Comisario Carrascos Valencia

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Kapitel 3

José Solá hatte immer noch Schuldgefühle mir gegenüber. Wir hatten uns schon im Krankenhaus ausgesprochen und es war alles gesagt. Ich hatte ohnehin nie geglaubt oder gedacht, dass José meinen Beinahe-Tod hätte verhindert können. Oder das er ihn sogar irgendwie herbeigeführt hätte. Trotzdem blieb ein Schatten über unserer Beziehung. Er gab sich die Schuld und ich wusste das.

Wir waren in den Jahren eigentlich nie mehr als Arbeitskollegen gewesen. Nicht unbedingt befreundet. Trotzdem verband uns mehr als kollegiale Vertrautheit. Gegenseitige Loyalität bestimmt, sich aufeinander verlassen können natürlich auch. Insbesondere aber gegenseitige Achtung und Akzeptanz. Das hierarchische Gefälle zwischen dem Hauptkommissar und seinem Inspektor bestand bei uns nur auf dem Papier. Wir sind nie auf einer formalen Ebene miteinander umgegangen. José würde unliebsame Aufgaben oder Verantwortlichkeiten nie versuchen mir zuzuschieben, obwohl er das manchmal hätte tun könnte. Ebenso wenig würde ich in José je den Empfänger von Dienstanweisungen sehen. Eigentlich basierte unsere Zusammenarbeit immer auf einem nicht ausgesprochenen, aber spürbaren miteinander zu tun haben wollen. Jedenfalls bei der Arbeit.

Im privaten Bereich gab es ein solches unausgesprochenes wie spürbares Übereinstimmen auch, nur im umgekehrten Sinne. Da hatten wir nämlich gegenseitig nichts miteinander am Hut. Keiner von uns beiden hatte auch je nur versucht, mehr aus dem berufsmäßigen Verhältnis machen zu wollen. Vielleicht lag es auch an unseren gegensätzlichen Lebensweisen und Charakterzügen. Ich bewunderte José manchmal dafür, dass er sich mit Dingen abfinden konnte, die zum Himmel stanken. Nicht, dass er unengagiert oder desinteressiert gewesen wäre. Er hatte einfach ein Grundverständnis, Mist Mist und Idioten Idioten sein lassen zu können. Ich konnte mich dafür mindestens gleich zweimal ärgern oder aufregen. So war es José dann eben auch vergönnt, abends eher unbelastet an Heim und Herd, sprich zu Frau und Kindern heimzukehren. Nicht, dass ich wie er hätte leben wollen. Mir gefiel das Junggesellendasein in meiner Zweizimmerwohnung im Zentrum Valencias ganz ausgezeichnet. Es verband uns in diesem Sinne aber wenig.

Ich warf die Tür meiner Wohnung hinter mir zu und stieg die Treppe hinunter. Der Himmel war wie immer strahlend blau und die Sonne schien. Jetzt, um 9:00 Uhr morgens, stand sie aber noch zu tief, um die Schatten aus der Calle Jofrens zu vertreiben. Und so war es sogar etwas kühl, als ich in Richtung Horchateria El Siglo aufbrach.

Die Calle Jofrens war keine fünf Meter breit. Rechts und links erhoben sich überwiegend Wohngebäude aus vergangenen Jahrhunderten. Kleine Balkone und gusseiserne Laternen an den Hauswänden ließen die kleine Gasse noch schmaler wirken. Ich ging vorbei am Torbogen, der in den Innenbereich der Plaza Redonda führte und stand nach einhundert Metern Fußweg vor der Horchateria. Die Sonne schien hier ungehindert von rechts über den großen Plaza de la Reina auf die Tische und Stühle des Cafés.

"Buenas dias, José." Ich setzte mich zu ihm. "Schon bestellt?"

"Buenas, Vic. Bin gerade gekommen. War eine gute Idee, vorher noch einen Kaffee zu trinken."

"Ich brauche etwas zum Frühstück, du hattest wahrscheinlich schon?"

"Klar, Marisa lässt mich doch sonst nicht aus dem Haus."

Ich bestellte Churros für mich und zwei Kaffee für uns.

