Comisario Carrascos Valencia

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Comisario Carrascos Valencia
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Allen, die mir Valencia gezeigt haben.

Christian Roth

Comisario Carrascos Valencia

Entspannter Regionalkrimi

© 2018 Christian Roth

2. Auflage (3)

Umschlaggestaltung, Illustration: Christian Roth

Verlag und Druck: Neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

ISBN: 978-3-746723-23-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Buch

Comisario Carrasco ist Valencianer durch und durch. Er liebt das Essen, die Sonne, das Meer und natürlich seine Stadt. Der kulinarische Aspekt hat einen durchaus nennenswerten Anteil in seinem Leben - Verabredungen oder Besprechungen verlegt Carrasco am liebsten in gute Restaurants oder traditionelle Bars. Weniger zufrieden ist er gerade mit seinem Job. Politisch motiviert, von der Polizeiführung unterstützt und von ihm in Frage gestellt, soll er den Chef des örtlichen Fernsehsenders überprüfen. Bevor die Ermittlungen richtig in Gang kommen, wird er von dem Fall wieder abgezogen. Nicht allein stur, eher überzeugt, das Richtige zu tun, lässt Carrasco nicht locker. Was nicht ohne Konsequenzen bleibt. Daraus entwickelt sich ein mehrgleisiger Handlungsstrang durch Drogengeschäfte und Cybercrime, der dabei nie den Kontakt zur Stadt, ihren Reizen und Problemen wie auch ihren kulinarischen Genüssen verliert. Ohne ein bisschen "Mord und Totschlag" kommt ein Krimi natürlich nicht aus. Die tragenden Elemente in Comisario Carrascos Valencia sind aber eher die Personen, ihre Charakterzüge und die sich ergebenden Verwicklungen - und natürlich das Lokalkolorit.

Die beschriebenen Hintergründe zum Leben in Valencia wie auch die Orte, Restaurants und Spezialitäten sind - im erlaubten Umfang einer erfundenen Geschichte - authentisch und machen Lust auf südliche Länder und vielleicht sogar die Stadt Valencia selbst. Ein Buch zum entspannten Lesen, nicht nur für den Urlaub.

Autor

Christian Roth, ist 57 Jahre alt, gebürtiger Berliner und lebt ungefähr die Hälfte des Jahres in Hamburg, die andere Hälfte in Valencia. Er ist auch Autor des Buchs "Kulinarischer Reiseführer Valencia".

Teil I

Kapitel 1

"Setzen Sie sich und hören Sie zu."

Ich saß bereits und war um einen durchaus aufmerksamen Eindruck bemüht. Die Züge im Gesicht von Ricarda Martínez ließen allerdings kaum Zweifel daran, wie ich ihre Gesprächseröffnung interpretieren sollte - Füße still und Klappe halten! Meiner bis jetzt guten Laune wegen tat ich wie geheißen.

"Pablo sagte mir, Sie seien wieder im Dienst und hätten noch keinen neuen Fall."

"Stimmt, bin seit gestern wieder im Dienst und der Chef hat mir auch noch nichts Neues gegeben. Und alles Alte dürfte sich nach einem halben Jahr vermutlich erledigt haben. Jedenfalls für mich."

"Sie kennen Yago Sánchez?"

"Chef von Televisión Valencia. Aber kennen ist zu viel gesagt. Wir sind uns vergangenes Jahr mal bei irgendeiner Veranstaltung über den Weg gelaufen. Seinen Namen kenne ich mehr aus der Zeitung. Vergeht ja kaum ein Tag ohne Schlagzeilen mit seinem Namen darin."

"Umso besser. Sie sollen ihn überprüfen, Carrasco."

Televisión Valencia war der regionale Rundfunksender. In den 90ern gegründet, sollte er die Comunidad Valenciana mit lokalen Informationen beglücken und nach dem Willen der Politik gleichzeitig die Valencianische Sprache fördern. Valenciano wurde damit zum politischen Programm. Der katalanische Dialekt sollte zu einer eigenständigen Sprache werden. Das war er im Leben der echten Valencianer eigentlich schon immer. Es fehlte aber offenbar noch ein Würdenträger, der sich damit schmücken konnte. Also durfte man nun die wortgewaltigen Auftritte von Lokalpolitikern und die seichten Berichte über das Stadtgeschehen oder über Touristen am Strand täglich vom Sessel aus in Valenciano verfolgen.

