auf Kultur und Interkulturalität einwirken können. Hier wird deutlich, dass es unterschiedliche Beeinflussungsgrade gibt: Das Wertesystem eines Menschen ist nur schwer und langsam entwickelbar. Es gilt vor allem, dieses zu kennen und zu verstehen. Bedeutungssysteme dagegen lassen sich durch kulturelles Wissen – vor allem Sprache – erweitern und nach und nach durchdringen. Was Problemlösungen betrifft, so gibt es viele Möglichkeiten der Einwirkung: Welche neuen, alternativen Lösungen lassen sich finden, um konstruktiv zielführend zu handeln? Es ist wichtig, sich der komplementären drei Kulturbegriffe bewusst zu sein und diese anzuerkennen, um sie dann gestalterisch zu nutzen. Um die Kulturkonzepte konstruktiv zu behandeln, braucht es vor allem kulturelle Mittler, Boundary Spanner, die an – interdisziplinären und internationalen – Schnittstellen sozialer Systeme agieren, v. a. beim Übersetzen zwischen den unterschiedlichen Zeichensystemen (Barner-Rasmussen et al. 2014). Hier wiederum spielen TCI bzw. TCK eine zentrale Rolle: Durch ihre interkulturelle Sozialisation haben sie mehrere kulturelle Wertesysteme verinnerlicht, die ihnen eine offenere und ethnorelativistische Weltsicht bieten. Ebenso beziehen sie sich auf unterschiedliche Referenz- und Orientierungssysteme, die es ihnen ermöglichen, verbales und nonverbales Verhalten bewusster wahrzunehmen und vielleicht treffender zu interpretieren. Bezogen auf die Problemlösung steht ihnen ein großes Handlungsrepertoire zu Verfügung, in interkulturellen Situationen kreativ und auch integrativ zu wirken. Somit sind TCK insofern konstruktiv, als dass genau sie als Personen an Schnittstellen zwischen Kulturen eingesetzt werden können, um zwischen a) Wertesystemen, b) Bedeutungssystemen und c) Problemlösungssystemen zu vermitteln und zu schlichten.





Multiple Kulturen und kulturelle Dynamik





Seit langer Zeit äußern sowohl die Wissenschaftler der Interkulturalität als auch Sozial- und Geisteswissenschaftler Kritik an den in Forschung und Praxis verwendeten Kulturkonzepten, die sich vor allem auf Nationalkulturen beziehen (McSweeney 2009). Dabei wird vor allem kritisiert, dass sich Kulturkonzepte häufig auf eine mehr oder weniger homogene Gesellschaft beziehen und diese als ›autonome Insel‹ betrachten, die von äußeren Einflüssen nicht oder kaum tangiert werden. Metaphorisch ausgedrückt stellen viele Kulturbegriffe ›Korsette‹ dar, die von der Mannigfaltigkeit moderner kultureller Systeme gesprengt werden. Deshalb kritisieren einige wissenschaftliche Vertreter generell an interkultureller Praxis und Forschung die als zu homogen eingestuften Kulturbegriffe (Dahlén 1997; Moosmüller 2004). D’Iribarne unterstreicht, dass der Bezugspunkt der Nationalkultur nicht dazu dient, ihre Spezifika »nur« hervorzuheben, sondern dass es um die Analyse und das Verstehen von Besonderheiten geht:



»When national cultures are concerned, the aim is not to highlight the supposedly persisting characteristics of certain cultures. It is rather a matter of analysing how, within a given organisation, the encounter of people coming from different societies and with different habits leads to the emergence of a specific culture, understood as a common way of doing things.« (D’Iribarne 2009, 310–311)



Multiple Kulturen



Eine zentrale Frage ist, in welchem Ausmaß Individuen ihre kulturelle Prägung in Denken, Fühlen und Handeln auch leben, also inwiefern sie »typische« Repräsentanten ihrer Kultur sind – oder nicht. Brannen (1998) verweist darauf, dass nicht nur der Kontext zu beachten ist, in dem Interkulturalität stattfindet, sondern auch die kulturellen Charakteristika der Akteure. Zurecht wird der monolitisch-funktionalistische und nationale Kulturbegriff als zu deterministisch kritisiert. Akteure in interkulturellen Organisationen sind durch viele unterschiedliche kulturelle Einflüsse geprägt und weisen insofern viele pluralistische kulturelle und identitäre Bezugspunkte auf, die weit vielfältiger sind als nur die Prägung durch eine nationale Kultur. Diese Pluralität wird u. a. von verschiedenen Ansätzen thematisiert: multiple cultures (Sackmann/Phillips 2004), Fuzzy Diversity (Bolten 2010b) oder Fuzzy Cultures (Bolten 2011, 2014).