"Als du gestern angerufen hattest, war der Chef gerade weg. Wichtiger Termin im Rathaus. Dabei hatte er vorher bestimmt eine halbe Stunde mit Rica telefoniert. Muy importante el caso, so aufgeblasen wie der Alte gestern durch unsere Büros gesegelt ist, ganz breite Brust."

"Mal sehen, wie er heute drauf ist. Rica jedenfalls geht fest davon aus, dass wir ihr Yago Sánchez aus dem Weg räumen. Sie wird Pablo eingetrichtert haben, was wir uns gleich anhören müssen. Bin nur mal gespannt, wie weit der alte Opportunist geht, ist ja immerhin auch Polizist."

"Du siehst das wie immer zu schwarz. Rica macht ihren Job, Pablo macht seinen Job und wir machen unseren. Er hat noch nie verlangt, etwas Ungesetzliches zu tun. Wenn es tatsächlich eine Anschuldigung gegen Yago Sánchez gibt, gehen wir ihr nach. Und wenn etwas dran ist, nehmen wir ihn hoch. Ist doch egal, wenn sich hinterher noch jemand anderes freut."

Typisch José, immer entspannt. Ich sah das anders. Anschuldigungen konnte man immer und gegen jeden aufstellen. Rica und mit ihr Pablo wollten uns vor ihren Karren spannen. Jeder mit seinem ganz persönlichen Vorteil. Ich allerdings hatte keine Lust, mich für irgendein Spielchen benutzen zu lassen. War auch typisch, und zwar für mich. Immer mit Ethos und Moral unterwegs. Konnte ich nicht auch mal Fünfe gerade sein lassen? Ich würde mich ärgern und schon das ärgerte mich.

Moralapostel war ich bestimmt nicht. Allerdings konnte ich mich schon immer schwer damit abfinden, Dinge zu tun, hinter denen ich nicht stand. Wie oft hatte ich mir schon überlegt, den Polizeidienst hinzuschmeißen. Die in meinem Job vorherrschende Dichte von Politik, Geklüngel, Untertänigkeit und Beamtentum zu unterbieten, konnte doch nicht so schwer sein. Und eigentlich hatte ich doch längst schon den Plan dafür in der Schublade. Mein alter Freund Salva hatte mich schon so oft gefragt, warum ich nicht in seiner Detektei mitarbeiten würde. Wir waren gute Freunde und sein Laden lief einigermaßen, jedenfalls gut genug für uns beide. Trotz der vielen Zeit zum Nachdenken im Krankenhaus war ich aber wieder angetreten. Wenn ich wüsste warum, wäre ich einen Schritt weiter.

*

"Setzen Sie sich, meine Herren."

Pablo Villar war kein großer Mann. Nicht körperlich und für mich auch nicht im übertragenen Sinne. Dafür war es sein Büro umso mehr. Ein riesiger Schreibtisch nahm den größten Teil des hinteren Raumes ein. Er war gesäumt von zwei deckenhohen Flaggen, links Comunidad Valencia, rechts Cuerpo Nacional de Policia. Pablo, auf einem Ledersessel mit breiter Lehne sitzend, nahm sich dazwischen aus wie ein Zwerg. Als Jefe de División trug er meistens zivil, so wie José und ich immer. Heute wollte er uns unübersehbar seine Autorität spüren lassen und hatte seine Uniform angezogen. Wie alles mit offiziellem Anstrich in Spanien nicht unbedingt schlicht. Er unterstrich seinen Anspruch durch eine straffe Haltung und einen entschlossenen Gesichtsausdruck - und durch den Verzicht auf Smalltalk.

"Sie wissen beide bereits, dass Ihr neuer, gemeinsamer Fall der von Yago Sánchez ist. Die Bürgermeisterin hat mich wissen lassen, wie wichtig die Angelegenheit für das Gemeinwohl unserer Stadt ist. Ich habe ihr natürlich die volle Unterstützung der Polizei sofort zugesichert. Wir sind uns einig, dass es schwerwiegende Verdachtsmomente gegen Sánchez gibt, denen die Polizei gewissenhaft und gründlich nachgehen muss. Alles im Rahmen der Gesetze und Vorschriften, ganz ohne Frage. Aber auch nicht zimperlich. Die öffentliche Stellung beim Sender darf Sánchez nicht davor schützen, wie jeder andere Bürger behandelt zu werden."