Ich fand die Idee zuerst gar nicht so schlecht und gut fünf Millionen Einwohner in der Comunidad hören sich auch nicht so wenig an. Das Programm war allerdings so spannend wie Taschenbillard. Und das ging offenbar nicht nur mir so. Der Marktanteil hatte es inzwischen auf unter 4 % geschafft und der Schuldenberg auf über eine Milliarde Euro. War klar, dass da etwas passieren musste. Schließlich hatten wir Crisis und auch die letzten Verfechter von Lokalkolorit und offizieller Sprachkultur wurden zunehmend stiller. Dazu musste man nicht zu den 28 % der Arbeitslosen in der Comunidad gehören. Die Krise breitete sich krakenartig auf alle Lebensbereiche aus. Alle waren direkt oder indirekt betroffen. Inzwischen auch die Politik. Spätestens, wenn sich der Zorn der Bevölkerung an korrupten oder unfähigen Amtsträgern in Wahlzeiten entlädt, kommt Handlungsvillen auf.

Rica beugte sich mit ihrer kräftigen Statur zu mir herüber, presste die Lippen zusammen und sah mich prüfend an. Ihr kantiges Gesicht und ihr fester Blick hatten mich ins Visier genommen. Widerstand ist zwecklos, war wohl die Botschaft. So langsam ging mir die Lust an nonverbaler Kommunikation verloren.

"Eigentlich bekomme ich meine Ermittlungsaufträge vom Jefe de División, nicht von der Bürgermeisterin."

"Der Polizeichef und ich arbeiten eng zusammen. Er ist einverstanden. Holen Sie sich Ihr Okay nachher selbst bei ihm ab."

Enge Zusammenarbeit? Was für ein Euphemismus. Pablo Villar ist ein opportunistischer Schleimer, außerdem war er offenbar empfänglicher für nonverbale Kommunikation als ich. Ich hatte wirklich keine Ahnung, womit sich Rica immer wieder die Zustimmung der Bevölkerung sichern konnte. Aber wenn man über zwanzig Jahre im Amt ist, kennt man wahrscheinlich alle Kniffe. Und die ihr Gleichgesinnten erkennt sie inzwischen wahrscheinlich ohnehin am Gang. Ich zuckte mit den Schultern. Für Krawall war ich eindeutig noch nicht wieder in Form.

"Mach' ich bestimmt. Worum geht's denn bei dieser Überprüfung? Wollte er nicht zuhören?"

Es wurde langsam besser.

"Hören Sie mit dem Blödsinn auf, Carrasco, die Sache ist ernst. Ob Sie so gut sind, wie Pablo mir versichert hat, weiß ich nicht. Wenn Sie die Sache allerdings vermasseln, gibt's Ärger - für Sie und für Pablo. Sie wissen, was das heißt."

Wusste ich nicht, konnte ich mir aber vorstellen. Wahrscheinlich die übliche Sie-werden-in-den-Streifendienst-versetzt-Kiste.

"Die Stadt Valencia subventioniert Televisión Valencia seit Jahren. Der Zuschuss, um den Sender am Leben zu halten, wird jedes Jahr höher. Der Sender ist zwar ein privates Unternehmen, die Stadt hat aber eine Subventionierungsgarantie abgegeben. Da kommen wir nur dann raus, wenn wir den Sender drastisch verkleinern oder besser gleich ganz schließen. Yago Sánchez wehrt sich dagegen mit Händen und Füßen. Mit seinem Nachfolger Valdez hätten wir einen Deal, der muss nur erst mal ins Amt gesetzt werden. Und vorher muss Sánchez weg. Ist das soweit klar?"

"Soll ich ihn etwa wegen Ungehorsams verhaften?"

"Natürlich nicht. Sie sollen ihn auch nicht unter Druck setzen oder ihm irgendetwas anhängen. Ich will aber wissen, mit wem ich es zu tun habe. Und wenn sich was gegen ihn finden lässt, umso besser. Ist mir jedenfalls lieber, die Polizei findet das heraus, als dass wir uns ohne Netz und doppelten Boden mit ihm anlegen."