Entsprechend dem Ansatz der multiplen Kulturen beschäftigt sich die interkulturelle Forschung zunehmend nicht nur mit Nationalkultur, sondern auch mit anderen Kulturen wie Branchen-, Organisations-, Abteilungs- und Berufskulturen. In Organisationen betreffen sie die auch aus dem Diversity Management (Özbilgin/Tatli 2008; Genkova/Ringeisen 2016) bekannte Kategorien wie Geschlecht, Alter, soziale Klassen, hierarchische Position (Mitarbeiter, Führungskraft), Abteilung/Bereiche (Forschung, Marketing), Profession (Ingenieur, Jurist) sowie Organisationskulturen (flexibel, verschlossen). Solche kulturellen Gruppierungen werden auch als Stratifizierung subkultureller Merkmale (Zander/Romani 2004) bezeichnet oder als kulturelles Mosaik (Chao/Moon 2005). Von den vielen kulturellen Gruppierungen werden folgend drei genannt, die das Interkulturelle Management besonders betreffen:



Organisationskultur ist seit den 1980er Jahren ein vielbeachtetes Thema der (Interkulturellen) Managementforschung und -praxis (Schein 1986). Auch Hofstede (1980) initiierte seine große Studie Culture’s Consequences unter anderem, um das Einfluss- und Spannungsverhältnis zwischen Nationalkultur und Organisationskultur zu untersuchen. Ausgehend von den USA ist das Konzept der Organisationskultur zu einem breiten Forschungsfeld mit zahlreichen Publikationen geworden. Organisationskultur, zu verstehen als ein Subsystem von Kultur, erfüllt wichtige Funktionen in Organisationen: Sie konstituiert die gemeinsame Identität der Organisationsmitglieder, gibt Orientierung und Entscheidungshilfen und prägt das Handeln der Mitarbeiter (Scholz 2000). Somit zeigt sie Koordinations-, Integrations- und sogar Motivationsfunktionen auf (Brown 1998). Im Sinne der konstruktiven Interkulturalität kann Organisationskultur als eine Ressource verstanden werden, die zur Erhöhung der Wertschöpfung der Organisation und der Zufriedenheit der Mitarbeiter beiträgt. Dies kann durch eine »starke« Organisationskultur begünstigt werden, in der eine hohe Kohärenz gemeinsamer Orientierungsmuster existiert, die Transaktionskosten verringert (Schreyögg 2003). Insofern ist Organisationskultur ein zentrales Element des Konstruktiven Interkulturellen Managements.



Bereichskultur ist eine bisher wenig erforschte (Sub-)Kultur. Sie betrifft kollektive Grundannahmen innerhalb eines Bereichs (Abteilung) einer Organisation, die sich in bereichsspezifischen Werten, Praktiken und Artefakten niederschlagen (Zander/Romani 2004; Sachseneder 2013). Diese Grundannahmen betreffen z. B. spezifische Ziele, Verhaltensweisen oder Sprachen von Funktionsbereichen wie Marketing, Forschung & Entwicklung, Vertrieb oder IT. Bereichskultur kann eine identitätsstiftende Wirkung für das Kollektiv bewirken, so auch durch Abgrenzung: »Wir im Marketing gegen die in der Entwicklung«. Die bereichskulturelle Identität speist sich primär aus diesen Aufgaben und Zielen eines Bereichs (Sachseneder 2013). In einem konstruktiven Verständnis von Interkulturalität können sie jedoch auch positive Auswirkungen aufweisen: Eigenheiten der Bereiche und ihre unterschiedlichen Sichtweisen erzeugen durch gegenseitige Reibung auch ein fruchtbares Spannungsverhältnis. Gelingt es Organisationen, konstruktiv mit Bereichskulturen umzugehen, so entstehen positive Impulse und bereichernde Diskussionen.