Nett formuliert. Ich war gespannt, was das für schwerwiegende Verdachtsmomente waren. Und wo sie herkamen.

José schien das - bis jetzt - ähnlich zu sehen. "Was sind das für Verdachtsmomente und wo kommen sie her?"

Ich selbst hielt lieber die Klappe. Nonverbale Kommunikation, gelernt bei Rica. Mein Verhältnis zu Pablo war noch nie besonders gut gewesen. Dass er mich zum Hauptkommissar befördert hatte, diente eher ihm als mir, jedenfalls war das nicht irgendeine Freundlichkeit oder Würdigung. Mit José kam er besser zurecht. Dazu musste man nicht devot sein, was für José auch nicht in Frage kam. Man durfte aber nicht übermäßig kritisch sein, sich das zumindest nicht anmerken lassen. Die eigene Intelligenz war dem Lösen der Fälle vorbehalten. Im Aufeinandertreffen mit dem Polizeichef war man gut beraten, keinen Zweifel an dessen geistiger Kompetenz entstehen zu lassen. Da gab es einen klaren Anspruch, dem man bereit sein musste zu folgen. Ich tat mich damit etwas schwerer.

"Sánchez wird der Veruntreuung verdächtigt. Sein zweiter Geschäftsführer Valdez vermutet, dass er im fast schon unübersehbaren Dschungel von Schulden beim Sender etwas abgezweigt hat. Details gibt es keine. Der Verdacht ist aber begründet. Und merken Sie sich eines: Der Name Valdez darf auf keinen Fall ins Spiel gebracht werden. Ich habe ihm persönlich versichert, dass wir ihn schützen und er nichts zu befürchten hat."

Das war's also. Rica macht einen Deal mit Valdez, damit der neuer Geschäftsführer wird und die Stadt ihr Subventionierungsproblem löst. Im Gegenzug hilft er Rica dabei, Sánchez abzuservieren. Die Sache stank zum Himmel. Die Zeit des Schweigens war zu Ende.

"Glauben Sie das etwa selbst?", fragte ich Villar. "Mit dieser Behauptung könnten wir jeden Dritten von der Straße holen. Das ist doch alles nur konstruiert. Rica räumt sogar offen ein, dass sie lieber mit Valdez als Geschäftsführer arbeiten will als mit Sánchez. Was liegt da näher, als Sánchez anzugehen."

"Ich habe selbst mit Valdez gesprochen. Und mit der Steuerfahndung. Sánchez lebt deutlich über seine Verhältnisse. Mit seinem Einkommen beim Sender kann er sich weder Villa noch teure Autos leisten. Und seine ständigen Luxusreisen schon gar nicht."

Natürlich ist es José, der das aufgreift. "Ich finde, es kann nicht schaden, zumindest mal nachzusehen, woher sein Geld kommt. Wenn da nichts ist, sind wir schnell wieder fertig und dann muss Rica sich etwas anderes überlegen. Kein Verstoß, kein Täter, keine Verhaftung. Und immerhin ist es ja auch öffentliches Geld, über das wir reden. Ich finde das mit dem öffentlichen Interesse nicht von der Hand zu weisen."

Villar sah mich scharf an. "Carrasco, das hier ist keine Abstimmung. Sie haben einen dienstlichen Auftrag. Befolgen Sie die Anweisungen und machen Sie sich an die Arbeit. Ich erwarte regelmäßig Berichte von Ihnen. Und rasche Ergebnisse."

 

Ich war nicht überzeugt. Aber musste ich das sein? In einem hatte Villar recht: Es war ein dienstlicher Auftrag und ich sein ihm unterstellter Hauptkommissar. Vielleicht war es klüger, jetzt nachzugeben und dafür die Sache in der Hand zu behalten. Denn eines war klar: Die Untersuchung gegen Sánchez würde stattfinden, mit mir oder ohne mich.

"Ich werde die Ermittlungen leiten. Sie erhalten Ergebnisse, sobald es welche gibt."

*

José und ich hatten im Rest des Vormittages die ersten Schritte der Untersuchung gegen Sánchez eingeleitet. Zuerst sollte es einen Termin mit der Steuerfahndung geben, dann einen mit Valdez und schließlich würden wir Sánchez selbst aufsuchen.