"Soll das ein Witz sein? Die Polizei soll Ermittlungen gegen einen unbescholtenen Mann aufnehmen, weil er der Stadt nicht in den Kram passt? Und Sie glauben, das geht so auf Zuruf? Jeder andere muss dafür einen Verdacht zur Anzeige bringen und den auch begründen, so mir nichts, dir nichts geht das nicht."

"Es gibt einen begründeten Verdacht. Ich will aber keine Anzeige, bevor ich mir nicht sicher bin. Die Sache soll geräuschlos und diskret ablaufen."

Rica sah jetzt aus, als hätte sie ein Honigkuchenpferd verschluckt, die großen Augen mütterlich-weich auf mich gerichtet und der Mund zu einem Lächeln hochgezogen. Ihre Zähne leuchteten, wie Captain Hook es nicht besser zustande bringen konnte.

"Sie sind Polizist, Carrasco, und die Sache steht in öffentlichem Interesse. Pablo hat Sie als pflichtbewussten und umsichtigen Comisario empfohlen. Ich vertraue Pablo und ich setze auf Ihre Loyalität. Versauen Sie es nicht."

Das Honigkuchenpferd hatte Reißaus genommen, wie offenbar auch das Gespräch beendet war. Die deckenhohe, doppelflüglige Tür hinter mir öffnet sich und zum Vorschein kam Ricas Sekretärin, die mich mit ihrem ausgestreckten rechten Arm gen Ausgang wies.

Ich erhob mich etwas mühsam aus dem Renaissancesessel vor Ricas Schreibtisch und wandte mich zum Gehen.

"Vergessen Sie nicht, Ihrem Chef einen Besuch abzustatten, Carrasco!", hörte ich von hinten Ricas Stimme. "Und denken Sie dran - versauen Sie es nicht."

*

Ich trat aus dem Rathaus hinaus auf den Plaza del Ayuntamiento. Das konnte ja heiter werden. Entweder wurde ich zum Steigbügelhalter für irgendeine Schieberei im Rathaus oder ich konnte mich mit den vereinten Kräften von Stadtverwaltung und Polizeiführung herumschlagen. Was für ein öffentliches Interesse eigentlich? Die Stadt hatte sich einen Knebelvertrag für einen eigenen TV-Sender aufdrücken lassen. Erst haben sie sich dafür feiern lassen und jetzt muss ein Blöder her, der die Sache irgendwie aus der Welt schafft. Was machen wir dann als Nächstes? Den Vertragspartner für den Formel-1-Zirkus einlochen? Oder den Typen, der den nie in Betrieb gegangenen Flughafen Castellón betreibt, in die Wüste schicken? Oder ein halbes Stadtviertel mit ausgedienten Gebäuden vom America's Cup einreißen? Es ist doch überall dasselbe: Erst schmücken sich die Politiker mit irgendwelchen Megaprojekten, und wenn dann herauskommt, zu welchem Preis und auf wessen Kosten, dann muss das Ganze irgendwie geräuschlos unter den Teppich.

 

Mein Blick fiel auf das gegenüberliegende Post- und Telegrafenamt, über dem die Sonne vom makellosen Valencianischen Himmel herab schien. Ich verließ den dreieckigen Rathausplatz, vorbei am Springbrunnen in Richtung Mercado Central. Die alte Markthalle mit ihrer Jugendstilkuppel und den über dreihundert Händlern und ihren Ständen hatte es mir schon immer angetan. Ich wollte etwas gegen meinen Ärger und für meine gute Laune machen und beschloss, einen Stopp bei Manolo einzulegen. Seine Bar La Lonja gleich links neben dem Mercado war einer der Treffpunkte der Marktbeschicker und wie bei allen Bars hatte er Tische und Stühle draußen aufgestellt. Die Valencianer sitzen im Sommer oft drinnen und im Winter draußen. Der Winter in Valencia findet allerdings auch bei meistens zweistelligen Temperaturen statt - wohlgemerkt plus. In die von den allgegenwärtigen Klimaanlagen auf arktische Temperaturen herunter gekühlten Innenräume ging man nur im Sommer. Die Touristen erkannte man daran, dass sie bei mehr als 40 °C draußen saßen.

"Mach' mir einen Gin Tonic, Manolo."