Berufskultur ist zu verstehen als eine »spezifische und relativ stabile Merkmalskombination aus Selbstbild und Rollenverständnis, professionellem Wissen, Kompetenzen, Erfahrung und Praktiken einer Gruppe von Menschen bezüglich ihrer Arbeit, die sich in bestimmten Arbeitskontexten über einen gewissen Zeitraum herausgebildet hat und die identitätsbildend ist (›Wir Ingenieure‹; ›Wir Informatiker‹; ›Wir Journalisten‹).« (Barmeyer 2012a, 28). Wenig deutet darauf hin, auch wenn sich naturwissenschaftlich und technisch geprägte Berufskulturen (wie z. B. Ingenieure) landesübergreifend scheinbar ähnlicher sind als geistes- und sozialwissenschaftlich geprägte, dass die Berufskulturen länderübergreifend homogen sind (D’Iribarne 2001). Zu verschieden sind die – national geprägten – Institutionen beruflicher Sozialisation (Maurice et al. 1986), die ihrerseits Werte und Praktiken widerspiegeln (Pateau 1998). Trotzdem ist es möglich, dass Angehörige einer bestimmten Berufskultur, aufgrund einer gemeinsamen beruflichen Basis, implizit kommunizieren und effektiv kooperieren können (Malin 2000). Für das Konstruktive Interkulturelle Management ist es bedeutend, dass Berufskulturen nicht an Nationen, Branchen, Organisationen oder Personen gebunden sind und somit ein verbindendes Verstehenselement über »Kulturgrenzen« hinweg darstellen können (Mahadevan 2008, 2011). So zeigt Chevrier (2012) bezogen auf internationale Teams, dass, trotz kultureller Unterschiedlichkeit und dem Einsatz von Fremdsprachen, Berufskulturen – und damit verbundene spezifische geteilte Einstellungen, Interessen, Denkweisen, Kompetenzen, Erfahrungen, Verfahren und Fachausdrücke – ein verbindendes Element sind, um erfolgreich interkulturell zu kommunizieren und zu kooperieren.



Somit bilden Nationen nach einem postmodernen Verständnis kein monolithisches, sondern ein heterogenes soziales System, das vielfältigen kulturellen Einflüssen ausgesetzt ist und deshalb viele Kulturen, Identitäten oder »Kollektive« (Hansen 2009) vereint: »The multiple cultures perspective acknowledges that individuals may identify with and hold simultaneous membership in several cultural groups.« (Sackmann/Phillips 2004, 378). Eine Person kann weiblich, jung und sportlich sein, der gesellschaftlichen Oberschicht angehören, als Ingenieurin in einer Forschungsabteilung eines deutschen Großunternehmens in der Chemiebranche arbeiten, als Führungskraft ein Team führen und einen italienischen Pass besitzen. Dieses Individuum führt also viele verschiedene Rollen aus und fühlt sich mehreren kulturellen Gruppierungen, wie Ingenieuren, Forschern, Führungskräften etc. zugehörig.



In manchen Situationen spielt dann beispielsweise eher die Zugehörigkeit zu einer Landes- oder Regionalkultur eine größere Rolle, in anderen eher die Zugehörigkeit zum Geschlecht, zur Organisations-, Bereichs- oder Berufskultur. Je nach Art der Aufgabe, der bisherigen Erfahrungen, der Interaktionssituation und des Interaktionskontextes treten in sozialen Interaktionen bestimmte Eigenschaften der Teammitglieder stärker in den Vordergrund als andere: »Some differences may matter more than others« (Milliken et al. 2003, 37). Hinsichtlich der Dimensionen der Vielfalt kann dies bedeuten, dass Denk- und Verhaltensmuster aufgrund von nationalkultureller Zugehörigkeit eine wichtigere Rolle spielen als das Geschlecht oder das Alter der Mitglieder. In anderen Gruppierungen spielt vielleicht die berufliche Laufbahn oder der Abschlussgrad eine geringere Rolle als das aufgabenbezogene Wissen und die Fähigkeit, ein bestimmtes Problem zu lösen (Reiter-Palmon et al. 2012). Wie manifestieren sich nun multiple Kulturen in Organisationen?



Multiple Kulturen bei Infineon

 



Das deutsche multinationale Unternehmen im Bereich Halbleiter-Technik Infineon Technologies AG erwarb im Jahre 2014 das US-amerikanische Unternehmen International Rectifier Corporation, zu dem zahlreiche internationale Tochtergesellschaften gehören, so auch eine südfranzösische Tochtergesellschaft. In dieser Tochtergesellschaft arbeiten seit fast 20 Jahren vor allem Ingenieure und Informatiker aus Paris und Nordfrankreich, die durch US-amerikanische Managementmethoden sozialisiert wurden und diese in ihren Arbeitsstil integriert haben.