Es ging auf 14:00 Uhr zu, Zeit zum Essen. José ging wie üblich nach Hause, ich war mit Salva verabredet.

Salvadore Garcia war jetzt genau der richtige Gesprächspartner für mich. Und das Essen in der Oveja Negra war auch nicht zu verachten. Das kleine Lokal lag zwar etwas abseits auf der anderen Seite des Turia-Beckens. Dafür war die Küche ausgezeichnet. Nicht extravagant, sogar preiswert. Alles frisch zubereitet und sehr abwechslungsreich. Zum menú de mediodía kamen eigentlich nur Valencianer. Touristen gab es hier selten. Der schlauchförmige Innenraum mit seinen fünfundzwanzig Tischen links und rechts an der Wand war immer voll bis auf den letzten Platz. Die Kellnerin schaffte es oft nicht, die Getränke und Teller durch die kleine Gasse zwischen den Tischen zu tragen. Reservieren konnte man nicht und so war es gut, dass Salva bereits einen Tisch besetzt hatte. Sein Krug Ribeiro war halb ausgetrunken, ich war etwas zu spät.

"Buenas, Vic, schön, dich zu sehen! Was ist dir denn über die Leber gelaufen? Komm, setzt dich, trink einen Schluck. Außerdem gibt es heute Arroz al Horno und zum Nachtisch Schokoladentorte mit Profiteroles." Salva füllte mein Glas.

Er war wie immer gut gelaunt, jedenfalls, wenn er einen seiner Fälle abgeschlossen hatte und die freie Zeit bis zum nächsten genießen konnte.

"Danke, ich freue mich auch. Arroz hört sich gut an. Schön, dass du wieder da bist, Salva. Hast du deinen Auftrag in Barcelona erledigt?"

Salva und ich hatten eine Vereinbarung: Keine Details über unsere Arbeit an den anderen - es sei denn, einer von uns bittet ausdrücklich um Hilfe. Ich wusste also nicht viel von dem, was Salva zuletzt gemacht hatte. Wir waren gute Freunde und kannten uns lange. Natürlich sprachen wir über unsere Arbeit. Es war aber auch unser Prinzip, die gegenseitige Unbefangenheit nicht anzutasten. Natürlich nicht aus Misstrauen, im Gegenteil. Salvas Aufträge waren meistens nicht weniger speziell als meine. Beide hatten wir es oft mit Personen des öffentlichen Lebens zu tun. Es war sogar schon vorgekommen, dass es dieselben waren. Da war es gut, dass jeder ohne Vorbehalte tun konnte, was er für nötig hielt. Ausgenommen war nur die gegenseitige Unterstützung. Meistens ging es dabei um Informationen. Das waren nicht nur seltene Ausnahmefälle, zugegeben. Aber man musste den anderen ausdrücklich darum bitten. Bis dahin blieb alles im Abstrakten.

"Ja, bin seit gestern wieder in der Stadt. Barcelona war eine einfache Sache. Details erspare ich dir, du kennst mindestens einen der Beteiligten. Und du willst bestimmt nicht wissen, was da abgelaufen ist. Natürlich alles legal, trotzdem ein bisschen heikel. Na ja, wirklich Spaß gemacht hat es nicht, wurde aber gut bezahlt, ging schnell und machte keinen Stress."

Salvas Spezialität waren, um es einfach auszudrücken, Personalien. Wer ein Problem hatte, das er oder sie nicht selbst lösen konnte und das zugleich Diskretion verlangte, war bei ihm genau richtig. Er kannte Gott und die Welt, war ehrlich, loyal und zuverlässig - und gesetzestreu. Der ideale Problemlöser für Leute, die etwas zu verlieren hatten.

"Vic, ich kann mir vorstellen, dass der Wiedereinstieg in den Job nicht einfach für dich ist. Und richtig wohlgefühlt hattest du dich doch schon vor deiner Zwangspause nicht. Warum überlegst du es dir nicht noch einmal, bei mir einzusteigen. Garcia y Carrasco - Investigaciónes. Wir hätten viel Spaß miteinander und wären ein gutes Team. Du denkst vielleicht, meine Aufträge sind banal und unnütz. Das stimmt manchmal auch. Dafür bin ich aber mein eigener Herr. Ich entscheide, für wen ich arbeite. Jedenfalls im Prinzip. Es ist ein gutes Leben."