Gin Tonic war so etwas wie das Nationalgetränk von Valencia. Abgesehen vom eher bei Touristen beliebten Agua de Valencia, bei dem der Gin mit Orangensaft, Wodka und Sekt verlängert wird. Ich mochte meinen Gin am liebsten klassisch, nur mit Tonic. Und eigentlich gibt es da auch nur zwei Varianten für mich: Hendrick's mit zwei Scheiben grüner Gurke oder Tanqueray No. Ten mit Limette und getrockneten Wacholderbeeren.

"Du siehst aus, als könntest du etwas Aufheiterung vertragen." Manolo hatte sich neben mir aufgebaut und grinste mich durch seinen Dreitagebart fröhlich an.

Ich grinste zurück. "Hendrick's, wie immer", und wollte dem armen Manolo nicht auch noch die Laune verderben.

Mein Handy bimmelte und auf dem Display tauchte der Name von Pablo Villar auf. Hatte ja auch lange genug gedauert, bis Rica ihrem Polizeichef noch mal Feuer unterm Hintern gemacht hatte.

Manolo brachte den Gin mit einem Tellerchen Nüssen. Ich nahm ab.

"Carrasco!" Ich tat beschäftigt und erst mal unwissend. Der Jefe macht nicht viele Umstände. Machte er selten. Und Höflichkeit Mitarbeitern gegenüber gehörten auch nicht zu seinen Gewohnheiten. Zuletzt hatte er mich im Krankenhaus gesehen und das war vor fünf Monaten. War wohl nicht zu vermeiden gewesen. Aber immerhin hatte er meine Handynummer noch. Und dass ich wieder im Dienst war, war ihm ja auch nicht verborgen geblieben.

"Victor, kommen Sie Morgen gleich früh in mein Büro, Sie haben einen neuen Fall. José Solá wird Ihnen wieder als Unterstützung zugeteilt, wie früher. Bringen Sie ihn am besten gleich mit. Um 10:00 Uhr in meinem Büro."

Das Gespräch war beendet, ohne, dass ich noch ein Wort gesagt hatte. Trotzdem war ich nicht unzufrieden damit. Die Diskussion über den Fall Yago Sánchez, was er jetzt offenbar war, hatte von mir aus Zeit. Außerdem würde mein Gin warm werden.

Kapitel 2

Vor 9 Monaten

"... befördere ich Sie hiermit zum Comisario Principal und wünsche Ihnen und Ihrem Team weiterhin viel Erfolg." Polizeichef Pablo Villar schüttelte mir die Hand. Die Kollegen applaudierten.

Als nunmehr Hauptkommissar leitete ich zusammen mit Inspektor José Solá die Ermittlungsgruppe Carta Muerta. Der "tote Brief" war in diesem Fall eher ein toter Briefträger. Und er trug nicht nur kein Leben mehr in sich, sondern auch keine Briefe bei sich. Dafür Drogen. Genug, eine Kleinarmee für ein halbes Jahr zu versorgen. Alles in handlichen Päckchen gut verpackt und zum Abtransport bereit. Die Frage war nur, wer würde den Abtransport vornehmen, wohin ging die Reise und wer war der Abnehmer. Und schließlich: Wer hatte den Briefträger auf dem Gewissen?

Die Fragen sollte ich beantworten. Und mit mir mein Team. Mit von der Partie waren zwei Kollegen von der Unidad de Drogas y Crimen Organizado, also der UDYCO. Wer sich das ausgedacht hatte, war vermutlich mindestens bekifft. Die UDYCO hatte ihren Sitz in Madrid und war mit allem ausgestattet, was gut und teuer war. Reichlich Personal und noch mehr Spielzeug. Vom stattlichen Fuhrpark über eigene Hubschrauber bis hin zu zwei Schnellbooten. Letztere wurden in Madrid eher weniger eingesetzt. Bei uns angekommen waren sie aber auch nicht, obwohl wir das passende Meer dazu vor der Haustür hatten. Dafür kamen Souza und Albea an. Mit der Bahn. Immerhin waren wir jetzt zusammen mit den örtlichen Kollegen zu sechst.

Am Tatort hatte sich natürlich niemand mehr gezeigt, nachdem der Briefträger erst einmal das Zeitliche gesegnet hatte. Die Päckchen wanderten in die Asservatenkammer. Die Spur zu den Abnehmern der Lieferung war erst einmal kalt. Genauso wie der Briefträger.