Nun, mit dem Aufkauf durch das deutsche Unternehmen Infineon werden neue Methoden und Prozesse eingeführt, nämlich die der deutschen Zentrale von Infineon, die die »alten« ersetzen, bzw. überlagern. Gleichzeitig werden neue Informatiker eingestellt, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben und der jüngeren Generation der Digital natives angehören. Sie weisen einen anderen Arbeitsstil auf als die älteren Kollegen. In der südfranzösischen Tochtergesellschaft, die von einer französischen Ingenieurin geführt wird, koexistieren nun – im Sinne multipler Kulturen – nicht nur verschiedene Regionalkulturen (Nord- und Südfrankreich) und Generationskulturen (jung und alt), sondern auch unterschiedliche Unternehmenskulturen (International Rectifier und Infineon) und Nationalkulturen (Frankreich, USA, Deutschland).



Quelle: Eigene Erhebung



Multiple Kulturen – auch im Sinne von Diversität – ermöglichen somit ein wesentlich differenziertes Bild kultureller Wirklichkeiten. Diversität ist eine Stärke, wenn sie zum einen spezifische Merkmale von Akteuren berücksichtigt und zum anderen zu einer Akzeptanz der Vielfalt von Gemeinschaften führt. Konstruktives Interkulturelles Management ist gefordert, strategisch und steuernd der Komplexität multiplen Kulturen zu begegnen, etwa durch die bewusste Betonung von verbindenden Gemeinsamkeiten (etwa die Berufskultur von Ingenieuren). Jedoch kann die zu starke Betonung von Singularitäten (Reckwitz 2017) sowie die Pluralisierung und Differenzierung von Kultur(en) in Organisationen und Gesellschaften problematisch sein: Anstatt Kultur(en) und ihre Merkmale zusammenzubringen und zu kombinieren, besteht die Gefahr, Besonderheiten und Unterschiede zu sehr zu betonen und damit eine trennende, zersplitternde Wirkung zu erreichen. Die vielen multiplen Kulturen stehen dann in permanenten Abgrenzungsprozessen und tragen zu Spaltungen bei.



Stabilität und Dynamik von Kulturen



In der Interkulturellen Managementforschung überwog lange Zeit das funktionalistische bzw. zweidimensionale Paradigma (Fang 2006). Diese Art nationale Kulturen zu beschreiben hat viel Kritik hervorgerufen (McSweeney 2009), da die Untersuchung bipolarer Dimensionen in der interkulturellen Forschung eine gewisse Stabilität voraussetzt. Wenn davon ausgegangen wird, dass nationale Identität kontextabhängig und dynamisch ist, kann dieser anfänglich herangezogene, in der nationalen Identität verankerte, kulturelle Referenzrahmen in neuen – interkulturellen – Kontexten modifiziert und angepasst werden. Bedeutungen, Praktiken und Normen können somit im Laufe der Zeit und im Rahmen von Interaktionen und Aushandlungen rekombiniert oder verändert werden (Brannen/Salk 2000, 458). Insofern eignen sich klassische Strukturmodelle, wie etwa die deterministisch wirkenden Kulturdimensionen interkultureller Forschung, wenig zur Beschreibung und zum Verständnis interkultureller Prozesse; Entwicklungsmodelle, die auf konstruktivistischen Annahmen beruhen und Dynamiken berücksichtigen, dagegen schon.



Für das dynamische Verständnis von Interkulturalität sind z. B. die Forschungen des Kulturanthropologen Franz Boas (1858–1943) grundlegend. Er wies als einer der ersten Forscher darauf hin, dass Kulturen komplexe soziale Systeme sind, in denen einerseits relativ stabile, anderseits auch dynamische Elemente und Muster co-existieren: Zum einen sind Kulturen in spezifische historische Kontexte eingebettet. Zum anderen erfahren sie durch systemimmanente Interaktion sowie äußere Einflüsse Wachstum und Entwicklung (Benedict 1943; Boas 1949). Wachstum und soziale Entwicklung erfolgen durch die Verbreitung von Ideen, die teilweise aus anderen Sozialsystemen stammen, aus Innovationen und durch die Schaffung und Aufrechterhaltung von Institutionen.