"Das ist nicht der Punkt. Ich finde Deine Arbeit nicht banal. Ich würde auch gerne mit dir arbeiten. Auf der anderen Seite bin ich aber auch immer gerne Polizist gewesen, jedenfalls früher. Es ist weniger geworden, stimmt, aber es fällt mir schwer, das hinter mir zu lassen. Vielleicht fehlt mir aber auch nur ein Anstoß, das aufzugeben. Gründe gäbe es genug. Aber wenn es wieder einmal Ärger gibt, dann geht es erst recht nicht. Ich nehme die Sachen zu persönlich, glaube ich. Im Streit mit Villar, so wie jetzt, will ich ihm nicht das Feld räumen und ihm einfach die Dinge überlassen.

Die Kellnerin nahm die Bestellung auf und schenkte Ribeiro nach. Der galizische Weißwein war trocken und leicht, genau das Richtige zum Mittagessen.

"Du willst dein Gesicht nicht verlieren, stolzer Hauptkommissar. Oder besser stolzer Valencianer. Na gut, aber dann lass mich dir wenigstens helfen. Wie heißt das Problem?"

"Ich finde es vor allen Dingen falsch, was Villar macht. Vielleicht will ich ihm das beweisen. Egal, ich habe vorhin einen Auftrag übernommen, und den mache ich zu Ende. Wenn es vorbei ist, sprechen wir beide über ein gemeinsames Büro, versprochen."

"Einverstanden. Sag mir, wenn ich etwas für dich tun kann."

"Kannst du schon jetzt, danke! Schon mal von Yago Sánchez gehört?"

*

Nachdem Salva und ich uns verabschiedet hatten, ging ich zu Fuß zurück zur Jefatura. Immerhin knapp vier Kilometer, aber das Wetter war herrlich und nach den Profiteroles in Schokoladentorte brauchte ich Bewegung. Ich entschied mich, das Turia-Becken über die schmale Fußgängerbrücke Pont del Mar zu queren. Mit ihren Bögen, Freitreppen und Statuen ist sie meine Lieblingsbrücke. Seit dem sechzehnten Jahrhundert verbindet sie den alten Stadtkern mit dem Hafen und führt heute in Richtung Innenstadt weiter zur Glorieta. Der kleine Park zwischen Justizpalast und dem Platz des Meeresportals mit dem Triton Brunnen und den großen, alten Bäumen ist eine Oase mitten in der Stadt.

Salva hatte recht. Ich wollte mein Gesicht nicht verlieren, deswegen musste ich Villars Auftrag annehmen. Ich sollte aber auch darüber nachdenken, wie es danach weitergehen sollte. Deswegen würde ich mit Salva reden, wenn die Sache ausgestanden war. Ich ging weiter über die Calle Colón, Valencias Downtown, vorbei an der Stierkampfarena gleich neben dem alten Bahnhof, überquerte den Plaza de España und war nach weiteren fünf Minuten zurück in der Jefatura.

Kapitel 4

José und mir gegenüber saß der Leiter des Finanzamtes Valencias, Señor Albiol. Er guckte reserviert zu uns herüber. Vielleicht fragte er sich, ob wir unsere Steuern zahlten.

"Der Polizeichef hat Ihren Besuch angekündigt, Sie benötigen Informationen über Yago Sánchez?" Sein Blick wurde jetzt eher verdrießlich. "Vale, verstehen Sie mich nicht falsch. Wir haben keine Ermittlungen durchgeführt, wir haben lediglich Sánchez' letzte Steuererklärungen durchgesehen." Räuspern. "Eigentlich darf ich Ihnen ohne richterlichen Beschluss auch keine Auskünfte erteilen. Da aber ja offenbar ein öffentliches Interesse besteht und ich Ihnen, sagen wir, eher allgemeine Umstände schildern werde, sollte das so in Ordnung gehen. Ich hoffe, Sie verstehen." Wieder räuspern.

Ich verstand. Besser, als Señor Albion vermutlich glaubte. Das vermeintliche öffentliche Interesse war ihm nachdrücklich eingetrichtert worden und jetzt saß er in der Klemme. Genau wie ich. Entweder mitspielen oder Ärger bekommen.