Dafür war es in Valencia heiß. Über 40 °C im August sind eigentlich normal, die Windstille machte aber allen zu schaffen, die nicht das Glück hatten, am Strand liegen zu dürfen. Was sich offenbar auch im Gemütszustand einiger Mitmenschen niederschlug. Jedenfalls gab es nach zwei Wochen der Ermittlungsarbeit null Prozent Ergebnisse und einhundert Prozent Stress. Den hatte vor allem Pablo Villar auszuhalten und er kam auch aus dem Rathaus.

Das große Einfallstor für Drogen in Spanien ist die Straße von Gibraltar. Die Verteilerroute verläuft die gesamte Küste hinauf bis nach Barcelona. Auch in Valencia haben sich regelrechte Drogensupermärkte wie auch Weiterverteilungszentren gebildet. Politik und Polizei hatten dem Drogenhandel den Kampf mit verstärkten Bandagen angesagt, die UDYCO wurde gegründet und alle brauchten Erfolge.

Unser Fall war bisher alles andere als ein Erfolg. Deswegen wurde einer kreiert. Wenigstens ein kleiner. Der Polizeichef hatte der Politik die Gründung einer Ermittlungsgruppe versprochen. Das war die Geburtsstunde von Carta Muerta. Jetzt brauchte man nur noch einen vorzeigbaren Hauptkommissar als Leiter.

Vor 8 Monaten

Wir hatten inzwischen zwar nicht den Stein der Weisen gefunden, aber wenigstens die Drogenverteilung rekonstruiert. Die Päckchen waren für den Markt auf Ibiza bestimmt. Die Baleareninsel liegt dicht vor der Haustür von Valencia und ist in null Komma nichts mit dem Schnellboot zu erreichen. Gute Voraussetzungen für Drogenverteiler.

"Meine Damen und Herren, Hauptkommissar Victor Carrasco von der Polizeidirektion Valencia und Leiter der Einsatzgruppe Carta Muerta wird Ihnen die Ergebnisse der bisherigen Ermittlungsarbeit vorstellen."

Pablo Villar guckte erst über die Köpfe von ungefähr zwei Dutzend Journalisten hinweg und dann zu mir.

Unser Hauptquartier, die Jefatura, liegt in der Calle del Buen Orden im Viertel Arrancapins. Rechteckig wie ein Handtuch erstreckt sich das Barrio vom Turia-Becken im Norden bis zum neu erbauten Bahnhof Joaquín Sorolla im Süden. Joaquín Sorolla ist die Endstation der Hochgeschwindigkeitszüge in der Stadt, mit denen man unter anderem in neunzig Minuten in Madrid war. Die Jefatura selbst ist eines der vielen Jugendstilbauten der Jahrhundertwende in Valencia. Ein schönes, aber schlichtes Gebäude mit hohem Portal in der Mitte und breiten Flügeln nach rechts und links. Allerdings ist es alt, eng und, wie viele andere Bauwerke außerhalb des touristischen Zentrums, renovierungsbedürftig. Und so hatte der Jefe, um Eindruck zu schinden und dabei auch die Politik nicht ganz aus den Augen zu verlieren, die Pressekonferenz kurzer Hand ins Rathaus und damit in die Sphäre von Rica verlegt.

"Señoras y Señores, ich kann Ihnen die Verhaftung des fünfundvierzigjährigen Muaz Anlami bekannt geben. Der Mann wird dringend der Tat verdächtigt, vor einem Monat im Hafen von Valencia einen marokkanischen Drogenkurier erstochen zu haben. Muaz Anlami ist spanischer Staatsbürger marokkanischer Herkunft, seit zwei Jahren in Valencia ansässig und der lokalen Drogenszene zuzurechnen. Wir gehen davon aus, dass Anlami versucht hat, in der örtlichen Hierarchie aufzusteigen, dass er dabei in Streit mit seinen Komplizen geriet und es infolge eines Handgemenges mit Messerstecherei zum Tode eines der Komplizen kam. Die Ermittlungsarbeiten zum genauen Tathergang dauern an. Von größter Bedeutung sind die Erkenntnisse im Zusammenhang mit der marokkanischen Gruppe, die wir auf diesem Weg ermittelt haben. Wir vermuten, dass es sich dabei um ein neues Standbein eines in Nordafrika tätigen Drogenringes handelt, der in Valencia Fuß fassen will. Dies werden wir mit allen Mitteln zu verhindern suchen und konzentrieren deswegen unsere Kräfte auf diesen Bereich."