Boas verwies schon im Sinne von multiple cultures (Sackmann/Phillips 2004) darauf, dass moderne Anthropologie nicht »Kultur« im Singular, sondern »Kulturen« menschlicher Gruppen berücksichtigen sollte (Stocking 1966). Es ist sowohl der dynamische und evolutive Aspekt der Entwicklung von Kulturen als auch Boas humanistische, völkerverständigende Grundhaltung, die es Individuen und Gemeinschaften ermöglicht, durch reziproke und gleichberechtigte Kommunikations- und Interaktionsprozesse friedvoll und zugleich wirkungsvoll zusammenzuleben, was konstruktiver Interkulturalität entspricht.



Während die Metapher der Kulturzwiebel (Hofstede 2001) Kulturen als voneinander isolierte, vielschichtige Konstrukte mit stabilem Kern (Werte) betrachtet, erlaubt die »Ozean«-Metapher (Fang 2006) die Identifizierung von Verhaltensweisen und Werten in einem bestimmten Kontext und zu einer bestimmten Zeit. Zugleich hilft die Metapher des Ozeans, Kultur als etwas fließendes und übergreifendes zu verstehen. Kultur weist nach Fang (2006) ein Eigenleben auf, da sie historisch voller widersprüchlicher Entwicklungen ist. Die Gesamtheit aller Inhalte und Prozesse einer Kultur ist aber zu keiner Zeit sichtbar, denn diese verbirgt sich, wie im Ozean, unter der Oberfläche und fördert ständig neue Entwicklungen. Außerdem geschehen durch interkulturelle Interaktion Wandlungsprozesse in Verhaltensweisen und Werten. Diese beiden Metaphern passen zu den Bezeichnungen von Bjerregaard et al. (2009): »Culture as code« würde der Zwiebel und einem stabil-funktionalistischen Kulturansatz entsprechen, »Culture in context« lässt sich dem Ozean und einem dynamisch-interpretativen Kulturansatz zuordnen.

Tab. 21

 fasst die unterschiedlichen Strömungen zusammen.




Stabil-funktionalistisch

Dynaniisdi-mterpretativ

Management und Organisationen

Stabilität durch historische Traditionen und nationale Institutionen wie Bildungssysteme, Gesetze etc.

Dynamik durch Intensivierung von Interaktionen zwischen organisationalen Akteuren mit unterschiedlich kulturellem Hintergrund

Annahmen

Homogenität durch stabile Wertesysteme, Bedeutungssysteme

Heterogenität durch Internationalisierungsprozesse und Multikulturalismus

Paradigma

Funktionalistisch/positivistisch

Interpretativ

Kulturelle Strömungen

Länderübergreifender Kulturvergleich

Interkulturelle Interaktion und multiple Kulturen

Kontext

»Kultur als Code«: dekontextualisiert

»Kultur als Kontext«: kontextualisiert

Metapher

Kultur als »Zwiebel«

Kultur als »Ozean«

Perspektive

Kultur als »Billardkugel«

Ausgehandelte Kultur



Tab. 21: Zwei Kulturansätze: Stabil-funktionalistisch versus dynamisch-interpretativ





Kulturdimensionen und Kulturstandards





Kulturdimensionen und Kulturstandards sind sowohl zentraler Bestandteil der Interkulturellen Managementforschung als auch der organisationalen Praxis und finden sich in zahlreichen wissenschaftlichen Studien und Lehrbüchern (Mayrhofer 2017). Sie sind als Kategorien bzw. Variablen zu verstehen, die in bestimmter Kombination auftretende gesellschaftliche Phänomene beschreiben und auch für deren Analyse genutzt werden können. Sie werden oft herangezogen, um soziale Systeme wie Gesellschaften, Organisationen oder Gruppen zu charakterisieren oder zu vergleichen. Sie eignen sich, um anderskulturelles Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Verhalten besser zu verstehen (Barmeyer 2011c). Kulturdimensionen und Kulturstandards beziehen sich etwa auf den Umgang mit Zeit, Information, Raum oder Wertorientierungen wie Individualismus, Machtdistanz oder Partikularismus etc. Wichtige Vertreter dieses Ansatzes sind Hall (1959, 1976), Hofstede (2001), Schwartz (1992, 2006) und Trompenaars/Hampden-Turner (1997).



Kulturstandards



Der US-amerikanische Kulturanthropologe Edward T. Hall gilt allgemein als Begründer der Interkulturellen Kommunikation (Rogers et al. 2002, 13). Hall (1959) verfolgte eine emische Herangehensweise an das Phänomen Kultur, dies wird in seiner methodischen qualitativen Vorgehensweise erkennbar: Ziel seiner Forschungsstrategie war es, ein