"Machen Sie sich keine Sorgen, Señor Albiol. Ich möchte nichts Ungesetzliches von Ihnen. Sagen Sie mir, was Sie können und dürfen. Was mich allerdings interessiert, ist, warum Sie Sánchez' letzte Steuererklärungen durchgesehen haben. Ist das Standard?"

Gerade in Steuerdingen ging es in Spanien oft eher verhalten zur Sache. Viele Spanier versteuerten höchstens Teile Ihres Einkommens, vieles lief in bar und schwarz. Nicht einmal alle Unternehmen waren gewillt, Umsatzsteuer zu zahlen. Sogar Waren und Dienstleistungen gegen Rechnung wurden mitunter einfach ohne Steuer abgerechnet.

"Nein, das ist nicht Standard. Wir prüfen natürlich die Erklärungen unserer Steuerbürger, aber erteilte Bescheide werden nur in Einspruchsfällen noch einmal durchgesehen. In diesem Fall gab es die Bitte einer Behörde. Wir sind dann natürlich berechtigt, sogar gezwungen, dem nachzugehen."

"Von welcher Behörde", wollte José wissen, "und gab es einen bestimmten Grund?"

"Das weiß ich nicht, aber es war das Straßenverkehrsamt."

Na klar war es das Straßenverkehrsamt. Da konnte Rica gut hineinregieren und das war erst einmal unauffällig genug, um die Sache anzustoßen. "Erzählen Sie, Señor Albiol, was hat Ihre Durchsicht an allgemeinen Umständen ergeben?"

"Also, die Steuererklärungen sind alle einwandfrei, jedenfalls hatten wir bisher keinen Grund zu Beanstandungen. Señor Sánchez ist ledig und insofern allein veranlagt. Sein zu versteuerndes Einkommen umfasst das Gehalt als Senderchef und eine kleine Mieteinnahme aus einer Ferienwohnung auf Ibiza. Alles korrekt angegeben und versteuert. Erbschaften, Nebeneinkünfte oder Kapitalerträge gibt es sonst keine. Sieht auf den ersten Blick unverdächtig auf, ein ganz normaler Steuerbürger.“

Kurzes Räuspern.

„Vielleicht betrügt er das Finanzamt“, fuhr Señor Albiol fort, „bisher aber nicht erkennbar und vermutlich nicht mehr oder weniger als alle hier. Auf die Anfrage aus dem Straßenverkehrsamt hin haben meine Leute allerdings seinen Lebenswandel unter die Lupe genommen. Im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, versteht sich. Und dieser ist mit der Einkommenshöhe ganz und gar nicht vereinbar. Sánchez' Einkommen ist zwar gut, sein Lebenswandel allerdings sehr aufwendig. Wir haben das Grundbuchamt gefragt, seine Villa hat einen Verkehrswert im siebenstelligen Bereich, alles bezahlt, keine Hypotheken. Bei der Zulassungsbehörde sind insgesamt vier Autos auf ihn angemeldet, eine Limousine, ein Cabrio und zwei Oldtimer. Alles teure Wagen. Die Meldestelle hatte seinen Pass gerade verlängert und den alten eingezogen. Sánchez war praktisch überall auf der Welt, wo es exklusiv und teuer ist. Das muss aber alles nichts bedeuten, jedenfalls aus Steuersicht nicht. Vielleicht hat er eine reiche Freundin oder irgendwo einen Gönner."

José war offenbar aufgewacht. "Soll das bedeuten, Sie würden nicht einmal auf der Grundlage dieser Erkenntnisse gegen ihn ermitteln? Was muss man denn anstellen, damit das Finanzamt tätig wird? So, wie Sie das hier beschreiben, kann man sich ja fast aussuchen, was man versteuert."

"Gemach, José!" Ich hatte nicht vor, den armen Señor Albiol zu quälen. Der sah inzwischen auch alles andere als glücklich aus. In einem Land wie Spanien beim Finanzamt zu arbeiten, stellte ich mir ohnehin nicht als besonders erfüllend vor. "Uns interessiert im Moment nur, ob es Auffälligkeiten gibt. So, wie Sie das hier schildern, gibt es keinen konkreten Verdacht und keine Anschuldigungen, aber Erklärungsbedarf. Darum werden wir uns kümmern. Es wäre gut, wenn das Finanzamt vorläufig von einer eigenen Untersuchung absehen würde. Solange wir ermitteln, sollte möglichst wenig Staub aufgewirbelt werden."