Marokko und Ibiza - das war nicht ganz dasselbe. Sollte es auch nicht sein. Das Ganze war meine Idee. Wenn schon unbedingt eine Pressekonferenz mit anschließender Bauchpinselei von Polizeiführung und Politik, dann wenigstens mit einem produktiven Nutzen. Natürlich hatten wir Anlami verhaftet und es gab auch einen Tatvorwurf gegen ihn. Allerdings in anderer Sache und mit anderem Hintergrund. Das wussten aber außer ihm und seinem Anwalt nur Staatsanwaltschaft und Polizei. Während Anlami im Deal mit der Staatsanwaltschaft auf Milde hoffte, konnten wir den Fokus der Öffentlichkeit wenigstens vorübergehend von unseren eigentlichen Ermittlungen fernhalten.

Tatsächlich hatten wir außer der Spur nach Ibiza nichts. Zugleich war diese Spur aber auch die einzige Chance weiterzukommen. Der Plan war natürlich, nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Hintermänner zu täuschen. Je mehr Tamtam die Presse um Anlami und Marokko machte, umso besser konnten wir die Ibiza-Connection beobachten.

Vor 6 Monaten

Es war warm, aber es regnete in Strömen. Der Regen verhing die Dunkelheit der Nacht so weit, dass ich kaum das andere Ende des Containers ausmachen konnte, hinter dem ich hockte. Den Kollegen in den übrigen Himmelsrichtungen ging es sicher nicht besser. Unser Augenmerk galt einem Pick-up, der auf dem von Containern umgebenen Gelände am westlichen Rand des Valencianischen Hafens parkte. Das tat er seit Stunden, ohne dass sich etwas rührte. Wenn ich nicht wüsste, dass vierundzwanzig Holzkisten auf seiner Ladefläche darauf warteten, verladen zu werden, wüsste ich nichts.

Alles war ruhig, nur der Regen prasselte auf den Asphalt.

José meldete sich per Funk, gab seinen Status an Souza und Albea und die übrigen beiden Mitglieder unserer Einheit durch und ich schloss mich an.

Männer, die auf Kisten starrten.

Wir hatten in den vergangenen vier Wochen unsere Chance genutzt und die Ibiza-Connection observiert. Der Weg der Drogen verlief von Valencia über Alicante nach Ibiza. Alicante war der Verteilerknoten für Ibiza, in Valencia wurde der Hafen benutzt, um über Gibraltar eingehende Lieferungen auf verschiedene Verteilungszentren umzulagern. Heute sollte wieder umverteilt werden.

Der Regen ließ jetzt nach.

"Zwei Personen auf drei Uhr in Richtung Pick-up." Albea hatte eine leicht erhöhte Position genau gegenüber der hinteren Ladefläche des Pick-up, ungefähr einhundert Meter davon entfernt. Mit dem offenbar besten Blick in der Dunkelheit hatte er zuerst bemerkt, was nun auch die übrigen vier Kollegen leise per Funk bestätigten.

Von meinem Standort aus, etwa einhundertfünfzig Meter seitlich des Pick-up, war nichts zu sehen. "Abwarten und ruhig verhalten, wir greifen nicht zu, bevor wir wissen, wer noch zur Party kommt."

Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Die Observierung war zwar professionell verlaufen und wir hatten alles aufgefahren, was Beine hatte - und Räder und Flügel. Neben einem Dutzend Kollegen in ihren Einsatzfahrzeugen hatten wir sogar einen Polizeihubschrauber in Alarmbereitschaft auf dem Flughafen. Es gab auch keine Hinweise darauf, dass wir entdeckt wurden. Andererseits stand dieser Pick-up genau da, wo wir ihn am wenigsten hätten haben wollen, und die Sichtverhältnisse waren nach wie vor schlecht.

"Hola Amigo" kam es jetzt süß und leise aus meinem Headset. "Dein Kollege vor mir guckt aus sehr, sehr kurzer Entfernung direkt in den Lauf meiner 45er. Er war so schlau, mir die Frequenz seines Einsatzleiters zu geben."