"Die Situation zwingt uns nicht, jetzt tätig zu werden. Unser Gespräch war auch rein informell und diente dem öffentlichen Interesse. Das Finanzamt hat gerne geholfen." Albiol entspannte sich sichtlich. Er hatte getan, was er tun sollte.

*

José war offenbar immer noch fassungslos. "Mag ja sein, dass man Einzelfälle nicht vermeiden kann, in denen Steuern hinterzogen werden und das Finanzamt es nicht merkt. Andererseits scheinen die Beamten aber auch nicht besonders daran interessiert zu sein, das zu verhindern. Was muss denn passieren, damit man als Steuerbetrüger überhaupt auffällt? Und guck dir doch an, wohin das führt. Wir haben Krise und der Staat ist pleite."

"Krise haben wir aus ganz anderen Gründen, José. Aber du hast trotzdem recht. Steuermoral hängt auch mit Bestechlichkeit, Spekulantentum und Vetternwirtschaft zusammen. Die selbstsüchtige Haltung von Amtsträgern ist doch zum Kotzen. Im Rathaus machen sie, was ihnen passt und zum eigenen Nutzen ist, Polizei und Behörden machen aus Opportunität und eigenem Vorteil dabei mit und wir sind die Handlanger dabei. Dürfen uns vielleicht über die herrschende Unmoral aufregen, sollen aber ansonsten funktionieren."

 

"Vic, so hatte ich das heute bei Villar gar nicht gesehen. Ob Sánchez eine Schuld trägt oder nicht, ist ja eine Sache. Etwas anderes ist es mit der Willkür und den Seilschaften in den Führungsetagen. Wir hätten den Fall ablehnen sollen."

"Na ja, das war kaum möglich und eine Ermittlung ist trotz aller Manipulationen vielleicht sogar berechtigt. Dabei bleiben wir zwar die Erfüllungsgehilfen von Strippenziehern, können aber wenigstens ordentlich und fair vorgehen. Wenn es am Ende zu einer berechtigten Anschuldigung kommt, muss uns die Vorgeschichte egal sein. Erweist sich dagegen alles als Luftblase, dann können wir wenigstens einem unschuldigen Bürger die Meute vom Hals halten."

Ich war jetzt froh, dass José mich heute Morgen bei Villar gebremst hatte und es nicht zum Eklat gekommen war. Den Zeitpunkt meines Ausscheidens würde ich mir überdies lieber selbst aussuchen und bis dahin machte ich erst einmal meine Arbeit.

José und ich verabredeten uns für den nächsten Morgen im Sender, zum Gespräch mit Valdez.

*

Der Tag hatte mich mehr mitgenommen, als ich morgens noch glaubte. Ich stiefelte die Treppe zu meiner Wohnung hinauf, riss die Balkontüren auf, setze mich mit einem Gin Tonic in meinen Sessel und blickte über die Plaza Redonda und die Altstadt in den Nachthimmel Valencias. Immerhin war ich mit José wieder im Reinen, was diesen Fall anbetraf. Mir reichten Rica Martínez und Pablo Villar als Gegenspieler völlig aus. Wenigstens mit ihm wollte ich mich gut verstehen und eine entspannte Zusammenarbeit haben. Trotzdem hingen mir die Ereignisse des Tages nach. Musste dringend abschalten. Bis vor meinem Unfall war ich regelmäßig zum Fußballtraining gegangen. Dafür war ich noch nicht wieder fit genug. Schwimmen ging aber gut. Ich nahm mir vor, am Wochenende zum Strand hinunter zu fahren. Für heute musste ich mir etwas anderes überlegen. Hunger hatte ich auch.

Meinen Kühlschrank füllte ich regelmäßig bei Einkäufen im Mercado Central um die Ecke. Kochen war nicht unbedingt mein Hobby, aber die frischen, appetitlichen Gemüse-, Käse-, Fisch- und Fleischangebote der Händler überwältigten mich jedes Mal aufs Neue. Ich kaufte oft, was mir im Mercado schon Appetit machte, ohne zu wissen, was ich daraus später machen würde. Meine Kochkünste waren eher schlicht, mit den frischen Lebensmitteln konnte man allerdings auch nicht viel verkehrt machen.

Ich öffnete den Kühlschrank und fand Manchego-Käse und Chorizo, außerdem Paprika, Tomaten und Zucchini. Zwiebeln, Oliven und Knoblauch hatte ich sowieso immer. Der Fall war klar, immerhin dieser. Das Gemüse wurde gewaschen, geviertelt und in Öl angedünstet. Nach kurzer Zeit kamen Tomaten, Knoblauch, Oliven und Chorizo dazu. Würzen, kurz ziehen lassen und zum Schluss mit reichlich Manchego-Streifen bedecken. Der Käse war kräftig und gab dem Ganzen ordentlich Körper. Nach zehn Minuten im Ofen war er schon geschmolzen. Ich schnitt das Brot. Wenn ich jetzt noch etwas von dem Paternina Banda Azul fand, war der Abend gerettet. Ich mochte die Mischung aus Tempranillo- und Garnacha-Trauben. Ein leichter Wein, mit seiner milden Würze aber trotzdem kräftig genug. Mit dem Essen und dem Wein wanderte ich zurück in Richtung Balkon und begann zu essen.

Ich genoss mein Mahl und inzwischen auch das Alleinsein. Seit sich Isabel vor inzwischen zwei Jahren aus unserer gemeinsamen Wohnung verabschiedet hatte, war meine Stimmung abends oft wechselhaft gewesen. Wir hatten uns im Streit getrennt, sie hatte einen Surfer aus Tarifa für spannender als mich gehalten. Damit konnte ich am Ende leben, sogar schneller, als ich anfangs dachte. Es fühlte sich danach für mich aber lange irgendwie nicht richtig an, allein zu leben und diesen Zustand auch noch zu genießen. Meine Ambitionen, jemanden Neues kennenlernen zu wollen, gingen jedenfalls gegen null. Ich entwickelte mich zwar nicht gerade zu einem Eremiten. Dafür waren meine Sozialkontakte zu vielfältig und die Tage zu ausgefüllt. Ich merkte aber, dass sich das Alleinwohnen fast schon zu einem Lebensprinzip entwickelt hatte. Wie sollte ich jemals wieder mit einem Partner zusammenleben können? Musste oder wollte ich das überhaupt? Eine Familie mit Kindern war nicht meine Sache. Aber wer wusste schon, ob es das Alleinleben bleiben würde.

Dieses Stadium der Grübelei hatte ich jetzt hinter mir, vielleicht war es auch nur eine Spätfolge von Isabels Auszug gewesen. Ich war mit meinem Leben, so wie es jetzt war, zufrieden, machte mir kein Kopfzerbrechen mehr über vielleicht verlorene Chancen oder Entwicklungen in der Zukunft und ließ den Dingen ihren Lauf.

Einzig das Berufliche ließ sich nicht länger so einfach hinnehmen, da musste etwas passieren. Salva hatte recht. Aus einer konfrontativen Situation heraus würde ich nie kündigen. Das musste vorher entschieden sein und vor reinem Tisch, am besten ohne laufenden Fall, durchgeführt werden. Eigentlich war genau jetzt der Moment für eine solche Entscheidung, die ich später nach Abschluss des Falles Sánchez umsetzen könnte. Was hatte mich in der Vergangenheit davon abgehalten? Einkommen und berufliche Absicherung bestimmt nicht. Vielleicht das Bewusstsein, dass es keinen Rückweg gab? Das machte die Sache irgendwie endgültig, konnte letztlich aber doch kein Grund sein. Wahrscheinlich musste der Druck einfach nur groß genug werden, die Sache endlich anzugehen. Musste das Unbehagen nachhaltig genug sein, um sich nicht von der Routine des Alltags und der bequemen Berechenbarkeit des nächsten Tages einlullen zu lassen. Insofern konnte ich die aktuelle Situation sogar produktiv nutzen. Sie könnte mein Sprungbrett in die Selbständigkeit werden.