"Ja, das war schlau. Aber nicht von dir. Die Veranstaltung hier ist gut besucht. Egal, was du willst, du kommst hier nicht raus. Nimm die Waffe runter, dann bleibst du am Leben."

 

Im Hintergrund hörte ich José Solás Stimme. Da war er also, fünfzig Meter links von mir hinter zwei aufeinandergestapelten Containern am östlichen Ende des Platzes. Ich konnte ihn eher erahnen als sehen.

"Ich bin die Lebensversicherung der beiden Typen auf dem Weg zum Pick-up. Und du bist meine. Komm rüber zu mir, dann kann dein Kumpel gehen. Dann sorgst du für freie Fahrt der Jungs im Pick-up. Wenn die vom Hof sind, kannst auch du gehen. Alles ganz einfach. Wir machen alle unseren Job und nachher sitzen wir wieder brav zu Hause beim Bier."

Wer's glaubt. Das würde nicht gut ausgehen. José war alles andere als ein Dirty Harry. Ein guter Polizist, aber keiner, der gegen eine Waffe am Kopf irgendeine Chance hätte - außer der auf den eigenen Tod. Und der Amigo aus dem Headset war sicher kein Drogenschieber - zu ausgebufft und zu cool. Der hatte sich was überlegt. Ich wusste nur noch nicht, was. Aber soviel war klar: Der Austausch war nicht nur die beste, sondern die einzige Option, die Kontrolle zu behalten - und Josés Leben.

Ich informierte also die anderen und befahl, solange nicht zu zucken, bis José wieder bei ihnen war. Dann kroch ich mit erhobenen Händen hinter meinem Container vor.

Von links, aus Josés Richtung, schob sich ein Körper langsam hinter einem Container hervor. Ich ging darauf zu, die Hände noch immer in der Luft auf Schulterhöhe. Die Kollegen rührten sich nicht, es war absolut still. Der Regen hatte jetzt ganz aufgehört. Ein halber José, dann ein ganzer stand vor mir, vielleicht zehn Meter entfernt. An seinen Kopf drückte eine Waffe, gehalten von einer hellen Hand an einem Stück nackten Unterarms, der in einer Art Overall hinter dem Container verschwand.

Ich ging noch näher. Der Overall war kein Overall, sondern ein Shorty, ein Tauchanzug mit kurzen Ärmeln. Zumindest konnte ich mir jetzt vorstellen, wie unser Amigo hier wieder rauskommen wollte. Das machte mir Hoffnung. Der Kerl war ein Profi. Durchdachter Angang, keine wilde Ballerei oder verzweifelte Flucht mit Geiselnahme. Der wollte seinen Plan durchziehen und wieder verschwinden. Es musste keine Toten geben.

Ich war jetzt auf fünf Meter an José herangekommen und blieb stehen. Die 45er an seinem Schädel war eine Smith & Wesson Governor, ein kurzläufiger Colt. Enorme Mündungsenergie. Amigo überließ offenbar nichts dem Zufall. Wieder fiel mir die helle Hand auf, die den gummierten Griff des Revolvers umschloss. Nein, das war keine helle Haut, das war ein Tattoo. Mit weißer Tinte war irgendwas Großflächiges auf den Handrücken von Amigo gestochen, vielleicht ein Kaninchen. Amigo aus dem Wunderland.

Das Kaninchen machte einen unvermittelten Satz nach oben und mit ihm die 45er, weg von Josés Schädel. Also doch Dirty Harry. Leider. Denn was die unüberlegte Tat Josés auslöste, waren Sekunden völligen Chaos. José warf sich auf den Boden. Die Kollegen ballerten in Richtung Amigo. Die Typen auf dem Weg zum Pick-up verschwanden mit deutlichem Desinteresse an ihrem Fahrzeug in der Dunkelheit. Amigo schoss seinen Colt leer. Danach kam seine Walther P99 zum Einsatz, während er im Taucheranzug Richtung Kaimauer lief und im Hafenbecken verschwand.

Woher ich das mit der Walther wusste? Eine ihrer 9 mm-Projektile steckte in meiner rechten Schulter, genauer in meiner seitlichen Brustkorbarterie. Wenigstens hatte Amigo zuerst seinen Colt leer geschossen, bevor er mit seiner deutlich kleineren Restmunition meinen Körper perforierte.